Ein alter Hase mit viel Liebe zu den Tieren
Das ist seine Jahreszeit: wenn die Temperaturen anziehen, es nachts zu frieren beginnt und der Grünkohl auf den Feldern rund um Hof Lohmann bei Freckenhorst das erste Mal mit eisigem Raureif bedeckt ist. Denn das grüne Gemüse zählt nicht nur zu seinen Lieblingsgerichten. Auch die Ernte der großen Blätter gehört zu seinen favorisierten Arbeitsaufträgen. Deshalb meldet Reinhard Stötzel sich an diesen Tagen immer gern für den Einsatz auf dem Gemüsefeld, wenn in der morgendlichen Runde gefragt wird, wer aus dem Kreis der Mitarbeitenden mit Behinderungen dazu Lust hat.
Keine Angst vor großen Tieren: Auch die Versorgung der Pferde gehört zu den Aufgaben von Reinhard Stötzel.© Michael Bönte
Das ist alles andere als selbstverständlich. Denn Stötzel ist 70 Jahre alt und längst in Rente gegangen. Sein Engagement in der Caritas-Einrichtung mit Wohn- und Arbeitsbereich aber wollte er sich damals nicht nehmen lassen. "Das könnte ich gar nicht, ich brauche diesen Einsatz", sagt er. "Es wäre fürchterlich ohne Aufgabe, ich bin nicht der Typ, der gerne rumsitzt." Das bezweifelt keiner, der seine Energie und Fröhlichkeit dabei erlebt.
Es war also folgerichtig, dass er nach etwa zehn Jahren als offizieller Beschäftigter und Bewohner des Hofes keinen Schlussstrich zog, sondern weiter in der Wohngruppe blieb und seine Arbeitskraft zur Verfügung stellte. Ein Gewinn für ihn und für den Betrieb der Freckenhorster Werkstätten, einer Einrichtung des Caritasverbandes im Kreisdekanat Warendorf, in der 95 Menschen mit Behinderungen in unterschiedlichen Bereichen im Einsatz sind: Gärtnerei, Landwirtschaft, Großküche, Gastronomie …
Die Landwirtschaft ist sein Leben
Dass er sich dort so wohl fühlt, war aber nicht vorauszusetzen. Denn als er 2009 einzog, hatte er mehr als 50 Jahre auf dem Hof seiner Pflegeeltern gelebt und gearbeitet. "Jeden Tag von sechs Uhr früh bis abends spät - vom Kühe-Melken bis zur Feldarbeit." Die Landwirtschaft war sein Leben, aber eben auch die engen Beziehungen in der Familie auf dem väterlichen Bauernhof. Und so lag er damals, als der heimische Betrieb nach dem Tod des Pflegevaters nicht mehr weiterbetrieben werden konnte und verpachtet werden musste, die ersten Tage weinend in seinem neuen Bett auf Hof Lohmann. "Ich habe die Welt nicht mehr verstanden", sagt Stötzel. "Nach so langer Zeit das erste Mal woanders schlafen, mit fremden Menschen leben, ohne die Familie …"
Locker über jedes Gatter: Reinhard Stötzel ist mit seinen 70 Jahren noch richtig fit. Die Zucht von Schweinen kennt er noch vom heimischen Bauernhof.© Michael Bönte
Eine Sache blieb vertraut: die Arbeit in den Ställen und auf den Feldern. Und das mit einer Routine, die alle in seiner neuen Arbeits- und Wohnstätte beeindruckte. "Ihm musste keiner erklären, was zu tun war", erinnert sich Christiane Hester-Heckenkamp. "Er sah die Arbeit selbstständig und erledigte sie zuverlässig." Die Ansprechpartnerin im Sozialen und Begleitenden Dienst auf dem Hof hat Stötzel über viele Jahre begleitet. "Ihm war einfach nichts fremd oder zu schwer: Ernte, Tierpflege, Verarbeitung der Produkte, Aushilfen in anderen Arbeitsbereichen."
Besonderer Draht zu den Tieren
Die traurigen Nächte voller Erinnerungen wichen bald der Begeisterung für die neue Umgebung. "Vor allem die anderen hier sind klasse", sagt er. Er grinst, wenn er das sagt. Seine Freude darüber ist ehrlich und unverblümt. "Ich habe auch Freunde gefunden." Die ihm halfen, ein Stück weiter selbstständig zu werden. "Mit dem Fahrrad oder dem Bus in die Stadt, mal was einkaufen."
Lieblingsarbeit: Wenn Reinhard Stötzel Grünkohl ernten kann, ist er in seinem Element.© Michael Bönte
Stötzel erlebte zudem etwas völlig Neues: geregelte Arbeitszeiten und Urlaube. Das kannte er von früher nicht. Die von ihm so geliebte Arbeit stand da im Mittelpunkt, jetzt kamen plötzlich Freizeit und Ferien dazu. "Ich war vorher nie weit weg gewesen, nur auf der Kirmes in Warendorf." Jetzt ging es das erste Mal mit einem Mitbewohner in den Schwarzwald. "Mit meinem Kumpel Bernhard - das war super", sagt er.
Auf Hof Lohmann wissen sie nur allzu gut, was für einen Profi sie mit Stötzel in ihrem Betrieb haben. Nicht nur, dass er alle Bereiche, Abläufe und Menschen mittlerweile besser kennt als die anderen. Er hat auch einen besonderen Draht zu den Tieren. "Die liebe ich alle", sagt er. Und schwärmt von den Nachtschichten, in denen er half, kleine Zicklein mit der Flasche großzuziehen: "Alle zwei Stunden, ohne Unterbrechung, wochenlang."
Christiane Hester-Heckenkamp spricht von einem "riesigen Gewinn", wenn sie an den Einzug von Stötzel zurückdenkt. "Und der ist er geblieben." Er nimmt sein Ehrenamt ernst, hat seine Arbeitszeiten reduziert und vergisst nie eine Schicht. "Und wenn er danach sieht, dass irgendwo noch Licht brennt oder gefegt werden muss, hilft er immer aus." Für ihn hat das Ehrenamt auch etwas Gewinnbringendes. Er ist Teil der Gemeinschaft auf Hof Lohmann, wird zu Ereignissen und Festen eingeladen und nimmt seine Mittagsmahlzeit im Speiseraum mit den Beschäftigten und Betreuern ein.
Sehnsucht nach Ausschlafen? Das kennt der Rentner nicht. Da läuft bei ihm immer noch die innere Uhr vom Bauernhof. Und so schwingt er sich nicht nur jeden Tag als einer der Ersten aus dem Bett, sondern auch immer noch mit sportlichem Elan über Koppelzäune und Tiergatter. Denn die Arbeit hat ihn enorm fit gehalten. Wenn Stötzel seinen grünen Overall anzieht und die Mütze mit dem grünen Hahn darauf ins Gesicht zieht, ist er in seinem Element.