Leserorientierung, Caritas-Identifikation, kirchliches Profil
Am 1. Oktober 1993 ernannte mich Bischof Dr. Klaus Hemmerle zum Diözesan-Caritasdirektor für das Bistum Aachen. Als erste überdiözesane Aufgabe wurde mir von meinen damaligen Kollegen die Funktion des Herausgebervertreters für "caritas in NRW" übertragen. Ich trat damals die Nachfolge des von mir hoch geschätzten Kollegen, Essens Dompropst Günter Berghaus, an. Damit sollte auch der Generationenwechsel in verschiedenen Bereichen der NRW-Caritasverbände eingeleitet werden. Damals war Ludger Dabrock als Chefredakteur mein erster Ansprechpartner in dieser neuen Aufgabe, die ich bis zu meiner Ernennung als Generalvikar des Bischofs von Aachen 1997 wahrnehmen sollte.
Politisch und kirchlich sehr bewegte Zeit
Im Redaktionsteam waren die Referenten für Öffentlichkeitsarbeit aus den fünf Diözesanverbänden vertreten, eine sehr lebendige, kritische, aber vor allem konstruktive Gruppe. Ich habe den lebhaften Diskurs in diesem mit ganz unterschiedlichen Schwerpunkten ausgestatteten Team sehr geschätzt. Alle zwei Monate trafen wir uns zu einer Redaktionssitzung für die Planung der einzelnen Ausgaben. Die Chefredaktion wechselte am 1. Januar 1996 zu Jobst Rüthers, mit dem mich in dieser Funktion eine ertragreiche Zusammenarbeit verbindet. Im Juli 2000 wurde er der Pressesprecher des Bischofs von Aachen.
Die Zeit damals war sowohl auf politischer Ebene in der Sozialgesetzgebung des Landes NRW als auch im kirchlichen Zusammenhang sehr bewegt. Wir haben uns diesen neuen Herausforderungen gestellt. Dabei haben wir Veränderungen in der Ausrichtung von "caritas in NRW" und in der Struktur unserer Arbeit auf den Weg gebracht. Zunächst ging es uns um die Schärfung des Profils durch inhaltliche Konzentration auf die Themen, die uns in der gegenwärtigen Situation besonders wichtig waren.
In einer gemeinsamen Klausur wurden einmal im Jahr die größeren Linien festgelegt und auf die Jahresplanung heruntergebrochen. Dabei haben wir Verknüpfungen gesucht zu den jeweiligen Jahresthemen des Deutschen Caritasverbandes, z. B. im Blick auf die wachsende Armutsproblematik, die Förderung des Ehrenamtes in den damals entstehenden Freiwilligenzentren als wichtiger Baustein im bürgerschaftlichen Engagement unserer Gesellschaft, die Gesetzgebung auf Bundesebene durch das Pflegeversicherungsgesetz.
Dabei hatten wir die "Nutznießer" von "caritas in NRW", die Leserinnen und Leser und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den verschiedenen Caritas-Einrichtungen, besonders im Blick. Wir waren bestrebt, die Identifikation mit der Caritas zu stärken und die Themen der Jahreskampagnen der deutschen Caritas auf der regionalen Ebene unserer fünf NRW-Bistümer kontinuierlich zu reflektieren.
Sinkende Zuschüsse erforderten mehr Effizienz
In einer Zeit, in der die öffentlichen Zuschüsse gedeckelt oder reduziert wurden, musste sich die Caritas den Effizienzkriterien der übrigen Anbieter sozialer Dienstleistungen stellen. Dabei war für uns das kirchliche Profil in den jeweiligen Bereichen besonders wichtig, z. B. in den Hospizeinrichtungen. Die spezifische pflegerische Zuwendung in der letzten Lebensphase sollte durch eine sinnstiftende Begleitung in der Seelsorge gestützt werden.
Die Leserorientierung wurde auch in sehr praktischen Hilfen z. B. im "Recht-Informationsdienst" deutlich, ergänzt durch Informationen aus den einzelnen Diözesan-Caritasverbänden, durch neue Initiativen, die exemplarische Möglichkeiten der Entwicklung aufzeigen sollten.
Hilfe für Kinder in der Ukraine
Gerade im Blick auf die aktuelle Situation des Ukraine-Krieges durch die russische Armee ist mir eine gemeinsame Aktivität der Caritasverbände von Aachen, Essen, Münster und Paderborn in lebhafter Erinnerung. Im April 1996, sechs Jahre nach der Wende und zehn Jahre nach der Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl, unternahmen wir eine Reise mit Pressevertreterinnen und -vertretern und den Öffentlichkeitsreferenten in die Ukraine. Konkreter Anlass war die Einweihung eines Kinder- und Jugenderholungszentrums in Jablunitsa am Fuße der Karpaten im südwestlichen Zipfel der Ukraine in unmittelbarer Nähe der rumänischen Grenze. Die ersten Vorboten des Frühlings zeichneten sich ab im Auftauen des tief vereisten Bodens, auf dem wir uns nur in Gummistiefeln bewegen konnten. Da das Gelände mit sehr ansprechenden Holzhütten zur Unterbringung der strahlengeschädigten Kinder und Jugendlichen vorher durch eine illegale Schnapsbrennerei genutzt wurde, mussten Verhandlungen zur Sicherung des Geländes mit den bisherigen "Nutzern" geführt werden. Der griechisch-katholische Bischof der Eparchie Kolomyia-Czernowitz weihte das Zentrum mit dem Glanz der byzantinischen Liturgie ein, begleitet von seinem Generalvikar Grigori Simkailo und seinem Weihbischof Stanislaw Schyrokoradjuk, dem heutigen Bischof von Odessa-Simferopol, der von einem kräftigen Bodyguard begleitet wurde in einer ausgebeulten Bomberjacke, unter der sich erkennbar einige Revolver abzeichneten.
Danach fuhren wir mit einem Bus, dessen Reifenprofil gen null tendierte, nach Kiew. Da der Rückwärtsgang nicht mehr funktionierte, mussten die Insassen bei Bedarf einer Rückwärtsbewegung den Bus verlassen und mit vereinten Kräften das Vehikel in die entsprechende Richtung anschieben. In Kiew wurden wir durch Vermittlung einer Gruppe aus Trier vom ukrainisch-orthodoxen Patriarchen Filareth in Audienz empfangen, der aus der Sicht des russisch-orthodoxen Moskauer Patriarchen als Apostat, also als Abtrünniger, betrachtet wurde. Da ein gemeinsames Foto aus dem Audienzsaal des Patriarchen in den lokalen Medien der beteiligten Bistümer erschien, erhielten wir in Aachen aus dem Moskauer Patriarchat die Anfrage, ob ich als Spion des Vatikans bei Filareth, dem Erzfeind Moskaus, eingeschleust worden sei - für mich eine völlige Überraschung, da ich außer dem Trinkspruch kein Wort Russisch oder Ukrainisch verstand.
Später nahmen wir an der Gedenkfeier des zehnjährigen Ereignisses der Tschernobyl-Katastrophe auf dem Maidan-Platz in Kiew teil. Ein heftiger Platzregen zwang uns, unsere weiß-roten Caritasschirme aufzuspannen. Wer so sichtbar Farbe bekennt, war der öffentlichen Aufmerksamkeit gewiss.
Caritas als Markenzeichen für die Kirche
50 Jahre "caritas in NRW" - ein denkwürdiges Jubiläum, zu dem ich die nordrhein-westfälischen Caritasverbände herzlich beglückwünsche. Ich tue dies nicht ohne Stolz, für wenige Jahre selbst Mitgestalter gewesen zu sein.
Was wünsche ich für die Zukunft? Wichtig sind mir die "Bodenhaftung" und die Nähe zu den Playern vor Ort, den beruflichen wie auch den ehrenamtlichen. Die Caritas ist und bleibt - so hoffe ich - ein wichtiges Markenzeichen für die Kirche, die immer mehr an Relevanz in unserer Gesellschaft verliert und nicht nur an Mitgliedern, deren Zahl weiter zurückgeht. Gerade die schon länger als zwei Jahre andauernde Corona-Pandemie zeigt, dass Menschen der Caritas oft als Einzige den Vereinsamten und Isolierten Nähe und menschliche Hilfe und Begleitung gezeigt haben.
Sollte ich "caritas in NRW" einen Wunsch für die Zukunft auf den Weg geben, so möchte ich dies im Blick auf die aktuelle Situation der Kirche mit Worten des hl. Franz von Assisi tun, die auch für die Caritas heute gültig sind. Wenn wir heute so viel von der Reform der Kirche sprechen und dies unter hohem Aufwand und in zahlreichen Foren und Gremien diskutieren und vorantreiben, bei Franz von Assisi finden wir ein Programm für eine erneuerungsbedürftige Kirche. Hier sollte sich "caritas in NRW" aktiv beteiligen. Dieses Programm ist sehr konkret, sehr nah an den Menschen, ein Programm nicht nur der Worte, sondern der helfenden Tat vor Ort: "Wunden heilen, Verletzungen verbinden, Verlorenen zurückhelfen, Traurigen Mut machen ... Den Frieden aber, den ihr anderen verkünden wollt, müsst ihr zunächst selber im Herzen haben" - ein Mut machendes Wort für heute, für die aktuelle Situation, aber auch für die nächsten 50 Jahre von "caritas in NRW".
Dieser Beitrag erschien zuerst im November 2022 in einer Sonderausgabe der Zeitschrift "caritas in NRW" aus Anlass des 50jährigen Erscheinens.