Zunehmende Ökonomisierung und Wettbewerbsdruck
Noch regierte Kanzler Helmut Kohl, West- und Ostdeutschland sahen sich großen sozialpolitischen Herausforderungen gegenüber: die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West; die hohe finanzielle Belastung der Sozialkassen durch das Hinzutreten von 17 Millionen DDR-Bürgern in die westdeutschen Sozialsysteme; angesichts hoher Arbeitslosigkeit Sorgen vor einem Kollaps der Rentenkassen, die der damalige Sozialminister Blüm mit seiner Aussage "Die Renten sind sicher!" zu beruhigen versuchte. Auch wurde in den letzten Jahren der Kohl-Kanzlerschaft eine gänzlich neue Sozialversicherung eingeführt - die Pflegeversicherung, die in einer älter werdenden Gesellschaft dringend notwendig, aber auch sehr umstritten war, bis sie letztendlich 1995 entschieden war.
1997 Höhepunkt der Arbeitslosigkeit
Als Spitzenverband der deutschen Wohlfahrtspflege sah es die Caritas als ihre Aufgabe, sich einzumischen in die sozialpolitischen und fachbezogenen Diskussionen. Und zugleich wollte die Caritas in Deutschland mit dem bundesweit gemeinsamen Motto: "Not sehen und handeln" demonstrieren, dass sie sich als Anwältin der sozial benachteiligten Menschen verstand, Forderungen im Namen der Schwachen stellte und die Politik für unzureichende Lösungen kritisierte.
1997 erreichte die schon lange anhaltende Arbeitslosigkeit ihren Höhepunkt: In Gesamtdeutschland wurden 4,4 Millionen Arbeitslose gezählt - ohne die zahlreichen Menschen, die in Beschaffungsmaßnahmen und Berufsbildungsmaßnahmen nach neuen Perspektiven suchten. Eine heute unvorstellbare Arbeitslosenquote von 12,7 Prozent belastete die Gesellschaft und jeden einzelnen Betroffenen.
Auch Jugendliche hatten weitverbreitet große Sorge vor drohender Jugendarbeitslosigkeit, viele fanden keine Ausbildungsstelle oder bekamen nach der Lehre keinen Arbeitsvertrag. Dies in der Zeitschrift "caritas in NRW" darzustellen und die vielschichtigen Dimensionen nachvollziehbar zu machen, war damals ein wesentliches Anliegen. So ging es in den Artikeln über Arbeitslosigkeit zugleich um damit ausgelöste Armut, Obdachlosigkeit, Einsamkeit und soziale Isolation.
Sozialpolitische Signale
Angesichts der Themenvielfalt kam der Zeitschriften-Redaktion ihre besondere Verankerung in den fünf nordrhein-westfälischen Caritas-Diözesanverbänden zugute. Zur Planung jeder Ausgabe der Zeitschrift trafen sich die Öffentlichkeitsreferenten und Pressesprecher der DiCV; sie brachten aus den Fachabteilungen ihrer Häuser zahlreiche Ideen mit, wie ein Heft thematisch interessant gestaltet werden kann, immer voran die Frage, welches sozialpolitische Signal zum jeweiligen Thema gesendet werden soll.
Nachdem in den Anfangsjahren der Zeitschrift fast ausschließlich Experten als Autoren berufen wurden, schrieben ab den 90er-Jahren immer öfter freiberufliche Journalisten und der Chefredakteur, Experten kamen verstärkt in Interviews und Statements zu Wort. Die Redaktionsgemeinschaft lebte ebenso von der Vielfalt ihrer Mitglieder, wie die Zeitschrift aus der Kraft unterschiedlich profilierter Caritasverbände lebte - jeder Diözesan-Caritasverband hatte schließlich eigene Schwerpunkte: in der Krankenhaus- oder Altenpflegearbeit, mit Behinderten- oder Arbeitsloseneinrichtungen, in der Beratungstätigkeit.
Während an den Schreibtischen in den Caritas-Pressestellen nach und nach ausgebildete Journalisten Platz nahmen, veränderte sich auch die Zusammensetzung der Direktorenkonferenz: Den Priestern und Theologen in den Leitungsämtern folgten Laien, Verwaltungsexperten und in mehreren Verbänden ehemalige Mitarbeiter der katholischen Jugendarbeit. Frauen waren damals weder auf den Direktorensitzen noch in den Caritas-Pressestellen zu finden.
Alteingesessene Anbieter gerieten unter Wettbewerbsdruck
In meiner Zeit als Chefredakteur fanden gravierende Veränderungen in den sozialen Diensten statt: In den Markt drängten, spätestens seit Einführung der Pflegeversicherung, immer mehr kommerzielle freie Anbieter, die ihre Leistungen günstiger erbringen konnten als die an Tariflöhne gebundenen Wohlfahrtsverbände. Was im Pflegemarkt mit seinen ambulanten Diensten und stationären Einrichtungen begann, setzte sich in vielen sozialen Feldern fort, es entstanden Konkurrenzen um die günstigste Leistungserbringung, die alteingesessenen Anbieter gerieten unter einen scharfen Wettbewerbsdruck. Sprachlich wurden aus Klienten damals Kunden, die Markt-Perspektive veränderte die Sicht der Sozialarbeiter und Pfleger, sie verstanden sich nun als Dienstleister.
Unter der großen Überschrift "Organisationsentwicklung" wurde in vielen Artikeln berichtet, wie sich Dienste weiterentwickelt, professionalisiert und sogar komplett neu aufgestellt haben, um zukunftsfähig zu werden. Was heute selbstverständlich ist: Ein Nebeneinander von freien und tarifgebundenen Einrichtungen der Wohlfahrtspflege wurde in den 90er-Jahren mühsam gelernt. Im harten Ringen um kostengünstige Lösungen zählte die Tradition etablierter Einrichtungen wenig - auch die mussten sich finanziell im Markt behaupten und wollten nah am Menschen sein.
Aus für die Schwangerschaftskonfliktberatung
Als im Januar 1998 Papst Johannes Paul II. die katholischen Bischöfe in Deutschland aufforderte, in den katholischen Beratungsstellen der Caritas und des Sozialdienstes katholischer Frauen keine Beratungsscheine für die erfolgte Schwangerenberatung auszustellen, war die Diskussion über die Beteiligung der katholischen Kirche in der Schwangerschaftskonfliktberatung in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft angekommen. Lange Monate der Berichterstattung folgten, der Konflikt um die Konfliktberatung hatte einen tiefen Riss in das katholische Beratungsangebot verursacht, bisherige Beratungsstellen wurden umbenannt und stellten keine Scheine mehr aus. Ein Jahr nach dem Brief und der Anordnung des Papstes wurde von engagierten Christen der katholische Verein "donum vitae" gegründet, der nach erfolgter Konfliktberatung Nachweise darüber ausstellte. Selten standen Caritasverbände vor einer größeren Notwendigkeit zur Argumentation: Auch wenn wir keine Beratungsnachweise mehr ausstellen, sind wir weiterhin für Frauen in Not da.
Während die katholische Kirche sich an dieser Stelle aus gesellschaftlicher Mitwirkung zurückzog, gelang der nordrhein-westfälischen Caritas gleichzeitig der Einstieg in eine neue Hilfe-Plattform. Die über 40 Lokalsender des Landes gründeten die Aktion Lichtblicke, mit der nun seit vielen Jahren jeweils um die Weihnachtszeit von den Hörerinnen und Hörern Spenden gegen einen Musikwunsch gesammelt werden und Sozialprojekte sowie Einzelschicksale vorgestellt werden - seit Beginn mit umfassender Unterstützung der Redaktion von "caritas in NRW".
Dieser Beitrag erschien zuerst im November 2022 in einer Sonderausgabe der Zeitschrift "caritas in NRW" aus Anlass des 50jährigen Erscheinens.