"Am besten fragen wir sie selbst"
Späte 1960er-/Anfang der 1970er-Jahre: Kinder mit Behinderungen und ihre Betreuerinnen vor einem einfachen Wohnhaus der Stiftung Haus Hall.Foto: Archiv Stiftung Haus Hall
Bröchelers Ansatz für die Zukunft der Behindertenhilfe: "Am besten fragen wir die Menschen mit Behinderungen selbst." Für den Geschäftsführer der Stiftung Haus Hall in Gescher und Vorsitzenden der Diözesanarbeitsgemeinschaft Behindertenhilfe der Caritas in der Diözese Münster geht es weniger um die große Idee als vielmehr darum, die schon beschrittenen Wege zum selbstbestimmten Leben und zur Integration in die Gesellschaft fortzusetzen.
Da hat sich in den vergangenen Jahrzehnten durchaus was bewegt, sowohl was die Angebote der Behindertenhilfe betrifft als auch das Denken über Menschen mit Behinderungen. Das zeigt ein Blick in die Oktober-Ausgabe 1981 der "caritas in NRW". Über mehr als 60 Seiten erstreckt sich der Schwerpunktteil. Neben der heute nicht weniger gültigen Forderung nach mehr Selbstbestimmung findet sich auch eine heute fremd anmutende Aussage: "dass der Behinderte lernt, sich in Selbstbeschränkung an die Gegebenheiten anzupassen". Das könne er nicht aus eigener Ansicht, sondern bei der Grenzziehung der Hilfe.
Grenzen sieht auch Bröcheler heute, aber weniger im Wollen als im Faktischen. Das betrifft sowohl das Wohnen wie das Arbeiten. Zum einen fehlt es schlicht an Wohnraum, um den Wunsch nach selbstständigem, wenn auch betreutem Leben sofort umsetzen zu können. Zum anderen müsste "die Arbeitswelt ganz anders organisiert werden" für eine Integration in den Arbeitsmarkt. Wenn die Welt aber nicht der Wunschvorstellung entspreche, mache es wenig Sinn, sich daran abzuarbeiten.
Vielmehr müsse es darum gehen, auf den Einzelnen zu schauen. "Da müssen wir uns selbstkritisch immer wieder fragen: Sind wir aufmerksam genug, um zu sehen, dass eine höhere Qualifikation möglich ist?", sagt Thomas Bröcheler. Habe bei Arbeitsangeboten für Menschen mit Behinderung die Produktion Vorrang, werde es schwierig; gehe es vor allem um Teilhabe und Förderung, stelle sich die Frage nach den Ressourcen.
1995 | Ein pflegebedürftiges Kind mit Multipler Sklerose braucht Versorgung und Zuwendung von medizinischem Fachpersonal.Foto: Achim Pohl
Mehr Zeit für Betreuung gewünscht
Das spiegeln auch die Antworten von Menschen mit Behinderung und Mitarbeitenden wider, wenn sie danach gefragt werden, was sie sich wünschen. Mit der Wohnsituation seien sie nicht nur im Ambulant Betreuten Wohnen zufrieden, sondern auch im Wohnheim, gerade auch in der Corona-Zeit, weil dies einen geschützten Rahmen biete, so Bröcheler. Aber beide Gruppen wünschten sich mehr Zeit für Betreuung. Enge Personalvorgaben und steigende Dokumentationspflichten begrenzten jedoch die Zeit für pädagogische Arbeit.
So ist die Behindertenhilfe in der jüngeren Vergangenheit schon weit fortgeschritten in der Erfüllung individueller Wünsche durch immer weitere Differenzierung der Wohnangebote. Gerade etabliert die Stiftung Haus Hall zum Beispiel das Intensiv Ambulant Betreute Wohnen als Zwischenform. Aber nicht jeder hehre Wunsch lässt sich erfüllen. Wurde im Schwerpunktheft 1981 noch erwartet, dass die Zahl der Menschen mit Behinderungen tendenziell sinken werde, ist das Gegenteil eingetreten. So konnte auch in der Stiftung Haus Hall das vor 15 Jahren selbst gesteckte Ziel nicht erreicht werden, dass deutlich weniger Menschen auf dem weitläufigen Gelände in Gescher leben. Zu groß ist die Nachfrage.
Gut für die Menschen mit Behinderung, aber als wenig entlastend bei der Nachfrage nach Plätzen hat sich das Ambulant Betreute Wohnen (ABW) erwiesen. Mittlerweile werden über die Hälfte der Menschen mit Behinderungen ambulant betreut. Das Angebot schätzen auch ihre Angehörigen, sodass die Zurückhaltung schwindet, ihr "Kind" einer Behinderteneinrichtung anzuvertrauen. "Sie suchen immer früher nach Unterstützung", sagt Bröcheler. Die erfolgreiche Arbeit im Sinne der Menschen mit Behinderungen erhöhe den Druck auf das System.
1998 | Josefsheim in Olsberg-Bigge, die Gründungseinrichtung der Josefs-GesellschaftFoto: Achim Pohl
Als wenig hilfreich erweist sich für ihn hier das neue Bundesteilhabegesetz (BTHG). Es wolle dem Menschen mit Behinderung mehr Wahlmöglichkeiten einräumen, was gut sei. Gleichzeitig räume es den Leistungsträgern, sprich vor allem den Landschaftsverbänden, mehr Steuerungsmöglichkeiten ein und lege fest, dass all dies kostenneutral sein müsse: "Am Ende ist alles widersprüchlich." Für illusorisch hält Bröcheler den Ansatz des Gesetzes, dass alle schwerst-mehrfachbehinderten Menschen selbstständig wohnen können sollen: "Wir werden niemals den gesellschaftlichen Konsens erreichen, die für eine individuelle 24-Stunden-Betreuung notwendigen Ressourcen über Steuermittel oder Sozialversicherungsbeiträge zur Verfügung zu stellen."
Mehr Teilhabe - aber bitte kostenneutral
Kostenneutral zu bleiben ist auch schwierig, wenn der Landschaftsverband Westfalen-Lippe zur Umsetzung sein Personal gleich um Dutzende von Stellen aufgestockt hat. Das hat zudem den Effekt, dass "es viel mehr Leute gibt, die Fragen stellen", erklärt Bröcheler, aber in den Behinderteneinrichtungen deshalb nicht mehr Mitarbeitende, die sie beantworten könnten. Wobei es auch positive Aspekte des BTHG gebe. Tatsächlich habe der einzelne Bewohner und Beschäftigte mehr eigenes Geld zur Verfügung. Auch dass jetzt durch mehr Fallmanager genauer auf die Wirksamkeit der bewilligten Hilfen geschaut werde, sei gut.
1992 | Fotoreportage aus dem Franz Sales Haus in Essen-Steele. Vor über hundert Jahren als „Anstalt für Kinder mit einer geistigen Behinderung“ gegründet, hat sich seitdem der Umgang mit Menschen, die Unterstützung benötigen, gewaltig verändert. Das Franz Sales Haus gilt heute als vorbildlich.Foto: Achim Pohl
Aber wo "wir vorher zu wenige Ansprechpartner hatten, schlägt das Pendel jetzt in die andere Richtung aus", sagt Thomas Bröcheler. Seine Sorge ist, dass eine "wahnsinnige Bürokratie" aufgebaut wird. Als Symptom sieht er unter anderem die mittlerweile 30-seitigen Heimverträge an, durch die selbst rechtliche Betreuer nicht mehr durchblickten.
Das halte von anderen wichtigen Fragen ab, die eigentlich zu klären seien, zum Beispiel wie Mitarbeitende Menschen "mit besonders herausforderndem Verhalten" begrenzen könnten - nicht in ihren Wünschen, wie noch vor 40 Jahren angemahnt, sondern um nicht andere Bewohnende und Betreuende oder sich selbst zu gefährden. Da fehle es an rechtssicheren und praktikablen Vorgaben. "Das nimmt den betreuenden Mitarbeitenden die notwendige Handlungssicherheit", sagt Bröcheler. Und wenn es da keine Lösung gebe, stelle sich die Frage, wie der Umgang mit immer mehr Menschen mit schwierigem Sozialverhalten geleistet werden könne.
Den Einzelnen fördern
Es sind eher diese rein praktischen Fragen, die sich der Behindertenhilfe heute und in Zukunft stellen und die Schritt für Schritt zu beantworten sind, als die eine große Zukunftsidee. Im Vergleich der Aussagen im Heft 5/1981 und der Ist-Situation zeigt sich ein deutlicher Fortschritt. Ansätze zu dieser Entwicklung sind in den damaligen Beiträgen zu finden, aber der Geist war noch ein anderer. Wenn von der Neigung der Menschen zu lesen ist, Menschen mit Behinderungen aus ihrem Gesichtskreis zu entfernen, so ist ihre Akzeptanz und Integration deutlich vorangekommen. Auch die Meinung, dass sie meist nicht in der Lage sind, Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen, viele auf dem Stand eines dreijährigen Kindes verharren und die wenigsten über das Niveau eines Zehnjährigen hinauskommen, ist mit entsprechender Förderung widerlegt worden. Mehr ist möglich mit dem Blick auf den Einzelnen, seine Stärken, Schwächen und Wünsche.
Frühe Inklusion?
Zum „Internationalen Jahr der Behinderten“ schrieb 1981 Eugen Drewermann für „caritas in NRW“.© Caritas in NRW
Jeder einzelne könnte dazu beitragen, das Los der Behinderten und ihrer Familien zu erleichtern, wenn man Eltern bezeugte, daß sie nicht alleingelassen werden in ihrem Schicksal, wenn man für den Behinderten freundliche und aufmunternde Worte findet, wenn seine Fortschritte und Leistungen anerkannt werden oder wenn man gar mithilft, die nötigen Hilfseinrichtungen zu finden oder zu schaffen. Es muss aber die Bereitschaft bestehen, Begegnungen mit behinderten Menschen zu suchen und dadurch Behinderte kennenzulernen. Wenn man diesen Prozeß vollzieht, dann stellt sich meistens von selbst die Bereitschaft ein, zur Verwirklichung des Menschseins des Behinderten behilflich zu sein. Eltern mit behinderten Kindern klagen oft sehr darüber, daß sie sich in der Gesellschaft isoliert fühlen. Appelle müssen darum an Familien mit gesunden Kindern gerichtet werden, auch einmal Eltern mit einem behinderten Kind einzuladen. Aus Gruppen und Vereinen sollten Behinderte nicht automatisch ausgesperrt werden. Junge Menschen sollten ermuntert werden, in Einrichtungen für Behinderte tätig zu werden. Auch die Kirchengemeinden sind zu diesem Prozeß aufgerufen. Auch der Behinderte, und hier der geistig behinderte Mensch, hat ein Recht auf Seelsorge und religiöse Erziehung.
Quelle: caritas in NRW, 5/1981: "Hilfe für Behinderte: unsere Mitmenschen"
Autor: Heribert Marx
Dieser Beitrag erschien zuerst im November 2022 in einer Sonderausgabe der Zeitschrift "caritas in NRW" aus Anlass des 50jährigen Erscheinens.