Heimerziehung für 5 DM pro Tag
Theodor Breul war von 1986 bis 2011 Leiter der Abteilung Kinder-, Jugend- und Behindertenhilfe im Diözesan-Caritasverband Paderborn. Der gebürtige Paderborner kam als junger Diplom-Pädagoge 1973 zum Diözesanverband, wo er das Referat Heime für Kinder und Jugendliche übernahm. Breul war u. a. Vorstandsmitglied im Bundesverband katholischer Dienste und Einrichtungen der Erziehungshilfe, leitete den Arbeitsausschuss Heimerziehung der Freien Wohlfahrtspflege NRW und war Mitglied im Jugendhilfeausschuss des Landesjugendamtes Westfalen-Lippe.Foto: Privat
Was wir seit einigen Jahrzehnten mit dem Begriff "Erziehungshilfen" umschreiben, gab es Anfang der 1970er-Jahre eigentlich gar nicht, zumindest nicht so, wie es heute landauf, landab fast selbstverständlich gegeben ist. Was es gab, war das Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG), dessen Ursprung in der Weimarer Republik, genauer im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) vom 9. Juli 1922, liegt. Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurde das RJWG mit geringfügigen Umformulierungen als Jugendwohlfahrtsgesetz übernommen.
Wie das RJWG, so legte auch das JWG fest, wie seitens des Jugendamtes mit Kindern und Jugendlichen umzugehen sei, deren Eltern aus welchen Gründen auch immer für die Erziehung ausfielen. Sofern es sich lediglich um den numerischen Ausfall der erzieherisch relevanten Personen handelte, kamen diese Kinder oder Jugendlichen in die sogenannten Waisenhäuser oder auch Kinderheime. Die Kinder und vor allem Jugendlichen, die nach den damaligen äußerst kleinteiligen (um nicht zu sagen: kleinkarierten) Vorstellungen auffällig geworden waren, brachte man in Erziehungsheime, wobei in diesen Fällen das Gesetz und die Praxis je nach Mitwirkungsbereitschaft der Eltern zwischen Freiwilliger Erziehungshilfe (FEH) und Fürsorgeerziehung (FE) unterschieden. Sobald die Eltern FEH beantragten oder ein Gericht auf FE entschieden hatte, wurde das Landesjugendamt zuständig.
Neben diesen Formen von Heimerziehung kannte das JWG zwar noch das Instrument der Pflegefamilie und das der Erziehungsbeistandschaft. Beide Hilfeformen spielten aber über viele Jahrzehnte eine allenfalls untergeordnete Rolle. Das hatte einen ebenso schlichten wie fatalen Grund: Heimerziehung - egal in welcher Gestaltungsform - war kostengünstig zu haben. Zu Beginn der 1970er-Jahre gab es jede Menge Kinderheime, deren Pflegesatz kalendertäglich bei weniger als 5 DM lag. In den sog. Erziehungsheimen bewegten sich die Pflegesätze um die Marke von 10 DM. Hinzu kam, dass freie Plätze in Kinderheimen wie Erziehungsheimen schnell zu haben waren - wenn nicht in der Nähe der Herkunftsfamilie, dann eben weiter weg, oft Hunderte Kilometer entfernt. Da konnte man gut und gerne auf die doch wesentlich mühsamere Suche nach (geeigneten) Pflegefamilien oder nach den spärlich gesäten Erziehungsbeiständen verzichten.
Das JWG war durchgehend nach ordnungsrechtlichen Gesichtspunkten ausgerichtet; viele sprachen von ihm als einem Polizeirecht. Jugendamt bzw. Landesjugendamt waren die entscheidenden Handlungsträger. Zwar konnten auch damals Erziehungsberechtigte (heute sagt man "Personensorgeberechtigte") Hilfen nach dem JWG ihrerseits beantragen; sobald der Antrag aber angenommen war, spielte die Herkunftsfamilie so gut wie keine Rolle mehr. Dieser faktische Funktionsausfall führte zu einem weiteren großen Problem: Wohin kehrten die jungen Menschen zurück, wenn nach unter Umständen mehreren Jahren die Heimerziehung beendet war? Hatten sie überhaupt noch belastbare, tragfähige Beziehungen nach zu Hause? Oft genug, allzu oft war da nichts mehr.
Unwürdige Verhältnisse
Das war die Ausgangslage Anfang der 1970er-Jahre. Allen, die auch nur halbwegs über den Tellerrand ihres beruflichen Alltags schauen konnten und wollten, war klar, dass diese pragmatistische Umsetzung des JWG zu unhaltbaren und, recht besehen, unwürdigen Verhältnissen führte. Dringend musste an die Stelle eines mehr oder minder routinierten Behördenhandelns ein gestärktes Antragsrecht, mussten Mitbestimmung und Mitwirkung der Betroffenen und eine deutliche, auf den Einzelfall ausgerichtete Differenzierung treten. Statt der faktischen Eltern-Kind-Trennung durch Heimerziehung mussten andere Hilfeformen entwickelt werden, die den Kontakt und die Mitverantwortung der Angehörigen fördern und Hilfen im nahen Umfeld organisieren.
Die Diskussion dieser grundsätzlichen Forderungen bestimmte die 1970er-Jahre. Dazu brauchte es detaillierte und gesicherte Fachkenntnis, engagierte Mitwirkung und politisches Eintreten bei allen an der Debatte Beteiligten.
Ausbildung und Fortbildung verbessern
In der verbandlichen Caritas war dies die Geburtsstunde der in allen westdeutschen Diözesen nach und nach etablierten Arbeitsgemeinschaften der - wie es damals noch etwas holprig hieß - Heim- und Heilpädagogik. Die Kinderheime und die Erziehungsheime in katholischer Trägerschaft fanden zusammen. Während sich die Erziehungsheime schon lange unter Federführung des jeweiligen Landesjugendamtes überkonfessionell getroffen hatten, war das für die seinerzeitigen Kinderheime eine völlig neue Erfahrung. Man sah, dass es anderswo auch anders laufen, vielleicht sogar besser gestaltet werden konnte. Man merkte, dass "ein Herz für Kinder" schon ganz gut, aber angesichts der oftmals traumatisierten Klientel bei Weitem nicht ausreichend war. Viele, nahezu alle, die damals noch in den Kinder- und den Erziehungsheimen als erzieherisch Mitarbeitende tätig waren, waren Ordensleute. Einige von ihnen hatten eine fachspezifische Ausbildung, die allermeisten aber außer einer gewissen charakterlichen Eignung allenfalls eine (unzureichende) Zurüstung durch Fortbildungen.
Die nun allmählich entstehenden diözesanen Arbeitsgemeinschaften sahen insofern auch eines ihrer wichtigsten Anliegen darin, die Ausbildung zu qualifizieren und über gut konzipierte Fortbildungsangebote möglichst umgehend einen zumindest halbwegs präsentablen fachlichen Ausgleich zu schaffen. Die Kooperation mit den Fachschulen (heutige Berufskollegs) für Sozialpädagogik und mehr und mehr mit den Fachhochschulen wurde ausgebaut.
Ausgebaut wurde in den Diözesan-Caritasverbänden die Zusammenarbeit mit den kommunalen Jugendämtern und ganz besonders dem Landesjugendamt. Das bezog sich auf Absprachen über fachliche Anforderungen und Qualifizierungen, auf differenzierte pädagogische und therapeutische Angebotsstrukturen und nicht zuletzt auch auf die quantitative Planung.
Diese Gespräche gestalteten sich äußerst lebendig, bisweilen auch turbulent. Es ging um Interessenabwägung der Heimträgerseite gegenüber der Kostenträger- bzw. Jugendämterseite. Qualifikation kostet Zeit und kostet Geld. Warum "diese Kinder, die der Gesellschaft so viel Mühe machen und zur Last fallen", auch noch so viel Geld kosten sollten, war längst nicht jedem auf Anhieb zu vermitteln, auch nicht in den Strukturen von Kirche und Caritas.
Wandel in der Heimerziehung
In den letzten 10 bis 15 Jahren hat es in der Heimerziehung einen tiefgreifenden Wandel in pädagogischer und struktureller Hinsicht gegeben. Noch vor 15 Jahren gab es in den Heimen Großgruppen von 20, 30 oder mehr Kindern, die von wenigen, in vielen Fällen pädagogisch kaum ausgebildeten, aber beruflich sehr engagierten Mitarbeitern betreut wurden. Durch die Massenpflege war es kaum möglich, mehr als liebevolle Pflege und Versorgung zu leisten. […]
Die Kinder kommen heute durchwegs […] mit erheblichen Verhaltensauffälligkeiten und -störungen ins Heim. Daher wird heute von den Heimen nicht nur eine erzieherische, sondern gleichermaßen eine therapeutische Wirksamkeit erwartet. Hart aber steht die Frage im Raum, ob die frühere, noch so unzulängliche, aber meist liebevolle Erziehung nun möglicherweise "auf der Strecke" bleibt. […]
Wir sollten alles Mögliche tun, um den Institutionscharakter unserer Einrichtungen abzubauen. […] In diesem Zusammenhang soll nur beispielhaft auf die Bestrebungen zur Gruppenautonomie, zur Errichtung von Außenstellen, Jugendwohngemeinschaften, Differenzierung von Angeboten der Schulen und Ausbildungsmöglichkeiten usw. verwiesen werden.
Quelle: caritas in NRW, 4-5/1983
Autor: Dr. Ulrich Brisch, Kölner Diözesan-Caritasdirektor, zum Thema "Tendenzen und Zukunftsprobleme in der Heimerziehung"
Dieser Beitrag erschien zuerst im November 2022 in einer Sonderausgabe der Zeitschrift "caritas in NRW" aus Anlass des 50jährigen Erscheinens.