Entwicklungsprozesse der Caritas während der 1960er- und 1970er-Jahre
Die Geschichte der caritativen Organisationen im 19. und 20. Jahrhundert kann nur als Teil der katholischen Kirchengeschichte verstanden werden. Für die Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Vatikanischen Konzil heißt das, sie als Teil des katholischen Milieus zu begreifen, das als weitgehend geschlossene Sonderwelt gedeutet wird. Getreu dem Motto "Von der Wiege bis zur Bahre" sollte es den Katholikinnen und Katholiken ermöglicht werden, sich vom Lebensanfang bis zum Lebensende in allen denkbaren Situationen in katholischen Bereichen aufzuhalten. Die caritativen Organisationen und Institutionen, wie z. B. Krankenhäuser, waren oftmals zentrale katholische Anlaufpunkte dieses Milieus. Gleichzeitig aber entschieden sich viele caritative Organisationen bereits im Kaiserreich nicht zuletzt aus finanziellen Gründen, Teil des entstehenden Wohlfahrtsstaates zu werden, sodass ein bis heute bestehendes duales Wohlfahrtssystem, in dem private Anbieter Dienstleistungen für staatliche Stellen erbringen, Formen annehmen konnte.
Sowohl das katholische Milieu als auch der Sozialstaat erlebten während der 1960er- und 1970er-Jahre einen tiefgreifenden Umwandlungsprozess. Die Erosion des katholischen Milieus, die bereits in den 1950er-Jahren einsetzte, zeigte sich v. a. am Rückgang der Gottesdienstbesucherzahlen, aber auch in der nachlassenden Partizipation im katholischen Gemeinde- und Vereinsleben, um nur einige Phänomene zu nennen. Innertheologisch läutete spätestens das Zweite Vatikanische Konzil über die bewusst vollzogene Öffnung zur Welt, für die der von Papst Johannes XXIII. geprägte Leitbegriff des Aggiornamento steht, eine neue Zeit ein. Gleichzeitig erreichte der Sozialstaat in qualitativer wie in quantitativer Hinsicht ein neues Niveau, was sich etwa an dem nach langen Diskussionen 1961 verabschiedeten Bundessozialhilfe- und Jugendwohlfahrtsgesetz zeigen ließe.
Diese Umwandlungsprozesse führten zu tiefgreifenden Veränderungen im caritativen Katholizismus, wie im Folgenden an verschiedenen Handlungsfeldern dargestellt werden soll.
Abbrüche - das Ende der Fürsorgeerziehung
Ein Aufgabenfeld, in dem die oben angesprochene Kooperation von Staat und privaten Anbietern besonders gut erkennbar war, war die Fürsorgeerziehung. 1900 eingeführt, bestimmte das entsprechende Gesetz, dass "verwahrloste" Minderjährige oder solche, die in der Gefahr stehen zu "verwahrlosen", von ihren Erziehungsberechtigten entfernt und in öffentliche Erziehung genommen werden sollen. Um die damit dramatisch ansteigende Zahl an Pfleglingen unterbringen zu können und die Kosten möglichst niedrig zu halten, griffen die meisten für die Fürsorgeerziehung zuständigen staatlichen Stellen (die Umsetzung der Fürsorgeerziehung war Aufgabe der Länder) auf konfessionelle Wohlfahrtseinrichtungen zurück. Im Rheinland existierten so 1914 bei über 10000 Pfleglingen lediglich drei öffentliche Einrichtungen, die zudem nur Kinder einer Konfession aufnahmen und von einem Geistlichen geleitet wurden.
Die Fürsorgeerziehung war von Beginn ihrer Einführung an umstritten, und die ersten Missbrauchsskandale in verschiedenen Heimen, die im Kaiserreich aufgedeckt wurden, verstärkten die Antipathien. Endgültig in die Krise geriet die Fürsorgeerziehung während der 1960er-Jahre, nicht zuletzt weil viele junge Journalistinnen und Journalisten darüber kritisch berichteten. So sendete das Zweite Deutsche Fernsehen am 14.02.1971 um 22:00 Uhr eine einstündige Dokumentation des damals bereits recht bekannten Günter Wallraff (geb. 1942). Der Titel "Flucht vor den Heimen" lässt die kritische Absicht bereits erkennen. Die erste Szene unterstreicht diese Perspektive. Darin berichtet eine Jugendliche namens Ethel B. über ihre Zeit als Fürsorgezögling in einer Aachener Einrichtung der Schwestern vom Guten Hirten. Die junge Frau kritisiert den Heimalltag als monoton und berichtet von ungerechten Strafen, unterbezahlter Arbeit sowie dem Zwang, am Sonntagsgottesdienst teilzunehmen. Kritisiert wurde auch die konservative Werteordnung der Ordensschwestern. Bewusst zeigte Wallraff Ethel B. als moderne junge Frau, die sich schminkt, raucht und einen kurzen Rock trägt. Damit brachte er prägnant zum Ausdruck, dass ihm die Heimerziehung unter Zwang - das von Ethel B. am häufigsten gebrauchte Verb lautete bezeichnenderweise "müssen" - angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse und des damit verbundenen Wertewandels als nicht mehr zeitgemäß erschien.
Caritatives Ehrenamt hat sehr vielfältige und neue Formen gefunden. Ehrenamtliche engagieren sich meist zeitlich begrenzt, gerne konkret und im nahen Kontakt zu Bedürftigen. Hier suchen junge Menschen das Gespräch mit einem Obdachlosen und bieten Hilfe an: "Warm durch die Nacht".Foto: Deutscher Caritasverband/Harald Oppitz, KNA
Das Aachener Heim versuchte v. a. auf Drängen des Landesjugendamtes Rheinland, auf diese Prozesse zu reagieren. Anders als noch Anfang der 1960er bestand so 1971 kein vollständiges Rauchverbot mehr, und auch die vorgeschriebene Länge der Röcke hatte deutlich abgenommen. Dennoch handelte es sich mit Blick auf die ablehnende Reaktion vieler (allerdings nicht aller) Heimbewohnerinnen um eine Modernisierung, die zu spät kam und nicht weit genug ging. Im Zentrum der Kritik stand dabei nicht zuletzt die religiöse Erziehung.
Die Provinzleitung entschloss sich wie viele andere Entscheidungsträger von konfessionellen Heimen, ihre Einrichtung zu schließen, was 1973 endgültig erfolgte. Dieser Entschluss wurde v. a. mit ausbleibendem Nachwuchs und der Überalterung der Schwesternschaft begründet. Unausgesprochen ging es aber auch um eine Erziehungskrise - das Unverständnis darüber war groß, wie sich die eigenen konservativen Erziehungsideale mit dem Wertewandel und den damit verbundenen Veränderungen im Geschlechterverständnis und im Umgang mit Sexualität, um nur zwei Reizthemen zu nennen, in Einklang bringen lassen.
Das Aachener Beispiel spiegelt damit in mehrfacher Hinsicht, wie die Krise des katholischen Milieus mit der Krise der Fürsorgeerziehung unter katholischen Vorzeichen verbunden war. Was aber bedeutete dies für die Entwicklung der Caritas generell?
Transformationen - die Entwicklung des Ehrenamtes
Auch mit Bezug auf die Milieuerosion vertreten einige Forscher die These, dass bei vielen caritativen Organisationen das katholische Selbstverständnis seit den 1960er-Jahren stärker in den Hintergrund getreten sei, während der Bezug zum Wohlfahrtsstaat an Bedeutung gewonnen habe. In ähnlicher Weise habe sich auch das Verhältnis von Haupt- und Ehrenamt entwickelt. Das Ehrenamt, das die Anfänge des caritativen Katholizismus geprägt habe, habe an Bedeutung verloren, stattdessen habe in den 1970er-Jahren eine bis heute anhaltende Professionalisierung eingesetzt.
Diese These lässt sich allein anhand einiger weniger Zahlen gut belegen. Der damalige Katholische Fürsorgeverein, heute bekannt als Sozialdienst katholischer Frauen, verfügte so etwa 1953 über 60234 ehrenamtliche Einzelhelferinnen, keine 20 Jahre später, 1972, waren es nur noch 12568. 1947 kamen so im Katholischen Fürsorgeverein auf eine hauptamtliche Kraft 15 freiwillige Helferinnen, 1968 waren es nur noch sieben freiwillige Helferinnen, und Anfang der 1990er-Jahre lag das Verhältnis bei zwei zu drei. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in den absoluten Zahlen. 1950 gab es in allen caritativen Organisationen 106058 hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, 1970 waren es 192484 und 1980 283821.
Allerdings gerät eine Perspektive, die ausschließlich Professionalisierung als den Megatrend der Caritas während der letzten 50 Jahre ausmacht, in die Gefahr, neue Aufbrüche in den traditionellen Strukturen zu übersehen. Diese Neuaufbrüche lassen sich bereits daran erkennen, dass sich viele caritative Vereine während der 1960er-Jahre umbenannten, um auf diese Weise ihren Abschied vom katholischen Milieu zu vollziehen, ohne aber damit ihr katholisches Selbstverständnis aufgeben zu wollen. Der eben erwähnte Namenswechsel des Katholischen Fürsorgevereins in den Sozialdienst katholischer Frauen vollzog sich etwa so 1968, und aus dem Marianischen Mädchenschutzverein wurde 1964 "IN VIA Katholische Mädchensozialarbeit".
Gleichzeitig entstanden neue Handlungsfelder wie die Telefonseelsorge, die bis heute stark vom Ehrenamt geprägt sind. Gerade in diesen Feldern lassen sich viele ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter finden, die man dem neuen Ehrenamt zuschreiben kann. Eine 1982 erstellte empirische Untersuchung von Ehrenamtlichen, die bei der Telefonseelsorge aktiv waren, zeigt die damit einhergehende Mentalitätsverschiebung deutlich auf. 76,5 Prozent der Befragten (zu ergänzen ist, dass es sich nicht ausschließlich um Katholikinnen und Katholiken handelte) deuteten ihre Tätigkeit als christliches Engagement, aber nur 40,1 Prozent verstanden sie als Dienst im Auftrag der Kirche. In diesem Ergebnis spiegelt sich die innerkatholische Pluralisierung, die sich nach dem Abschied vom Milieu verstärkte. Eine enge Bindung an die katholische Kirche auf der einen Seite und ein christliches und/oder katholisches Selbstverständnis auf der anderen Seite können, müssen aber nicht mehr übereinstimmen.
Spätestens mit dieser Beobachtung führt der historische Befund direkt in die aktuellen Diskussionen um das gegenwärtige und zukünftige Verhältnis von organisierter Caritas und Kirche, die angesichts der sich weiter verschärfenden Krise der Amtskirche in den kommenden Jahren zunehmen werden. Berücksichtigt man, dass sich der Sozialstaat angesichts einer zunehmenden Ökonomisierung ebenfalls in den letzten Jahrzehnten stark verändert hat, wird deutlich, dass sich die Caritas wie in den 1960er- und 1970er-Jahren in einer Umbruchsituation befindet. Es bleibt abzuwarten, welche Abbrüche und Transformationen dabei auftreten werden.
Ausführlicher und mit Quellen-Nachweisen
Andreas Henkelmann, Flucht vor den Heimen in Aachen: Katholische Heimerziehung in der frühen Bundesrepublik in der Diskussion, in: Geschichte im Bistum Aachen 11 (2011/2012), S. 225-280.
Andreas Henkelmann, Abschied vom Ehrenamt? Überlegungen zur Entwicklung der Caritas nach dem Abschied vom Milieu, in: Rauf Ceylan/Michael Kiefer (Hg.), Ökonomisierung und Säkularisierung. Neue Herausforderungen der konfessionellen Wohlfahrtspflege in Deutschland, Wiesbaden 2017, S. 123-144.
Dieser Beitrag erschien zuerst im November 2022 in einer Sonderausgabe der Zeitschrift "caritas in NRW" aus Anlass des 50jährigen Erscheinens.