"Ich bin die, die Zeit mitbringt"
Von einer Dame, die sie begleitet und auf deren Wunsch auch beerdigt hat, hat Dagmar Freimuth ein Kreuz ohne Arme und Beine geerbt, das ihr viel bedeutet.© Markus Jonas
Ihr Lächeln ist unermüdlich. Wenn Dagmar Freimuth im Haus unterwegs ist, nimmt sie sich Zeit auch für
die kurzen Begegnungen. "Herr Müller, hat es Ihnen geschmeckt?" Im Café des Seniorenhauses kommt sie ins Gespräch mit einem Bewohner des Hauses. Dann geht es weiter zum Besuch einer älteren, schon etwas dementen Dame.
Seit mehr als 30 Jahren ist Dagmar Freimuth schon im Seniorenhaus Sankt Anna tätig. Seit vier Jahren ist sie eigentlich im Ruhestand. Die Aufgabe als Seelsorgliche Begleiterin nimmt sie aber nach wie vor wahr. "Ich möchte den Menschen etwas geben, Zeit schenken, ihnen zuhören, ein Stück ihres Lebensweges mit ihnen gehen", beschreibt sie ihre Motivation.
"Herein", ertönt es aus dem Zimmer. Dagmar Freimuth öffnet die Zimmertür, geht herzlich auf die alte Dame im Rollstuhl zu. Die freut sich über den Besuch und die unerwartete Aussicht auf ein Gespräch.
"Ich sehe es als meine Aufgabe, die Menschen mit ihren Sorgen und Ängsten ernst zu nehmen", beschreibt sie ihre Rolle als Seelsorgerin. "Es geht nicht darum, ihnen Lösungen zu bieten, sondern einfach da zu sein." Und: "Ich bin die, die Zeit mitbringt", sagt sie lächelnd, "und das ist genau das, was viele hier so sehr brauchen."
Sorge um die Seele ist wichtig
Dagmar Freimuths beruflicher Weg begann 1991 im Pflegebereich des Seniorenhauses. "Von der Ausbildung her bin ich eigentlich Erzieherin", erklärt sie. "Doch durch Familie und Kinder war ich lange aus dem Beruf raus." Über Umwege landete sie zunächst stundenweise im Seniorenhaus Sankt Anna. Pflege war für sie Neuland, erinnert sie sich: "Schwester Borromäa, die damalige Leiterin, hat mich sehr ermutigt und mir gesagt: ‚Sie schaffen das.‘ Das hat mir damals viel bedeutet."
Eine Ausstellung zeigt Hände von Mitarbeitenden und Bewohnenden – wie hier die Hände von Dagmar Freimuth.© Markus Jonas
Die Arbeit gefiel ihr unerwartet gut, und sie begann, sich intensiv mit den Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner auseinanderzusetzen. Als eine Stelle im sozialen Dienst frei wurde, bekam sie diese und übernahm schon bald die Leitung. Doch ihr wurde mehr und mehr bewusst: "Die Sorge um das körperliche Wohlbefinden ist sehr wichtig, aber die Seele der Menschen ist genauso entscheidend. Sie kommen zu uns und müssen so viel zurücklassen - ihre Wohnung, Nachbarn, vielleicht Freundinnen und Freunde. Da ist es so wichtig, ihnen das Gefühl zu geben, dass sie nicht allein sind."
Als sich die Gelegenheit zu Weiterbildungen im Bereich Altenseelsorge bot, ergriff sie diese. Nachdem sie eine erste Weiterbildung in einer evangelischen Akademie absolviert hatte, nahm sie 2012 auch am Pilotkurs für Seelsorgliche Begleitungen im Erzbistum Paderborn teil.
Rückkehr aus dem Ruhestand
Der Glaube und das Gebet gehören für Dagmar Freimuth unverzichtbar dazu.© Markus Jonas
Wie wichtig das ist, sei ihr auch in den vergangenen Krisenjahren bewusst geworden, sagt Dagmar Freimuth. "Als die Corona-Krise begann, musste das Haus von einem Tag auf den anderen geschlossen werden." Da sei es sofort klar gewesen, dass sie gebraucht werde, obwohl sie gerade in Ruhestand gegangen sei. "Ich bin ohne Pause direkt zurückgekommen, weil die Menschen jemanden brauchten, der für sie da ist." Auch der Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten hat viele erschüttert. "Einige Bewohnerinnen und Bewohner, die den Krieg noch erlebt haben, haben von sich aus darum gebeten, in der Kapelle für den Frieden zu beten. Das macht ihnen wirklich Angst. Sie sagen: ‚Wir haben so viel hinter uns, Frau Freimuth, können wir nicht beten?‘ Das verdeutlicht mir immer wieder, wie wichtig es ist, Zeit für sie zu haben."
In der Kapelle von Sankt Anna ist eine ungewöhnliche Statue zu sehen, die Dagmar Freimuth viel bedeutet: Die Gottesmutter Maria kümmert sich um ihre Mutter Anna, die als hilfsbedürftiges Kind dargestellt ist. "Die Sorge um die Alten ist mir wichtig."© Markus Jonas
Die seelsorgliche Arbeit hat auch ihr eigenes Verständnis von Leben und Tod geprägt. "Ich habe gelernt, den Tod nicht als etwas zu Fürchtendes zu sehen, sondern als Teil des Lebens. Es ist mir ein Bedürfnis, den Menschen am Lebensende zur Seite zu stehen." Inzwischen wirkt sie auch als ehrenamtliche Beerdigungsleiterin in der Gemeinde mit.
"Eine Bewohnerin hatte extra verfügt, dass ich sie beerdigen soll. Das hat mich sehr überrascht und gefreut, sie hatte vorher nichts davon gesagt." Von ihr hat sie auch ein Kreuz geerbt, das sie seitdem in Ehren hält. "Sie hatte dieses Kreuz ohne Arme und Beine in ihrem Zimmer hängen, es war mal runtergefallen", erzählt sie lächelnd. "Ich wollte es ersetzen, weil es doch kaputt war. Doch sie bestand darauf, es zu behalten, weil es für sie symbolisierte, dass wir Menschen nicht vollkommen sind. Dieses Kreuz ist mir sehr wichtig geworden."
Auch für die Sorgen von Angehörigen wie Ursula Obermüller, deren Mann in Sankt Anna lebt, hat sie ein offenes Ohr.© Markus Jonas
Eine besonders schöne Erinnerung ist die an einen kleinen Jungen, dessen Großvater sie beerdigen durfte. "Der Junge war total traurig über den Verlust seines Großvaters, und ich habe ihm ein Schutzengelchen und einen kleinen ‚Schmunzelstein‘ mitgegeben, die ich gerne an Menschen gebe, die Trost brauchen. Ein paar Tage später schrieb mir die Mutter, dass der Schmunzelstein jetzt auf seinem Nachttisch liegt. Das fand ich sehr rührend."
Auch Angehörigen steht Dagmar Freimuth für Gespräche zur Verfügung. "Die haben ja auch ihre Sorgen und Trennungsängste." Wie Ursula Obermüller, deren dement gewordener Mann in Sankt Anna lebt. "Es ist mir sehr schwergefallen, ihn abzugeben", bekennt sie im Gespräch mit Dagmar Freimuth, die zu Besuch gekommen ist. Für ihn hat sie ihre Eigentumswohnung aufgegeben und ist in eine kleine Wohnung in der Nachbarschaft zum Seniorenhaus gezogen. "Ich hole ihn öfter zu mir. Es ist sehr schön, nahe dabei zu sein. Ich habe das Gefühl, das Richtige getan zu haben", sagt Ursula Obermüller. Sehr dankbar ist sie für die guten Kontakte auch zu Dagmar Freimuth. "Wir haben Glück, sie zu haben", sagt sie lächelnd. Über Rückmeldungen wie diese ist Freimuth froh. "Das treibt mich auch an weiterzumachen."