Die Menschen sind mir ein Vorbild
Ludger Dabrock war von 1990 bis 1995 Chefredakteur von "caritas in NRW". Im Anschluss war er 19 Jahre als Geschäftsführer für die Einrichtungen der Schwestern der hl. Maria Magdalena Postel tätig. Seit 2015 unterstützt Dabrock mit seinem eigenen Unternehmen Führungskräfte im Gesundheitswesen und in Pflegeunternehmen in der Weiterentwicklung von Führung sowie im Konfliktmanagement.Foto: Privat
Themen aufgreifen und vertiefen sowie Themen setzen war der Auftrag der Herausgeber. Genau das haben wir versucht umzusetzen: gemeinsam mit den Verantwortlichen für die Öffentlichkeitsarbeit bei den Diözesanverbänden und mit zahlreichen internen und externen Unterstützern.
Diese fünf Jahre haben mich geprägt
Da waren die Folgen des Krieges im ehemaligen Jugoslawien: für die Menschen, die aus ihrer Heimat zu uns nach NRW geflüchtet sind, und für diejenigen, die in der Region geblieben sind. Zerschossene Häuser, Dörfer und Städte, die Trümmerlandschaften glichen, Parks, die zu Friedhöfen umfunktioniert wurden, und überall entwurzelte Menschen, die Angehörige verloren hatten. Hier habe ich als junger Mitarbeiter bei den vielen Reportagereisen gelernt, dass der Nächste nicht nur vor Ort lebt, sondern gerade auch der Binnenflüchtling eine gute Flugstunde entfernt in Bosnien oder Mazedonien unser Nächster sein kann. Und wie wichtig es ist, die lokale Caritas und die dort tätigen Hilfsorganisationen zu unterstützen. Der Fokus der Diözesanverbände aus NRW waren neben der Nothilfe immer auch die Hilfe zur Selbsthilfe und die Unterstützung langfristiger Perspektiven.
In den 90er-Jahren waren einige Themen ähnlich wie heute:
- Wie muss sich die Caritas vor dem Hintergrund der sich auflösenden kirchlichen Milieus weiterentwickeln? Aus heutiger Perspektive kaum vorstellbar, dass das Thema vor 25 Jahren auch schon aktuell war, auch wenn sich der Handlungsdruck heute durch die sich atomisierenden amtskirchlichen Strukturen massiv erhöht hat.
- Welche Folgen hat die Ökonomisierung des Gesundheitswesens und der Pflege für caritative Anbieter?
- Wie sieht die Corporate Identity der Caritas aus - und was dürfen und müssen caritative Institutionen von ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an Identifikation mit den Werten der Caritas erwarten?
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Wie können die Pflege und der Pflegeberuf gestärkt werden - und welche Chancen gibt es durch die Akademisierung?1992 stiegen die Asylbewerberzahlen stark an. Gegen die wachsende Ausländerfeindlichkeit in Teilen der deutschen Gesellschaft demonstriert hier die Caritas in Essen.Foto: Achim Pohl
- Wie können wir Menschen in der letzten Lebensphase menschlich und medizinisch-pflegerisch angemessen begleiten - und welche Orte braucht es dafür?
- Wie können Gemeinden und die Caritas vor Ort Menschen, die vor Krieg, Verfolgung, Hunger oder fehlender wirtschaftlicher Perspektive aus ihrem Land geflüchtet sind, unterstützen und neue Lebenschancen eröffnen?
Aus heutiger Sicht gibt es also durchaus Themen und daraus resultierende Aufgaben, die sich wie ein roter Faden durch die Arbeit der Caritas in NRW in den letzten Jahrzehnten ziehen und damit auch immer wieder Thema in der Zeitschrift waren.
1991 ein Hilfstransport nach Dimitrov/Kiew (damals UdSSR)Foto: Ludger Dabrock
Mich haben in diesen Jahren immer wieder die Menschen in der Caritas fasziniert: Menschen, die im Sinne des Wortes die Ärmel hochgekrempelt und mit ihren Fähigkeiten Not gelindert haben. Menschen, die die innerverbandliche Bürokratie - ja, auch in den 90er-Jahren erinnerte mancher Verband eher an eine (schläfrige) Ministerialbehörde - geschickt umgangen und Bypässe gelegt haben. Menschen, die aus ihrem tiefen Glauben heraus anderen Menschen geholfen haben. Menschen, die nicht von Problemen fasziniert waren, sondern Lösungen gefunden haben. Diese Menschen in der Caritas sind mir ein Vorbild - bis heute. Sie haben mich geprägt und sie prägen mich.
Und heute?
Wir brauchen in einer Zeit, in der sich (amts)kirchliche Strukturen mit atemberaubender Geschwindigkeit selbst zerlegen und die gesellschaftliche Relevanz der katholischen Kirche in Deutschland durch die Skandale der letzten Jahre dramatisch sinkt, eine Caritas, in der Menschen weiterhin glaubwürdig das leben, was sie vom Evangelium verstanden haben.
Diese Caritas braucht ein Forum - auch dafür gibt es die Zeitschrift "caritas in NRW": innovativ, kritisch, diskussionsfreudig, glaubwürdig und mit einem klaren Blick für die Menschen, die auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind: Ad multos annos!
"Menschen faszinieren, die die Ärmel hochgekrempelt und mit ihren Fähigkeiten Not gelindert haben …"
Ludger Dabrock
Dieser Beitrag erschien zuerst im November 2022 in einer Sonderausgabe der Zeitschrift "caritas in NRW" aus Anlass des 50jährigen Erscheinens.