Van Ri Nguyen hilft heute der Caritas
Ein Weg zurück in seine Heimat Vietnam ist für Van Ri Nguyen unvorstellbar. Freilich würde er das Land gerne wiedersehen, in dem er aufgewachsen ist und 28 Jahre gelebt hat. "Aber eine Reise dorthin wäre viel zu gefährlich. Die Kommunisten würden mich gefangen nehmen", sagt er und kreuzt die Handgelenke. Wer wie er während des Vietnamkrieges mit den Amerikanern kooperiert, mit ihnen in Südvietnam als Soldat gekämpft hat und schließlich dem Land den Rücken gekehrt hat, steht bei den Machthabern in Vietnam auf einer schwarzen Liste. Van Ri Nguyen würde sofort ins Gefängnis wandern.
Dabei wollte er nur eines: Freiheit. In Thai Binh in Nordvietnam geboren, flüchtete er mit rund einer Million Menschen im Alter von fünf Jahren mit seinen Eltern und Geschwistern in einem alten, klapprigen Zug in den Süden des Landes. Dort hatten die Kommunisten damals noch nicht die Macht übernommen. Der Süden des Landes wehrte sich, unterstützt von den Vereinigten Staaten, erbittert gegen eine Ausdehnung des kommunistischen Machtbereichs. Auch Van Ri Nguyen schloss sich diesem Kampf an, wurde Soldat und zweimal verwundet. Je länger der Konflikt dauerte und je mehr auch der Süden unter den Einfluss des Revolutionsführers Ho Chi Minh und seiner Leute kam, desto auswegloser wurde die Lage für Katholiken wie Van Ri Nguyen, aber auch für die zahlreichen Buddhisten im Land. Die Religionen waren dem Regime ein Dorn im Auge. Seit es 1975 die Macht übernommen hatte, wurden Christen wie Buddhisten systematisch schikaniert. Für Van Ri Nguyen, der als Bootsführer tätig war, wurde die Situation immer unerträglicher. Hinzu kamen seine Kontakte zu den Amerikanern, die seine Lage in Vietnam immer brenzliger machten. Bevor ihm und weiteren Flüchtlingen im Jahr 1981 die Flucht aus Vietnam in einem Boot gelang, hatte er schon zwei Fluchtversuche hinter sich, die scheiterten. Die Boote zerschellten. Wieder mussten alle zusammenlegen, um ein neues Boot zu kaufen.
Tagelang auf dem Meer
Auch bei der Flucht 1981 stand es auf Messers Schneide. Sechs Tage und fünf Nächte lang war Nguyen mit seiner Familie und seinen Landsleuten - 95 Prozent von ihnen waren Katholiken, die übrigen Flüchtlinge waren Buddhisten - in einem Boot im Südchinesischen Meer unterwegs. 101 Personen saßen in dem Boot, das die Wellen hin und her warfen. In das Boot schwappte immer wieder Wasser, das die Flüchtlinge unermüdlich aus dem Rumpf schöpften. Männer, Frauen und Kinder waren in der Nussschale, das jüngste war Nguyens viertes Kind, die Tochter Kim Ngan. Sie war gerade einmal zehn Tage alt und kurz vor der Flucht noch getauft worden. Das älteste Kind von Nguyen und seiner Frau war 1973 zur Welt gekommen. In dem Boot spielten sich dramatische Szenen ab. "Die Kinder weinten, wir hatten alle unvorstellbare Angst", sagt Nguyen. Für einige Flüchtlinge war die Situation so belastend, dass sie vehement die Rückkehr nach Vietnam forderten. "Für mich war klar, dass das keine Alternative sein würde. Entweder wären wir in Vietnam umgebracht worden, oder wir wären, wenn die Flucht noch einen Tag länger gedauert hätte, ertrunken", sagt Nguyen.
Als die Lage nahezu ausweglos erschien, die Vorräte an Wasser und Nahrung schon aufgebraucht waren und das Boot der Flüchtlinge zu sinken begann, kam auf einmal Rettung: die Cap Anamur. Zwei Jahre zuvor hatten der deutsche Journalist Rupert Neudeck, seine Frau Christel und weitere Mitstreiter das Hilfskomitee "Ein Schiff für Vietnam" gegründet, das Frachtschiff "Cap Anamur" zu einem Hospitalschiff umbauen und schließlich ins Südchinesische Meer auslaufen lassen, um Vietnam-Flüchtlinge vor dem sicheren Tod zu retten. Wenn Nguyen von dem Moment erzählt, als das Schiff in der aufgepeitschten See auftaucht, ist ihm die Rührung anzumerken. Nguyen blieb mit Rupert Neudeck bis zu dessen Tod im Jahr 2016 eng verbunden und unterstützt den Verein "Cap Anamur - Deutsche Not-Ärzte e. V." bis heute. Das Schiff brachte die Flüchtlinge zunächst auf die Philippinen. Ein Jahr später schließlich kamen Van Ri Nguyen und seine Familie nach Deutschland. 1979 hatte Niedersachsen als erstes Bundesland entschieden, Flüchtlinge aus Vietnam aufzunehmen. Weitere Länder folgten diesem Beispiel.
Engagement der Caritas-Konferenzen
In Deutschland kümmerten sich seit den 1970er-Jahren Verbände wie die Caritas darum, sowohl den Menschen in Vietnam als auch seit Ende der 1970er-Jahre geflüchteten Vietnamesen in Deutschland zu helfen. Eine große Bedeutung bei der Hilfe in Deutschland kam dabei den Caritas-Konferenzen zu, einem Fachverband der Deutschen Caritasverbandes. Die Caritas-Konferenzen verstanden sich als ein Teil der Caritas in den Pfarrgemeinden, um dort Not aufzuspüren und - unterstützt von zahlreichen ehrenamtlich Helfenden - in Not geratenen Menschen beizustehen, auch den Geflüchteten aus Vietnam. Wie gut solche ehrenamtliche Hilfe ankam, erlebte auch Van Ri Nguyen, als er mit seiner Familie nach einem kurzen Aufenthalt im Durchgangslager Unna-Massen in Mönchengladbach-Rheydt ankam - in dem Haus, in dem er heute noch lebt. Die Wohnung in Rheydt wurde der Familie über das Sozialamt der Stadt zugewiesen. Dort wurde Van Ri Nguyen in der Pfarre St. Johannes heimisch. Denn ihren Glauben zu praktizieren blieben ihm und seiner Familie auch in Deutschland wichtig. Regelmäßig besuchen sie die Gottesdienste. Nguyen erinnert sich an die große Hilfsbereitschaft der Menschen. Der Pfarrer informierte seine Gemeinde über die Flüchtlinge aus Vietnam, die in die Stadt kämen, und rief zur Unterstützung auf. Nach Mönchengladbach und Umgebung kamen rund 1500 Vietnamesen. In der Gemeinde wurden Möbel ebenso gespendet wie Spielsachen für die Kinder. Der Familie Nguyen stand Heinrich Zimmer, ein pensionierter Bahnbeamter, mit seiner Familie zur Seite. Davon erzählt Van Ri Nguyen mit großem Respekt. Zimmer begleitete die Familien bei Behördengängen, war zur Stelle, wenn Fragen zu klären waren.
Durch die große Hilfe gelang es ihm und seiner Familie immer besser, sich in Mönchengladbach zurechtzufinden. Heute sagt er: "Meine Heimat ist Mönchengladbach." Er selbst machte eine Ausbildung zum Schlosser, arbeitete bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand im Jahr 2019 fast 34 Jahre lang bei einem Unternehmen in Mönchengladbach. 1991 wurde er deutscher Staatsbürger. Seine acht Kinder - in der Zeit von 1983 bis 1989 wurden der Familie vier weitere Kinder geboren - machten das Abitur und studierten. "Alle haben gute Jobs", ist der Vater sichtlich stolz.
Vereinigung der vietnamesischen Katholiken in Deutschland zeigt Solidarität
"Damals haben die Menschen uns geholfen. Davon müssen wir etwas zurückgeben. Das ist meine Überzeugung", sagt Nguyen. Schon bald nach seiner Flucht begann er, sich für seine Landsleute und ihre Integration zu engagieren. Er war 20 Jahre lang bis 2003 Vorsitzender der vietnamesischen katholischen Gemeinde in Mönchengladbach und Viersen. So entstand auch ein enger Kontakt zum mittlerweile pensionierten Mönchengladbacher Pfarrer Johannes van der Vorst, in dessen Gemeinde sich die vietnamesischen Katholikinnen und Katholiken regelmäßig zum Gottesdienst versammeln. "Van Ri Nguyen ist ein Mensch, der die christliche Botschaft der Liebe und der Verbindung verschiedener Völker und Gruppen durch seine unermüdliche Einsatzfreude in die heutige Zeit übersetzt", sagt der Pfarrer.
18 Jahre lang war Nguyen, der von Papst Johannes Paul II. empfangen worden war, bis 2011 stellvertretender Vorsitzender der Vereinigung der vietnamesischen Katholiken in Deutschland und gehört noch heute dessen Exekutivkomitee an. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Bundesverbandes vietnamesischer Flüchtlinge in Deutschland. Zudem ist er Vorsitzender der Vinzenz-von-Paul-Gemeinschaft, die 2005 vom damaligen Pfarrer der vietnamesischen katholischen Gemeinde im Bistum Aachen gegründet wurde und mit Spenden verschiedene Projekte unterstützt. So machte sich Van Ri Nguyen dafür stark, dass regelmäßig das Caritas-Krankenhaus in Bethlehem ebenso mit Spenden unterstützt wird wie Hilfswerke wie Misereor oder der Verein "Cap Anamur - Deutsche Not-Ärzte". Oft, wenn sich irgendwo auf der Welt eine Notlage abzeichnet, ist Nguyen zur Stelle und sammelt Geld: für Opfer der Oder-Flut, Kriegsopfer in Syrien und im Irak, Opfer der Flutkatastrophe im Westen Deutschlands im Sommer 2021. Jüngste Aktion des Mönchengladbachers mit vietnamesischen Wurzeln: Dem Geschäftsführer des Caritasverbandes Region Mönchengladbach, Frank Polixa, übergab er eine Spende vietnamesischer Landsleute in Höhe von mehr als 7000 Euro für die Ukraine-Nothilfe der Caritas. Denn der Krieg in der Ukraine lässt ihn nicht kalt. Erinnerungen kommen hoch: "Bilder zerbombter Städte, kaputt geschossener Krankenhäuser, Kirchen, Kindergärten und Schulen sind uns Vietnamesen sehr bekannt", sagt er.
So wie damals die deutsche Bevölkerung solidarisch mit den vietnamesischen Flüchtlingen gewesen sei, wollten sie heute Solidarität zeigen mit den Menschen in der Ukraine.
Auf der Insel …
… PULAU BIDONG/Malaysia sind in einem Lager von 1 Quadrat-Kilometer Größe 41000 Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, menschenunwürdig zusammengepfercht. In wenigen Wochen beginnt dort der Monsunregen. Dann droht diesem Lager eine unvorstellbare Katastrophe. Diese Not hat den Diözesancaritasverband für das Bistum Aachen veranlaßt, eine Sofortaktion zu starten und zunächst einmal 260 Menschen aus der Hölle von Pulau Bidong zu befreien und in die vier eigens dafür bereitgestellten Übergangswohnheime im Bereich des Bistums Aachen aufzunehmen.
Quelle: caritas in NRW, 4/1979, S. 337 f.
"Ich bitte Sie für Jesus aus Vietnam"
Mit dem Satz "Ich bitte Sie für Jesus aus Vietnam" erbittet der Bischof von Aachen, Dr. Klaus Hemmerle, die Hilfe der Gläubigen seines Bistums für die Flüchtlinge aus Vietnam. Wörtlich schreibt Hemmerle in einer Ausgabe der Kirchenzeitung für das Bistum Aachen: "Bitte machen Sie die Tür auf. Draußen stirbt einer, wenn Sie ihn nicht sofort hereinlassen. Er heißt Jesus. Ich weiß, Jesus ist unbequem. Aber ohne ihn leben ist tödlich. Mit ihm leben macht frei." […] Er komme aus Vietnam, irre auf dem Meer herum, tausendfältig bedrängt in Todesnot. Hemmerle unterstreicht, daß die Caritas mobilisiert wurde. Sie sei bereit, ganz schnell und ganz unkonventionell zu helfen.
Quelle: caritas in NRW, 4/1979, S. 338
Dieser Beitrag erschien zuerst im November 2022 in einer Sonderausgabe der Zeitschrift "caritas in NRW" aus Anlass des 50jährigen Erscheinens.