Arme brauchen eine Lobby
In den 1950er-Jahrem wurde der Hochbunker an der Richtstraße in Essen als „Wohnbunker“ für Arme genutzt.Foto: Archiv Caritasverband Essen
Nach dem Zweiten Weltkrieg und in den Wirtschaftswunderjahren sind Menschen arm, weil es oft an ausreichendem Wohnraum mangelt. Der Staat regelt das Problem mit Wohnraumzwangsbewirtschaftung. Mit dem Bau von Wohnungen und nach der Aufhebung der Zwangsbewirtschaftung kann Anfang der 1960er-Jahre ein freier Markt entstehen, auf dem von Beginn an Einkommensschwache und Großfamilien benachteiligt sind. Bei Obdachlosigkeit stellen die Kommunen Wohnraum in Einfachstbauweise oder auch nur primitive Unterkünfte in Lagern zur Verfügung. Vorherrschend ist die Auffassung, dass die betroffenen Personen durch Umplatzierung und Verteilung auf Wohngebiete in verschiedenen Stadtteilen selbst Lösungen zur Beseitigung ihrer materiellen und immateriellen Not finden. Dieser Hilfeansatz erweist sich als wenig erfolgreich bei der Integration sozial randständiger Familien. Wirtschaftliche und soziale Problemlagen können damals nicht mittels Wohnraumpolitik gelöst werden.
Die Brisanz sozialer Brennpunkte
Ende der 1970er-Jahre bestimmt der neue Fachbegriff "soziale Brennpunkte" die Situation: Wohnungsnot, lang anhaltende Arbeitslosigkeit, unzureichende existenzielle Sicherung einkommensschwacher Haushalte, aber auch vielfach Auswüchse von Gewalt sind Kennzeichen sozialer Brennpunkte. Immer mehr Menschen sind in zentralen Lebensbereichen wie Arbeit, Bildung, Wohnen, Gesundheit, Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unterversorgt. Viele fühlen sich von der Entwicklung der Gesellschaft abgehängt. Verbitterung, Aggressivität, Vereinsamung, Ausgrenzung, Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit sind die Folge.
Wahrnehmung von Armut
In den 1980er-Jahren gelingt es nur sehr mühsam, Armen zu einer Lobby zu verhelfen. Erstmals 1984 (!) taucht der Begriff "Armut" im Schlagwortverzeichnis von "caritas in NRW" auf. Eine erste Caritas-Untersuchung in der Diözese Münster (1987) belegt die herrschenden Vorurteile: "Die Armen bei uns sind nicht in dem Maße arm wie die Menschen in den Ländern der ‚Dritten Welt‘", erweist sich als Abwehrargument für ein deutlicheres Engagement "vor der eigenen Haustür". Nicht nur in kirchlichen Kreisen wird der allgemeine Begriff "Not" bevorzugt, um die wachsende Armut zu verharmlosen. Im Dokument der gemeinsamen Synode der deutschen Bistümer von 1975 wird der Begriff "Not" mehr als hundertmal, der Begriff "Armut" gar nicht und der Begriff "arm" insgesamt sechsmal gebraucht. Wenn in kirchlichen Verlautbarungen doch über Armut und Arme geschrieben wird, geschieht das eher aus theologischer Sicht im Sinne einer "Option für Arme" nach dem Evangelium.
"Neue Armut"
1995 | "Essener Tafel": Lebensmittelhilfe des SkF Essen-MitteFoto: Achim Pohl
Dabei ist Armut - bedingt durch Phasen von Konjunkturkrisen und Massenarbeitslosigkeit - längst zu einer dauerhaften Begleiterscheinung des kapitalistischen Wirtschaftssystems geworden. Mit dem Begriff der "Neuen Armut" Anfang der 1980er-Jahre (die Arbeitslosenzahl übersteigt die Millionengrenze und ist bereits 1985 auf 2,3 Mio. angestiegen) wird das Thema zum politischen Zankapfel. Die damalige Bundesregierung übernimmt zwar die Armutsdefinition der Europäischen Gemeinschaft (in Armut lebende Personen verfügen über so geringe Mittel, dass sie von der Lebensweise des Mitgliedslandes ausgeschlossen sind) und "löst" das Armutsproblem pragmatisch mithilfe des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG). Armut wird gleichgesetzt mit Sozialhilfebedürftigkeit. Das bedeutet, dass es in Deutschland deswegen keine Armen gibt, weil die Sozialhilfe in jedem Falle den Bedarf abdeckt. Doch die finanziellen Leistungen der Sozialhilfe, die in Form der Regelsätze nach einem überholten Warenkorb berechnet sind, können den tatsächlichen materiellen Lebensbedarf nicht decken. Ansonsten bleibt der Stellenwert für Soziales auf der Prioritätenskala öffentlicher Aufgaben relativ gering. Bei einer Analyse der parlamentarischen Diskussionen auf allen politischen Ebenen wird deutlich, dass Armut, verbunden mit den sozialen Folgen und Ursachen, zu den am stärksten verdrängten Themen gehörte.
Doch das Thema rückt endlich zunehmend in das Blickfeld der Wohlfahrtsverbände. "caritas in NRW" veröffentlicht 1984 erstmals ein Themenheft "Armut in der Bundesrepublik". Die wachsende Armut durch Arbeitslosigkeit, mangelnde staatliche Sozialleistungen und Sprachlosigkeit der Armen müssen zu einer "wirksamen Interessenvertretung der freien Wohlfahrtspflege führen", fordert Gerhard Pfannendörfer. Der Titel der Ausgabe und das Spektrum der Beiträge illustrieren allerdings die sprachliche Unklarheit in Bezug auf den aufgekommenen Armutsbegriff: "Gedanken zur Armut", "Bilder der Armut", "Die Armut der Nichtseßhaften", "Die Verachtung der Armut".
1994, 1996, 2004 | Der Sozialfotograf Achim Pohl spürt für „caritas in NRW“ Menschen in Armut auf. Klientinnen und Klienten der Schuldnerberatung und der Allgemeinen Sozialberatung sind bereit, sich fotografieren zu lassen.Foto: Achim Pohl
Krise des Sozialstaats
Mit der deutschen Einigung erfährt das Thema Armut eine qualitative und quantitative Ausweitung. Die sozialpolitische Brisanz nimmt zu, die Krise des Sozialstaats, der Wandel der Arbeitsgesellschaft und die nach wie vor bestehende Massenarbeitslosigkeit erfordern Lösungen. Die Politik reagiert unter dem zunehmenden Druck mit der Strategie, soziale Risiken zu privatisieren.
Dieser Trend gipfelt Anfang der 2000er-Jahre in der Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen. Mit Hartz IV wird das System der sozialen Sicherung von Grund auf verändert bei gleichzeitig deutlichen Leistungseinschränkungen für einkommensarme Menschen.
"Arme unter uns"
Die Caritas bemüht sich bereits in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre, mit einer eigenständigen Armutsuntersuchung der in vielen Selbstaussagen geforderten "Option für die Armen" gerecht zu werden. Der Deutsche Caritasverband legt 1993 mit "Arme unter uns" neue Belege über eine fortschreitende Armutsentwicklung vor und fordert die Politik auf, die sozialen Sicherungssysteme armutsfest zu gestalten.
1997 greift das gemeinsame Wort der beiden großen christlichen Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland mit einem breit angelegten (bisher einmaligen) Konsultationsprozess in die politische Debatte ein: "In den letzten 20 Jahren ist mit dem Reichtum zugleich die Armut in Deutschland gewachsen … Nicht nur Armut, sondern auch Reichtum muss ein Thema der politischen Debatte sein ..." Leider wird das Sozialwort in dieser Form nicht weitergeführt, das Sozialwort der Deutschen Bischöfe (2003) geht an mehreren Stellen weit hinter die Standards des gemeinsamen "Wortes der Kirchen" zurück, fordert Absenkungen beim Existenzminimum, bei der Sicherung von Lebensrisiken, bei Rechtsansprüchen u. Ä. Es verändert damit quasi die "Option für die Armen" in eine "Option für den finanzschwachen Staat".
Wissenschaft
Die sozialwissenschaftliche Forschung bringt in den 1980er- und 1990er-Jahren eine Fülle theoretischer Untersuchungen hervor, die zunehmend Eingang in die sozialpolitische Debatte finden. Bei aller konzeptionellen Vielfalt kann als gemeinsame Erkenntnisbasis jedoch festgehalten werden, dass Armut als gesellschaftliches Problem und subjektive Betroffenheit nicht auf Einkommensarmut reduziert werden kann, sondern ein multidimensionales Phänomen darstellt. Armut wird durch viele Faktoren bedingt, die sich wiederum wechselseitig beeinflussen.
Unterschiedliche Institutionen, Verbände, Betroffenengruppierungen und verschiedenartige Fachdisziplinen fordern angesichts einer unsicheren Datenlage im Kontext von Armut und Unterversorgung von der Politik die Einführung eines kontinuierlichen Beobachtungsinstruments, d. h. die Einführung einer durchlässigen politischen Armutsberichterstattung auf allen Ebenen.
So existieren in den 1990er-Jahren sehr unterschiedliche Armuts- bzw. Sozialberichte auf kommunaler oder Landesebene, die nach ihren Inhalten, Schwerpunkten und Zahlenanalysen sowie von ihren Konsequenzen und Forderungen sehr verschiedenartig angelegt sind.
Erst im Jahre 2001 legt die amtierende Bundesregierung einen ersten, vielseits beachteten, Lebenslagen beschreibenden "Armuts- und Reichtumsbericht" vor. Außerdem entsteht aufgrund der EU-Beschlüsse von Lissabon und Nizza im Jahre 2000 ein "Nationaler Aktionsplan zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung".
Und heute: Warum haben Arme immer noch keine adäquate Lobby?
"Die Regelsätze der Sozialhilfe reichen nicht aus, um ein Leben in menschenwürdiger Form sicherzustellen." Viele der vor 35 Jahren entwickelten Tatsachen und Forderungen des Münsteraner Armutsreports haben nach wie vor Gültigkeit bzw. haben politisch noch nicht die erforderlichen Veränderungen bewirkt. Viele der damaligen Beispiele wiederholen sich so oder in verschärfter Form heute wieder.
Für mich als ehemaligen Sozialexperten der Caritas wird mit Abstand zur beruflichen Arbeit deutlich, dass armen Menschen und den strukturellen Bedingungen von Armut von vielen öffentlichen Trägern wie auch von Politikerinnen und Politikern auf allen Ebenen und von allen Parteien, von manchen Vertretern der Freien Wohlfahrtspflege die entsprechende Interessenwahrnehmung und Lobby verwehrt werden. In den 50 Jahren hätten sich bei den vielen Beteuerungen, Versprechen, Ankündigungen u. Ä. schon längst strukturelle Verbesserungen oder Selbstverständlichkeiten für Arme und Armut ergeben müssen.
Mein Eindruck und mein Fazit: Armen soll in unserem Land keine adäquate Lobby und strukturelle Gleichstellung gewährt werden. Viele Engagierte in der Freien Wohlfahrtspflege, in Caritas- und Fachverbänden, bei Tafeln, Sozialkaufhäusern, "Offenen Ohren" und den vielen Beratungsangeboten bemühen sich seit Jahren und nachhaltig um diese Themen und Zielgruppen, erreichen punktuell sehr viel im Sinne und für die Betroffenen. Aber strukturell sieht es ganz anders aus!
Warum?
- Warum ist das System der sozialen Sicherung in Deutschland immer noch überfordert (wie bereits 1987)?
- Warum werden gerade in dieser Zeit neuer Entwicklungen (Ukraine-Krieg, Corona, enorme Preissteigerungen in allen Lebensbereichen usw.) arme Menschen zusätzlich vergessen und nicht prioritär entlastet?
- Warum brauchen politische Entscheidungsträger auf allen Ebenen immer neue Belege, um arme Bevölkerungsgruppen prioritär zu versorgen - obwohl Zahlen, Daten, Fakten aus Armutsberichten u. Ä. vorliegen?
- Warum müssen Caritas und andere Wohlfahrtsverbände heute immer noch für Alleinerziehende, Kinder im SGB-II-Bezug, für einkommensbenachteiligte Familien, für Rentnerinnen und Rentner, für Flüchtlinge, für Regelsatzsteigerungen u. a. eintreten?
-
Warum muss die Caritas auch heute noch im Kampf um Klimawandel und Mobilitätswende für Menschen mit geringem Einkommen um die selbstverständliche Nutzung des ÖPNV werben ("erschwinglicher ÖPNV für Arme ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe")?1988 | „caritas in NRW“ berichtet über Armut im Ruhrgebiet: In Oberhausen hat sich die Zahl der Sozialhilfeempfänger seit 1970 verdreifacht.© Caritas in NRW
- Warum kommen Politikerinnen und Politiker und verantwortliche Energieversorger noch heute auf die Idee, Strom und Gas bei Zahlungsverzug abzustellen ("hier wird gesellschaftlicher Sprengstoff gesät und gesellschaftliche Teilhabe vorenthalten")?
- Warum sind arme Menschen in diesen Tagen und Monaten mehr denn je auf Tafeln, Sozialkaufhäuser u. Ä. angewiesen ("diese Einrichtungen dürfte es in Deutschland schon lange nicht mehr geben")?
- Warum sind die Sozialbehörden (Sozialamt, Jobcenter, Arbeitsagentur u. Ä.) so wenig kundenfreundlich, warum fehlen bis heute Erreichbarkeitskonzepte, Standards für lesbare, bearbeitbare Anträge und Bescheide (der Erstantrag Hartz IV war seinerzeit 16 Seiten lang!), warum fehlen Standards für Menschen mit Sprachschwierigkeiten, für Menschen ohne digitale Kompetenz, ohne PC oder Handy?
- Warum …?
Armut in der Bundesrepublik
Wer noch vor wenigen Jahren eine Aktualisierung der Armutsfrage für die Bundesrepublik vorhergesagt hätte, wäre bei der großen Mehrzahl der Sozialwissenschaftler und Politiker bestenfalls auf Unverständnis gestoßen. Und auch für die professionelle Sozialarbeit trat sehr weitgehend in den sechziger und siebziger Jahren die Sorge um die materielle Existenzsicherung ihrer Klientel in den Hintergrund. Verhaltensunsicherheiten und "Orientierungsschwierigkeiten mit psychosozialen Ursachen" wurden zum Hauptproblem der sozialen Berufe mit ihrem neuen Selbstverständnis von selbstverständlich zu erbringenden sozialen Dienstleistungen für den Bürger. Armut war mehr Fortbildungsthema […] über die Geschichte des eigenen Berufsstandes oder über die Probleme der dritten Welt. […]
Vor allem aber müssen alle, die mit dem wachsenden Problem der Armut in diesem Land zu tun haben, und in erster Linie die freie Wohlfahrtspflege, eine wirksame Interessenvertretung wahrnehmen. "Die eigene Sprachlosigkeit der Armen", befand Mitte der siebziger Jahre der heutige Familienminister Geißler, "darf nicht dazu führen, daß sie der öffentlichen Aufmerksamkeit entzogen werden, ohne die in einer Massendemokratie wenig geschieht."
Quelle: caritas in NRW, 1/1984, S. 3-4
Autor: Gerhard Pfannendörfer
Dieser Beitrag erschien zuerst im November 2022 in einer Sonderausgabe der Zeitschrift "caritas in NRW" aus Anlass des 50jährigen Erscheinens.