Hey, Siri! – Die Pflegerin ist da
An den Wänden hängen Geweihe und ausgestopfte Raubvögel. Neben Landschaftsbildern in barocken Rahmen flackert das Kaminfeuer. Es ist mollig warm in der zu einem Wohnhaus umgebauten Jagdhütte irgendwo im Oberbergischen Kreis. "Morgen, Frau Weber*!", ruft Siri durch ihre Maske, nachdem sie erst geklingelt und dann die Haustür aufgeschlossen hat.
Die ambulante Pflegerin der Caritas Oberberg verstaut ihren dicken Schlüsselbund in der roten Caritas-Jacke. Dann setzt sie sich an den Esstisch, wo Margot Weber mit dem Blutzucker-Messgerät auf sie wartet. "Da biste endlich mal wieder, Siri!", sagt die 86-jährige Dame erfreut. "Haben Sie mich etwa vermisst?", fragt Siri, die eigentlich Süreyya Kurca heißt, 32 Jahre alt ist und seit mehr als zwölf Jahren in der Altenpflege arbeitet. Gelernt hat sie in einem Pflegeheim. Nach ihrem Examen wechselte sie in den ambulanten Dienst. Ihren Spitznamen trug sie schon, da war Apples digitale Sprachassistentin Siri noch gar nicht auf dem Markt.
Bei Margot Weber geht es schnell. Ein Piks in den Finger, ein Tropfen Blut auf das Messgerät, anschließend eine Insulin-Gabe in den Bauch und Hilfe beim Überziehen der Stützstrümpfe. Das sind hier Siris Aufgaben. Keine zehn Minuten dauert der Einsatz, dann ist die kleine, energische Frau schon wieder durch die Tür.
Margot Weber ist Siris zweite Kundin an diesem Morgen. Begonnen hat ihre Schicht um 6.12 Uhr in der Caritas-Pflegestation in der Wipperfürther Innenstadt. Genau fünf Minuten, so will es der Zeitplan, hatte sie Zeit, um sich für ihre heutige Tour auszurüsten. Sie nimmt die Umhängetasche mit Einmalhandschuhen, Medikamenten und Ersatzmasken aus dem Regal. Dann öffnet sie den Schlüssel-Safe und greift aus den mehr als 200 Schlüsseln mit Nummern auf bunten Anhängern zielgenau die zehn heraus, die sie für die zehn Kundinnen und Kunden ihrer heutigen Tour benötigt. Nur Sekunden später sitzt sie in ihrem roten Dienst-VW mit der Aufschrift Pflegedienst Caritas Wipperfürth.
Drei ambulante Pflegedienste betreibt die Caritas Oberberg. 91 Mitarbeitende - darunter auch Beschäftigte in der Hauswirtschaft und in der Palliativpflege - versorgen 425 Menschen. Und weil der Oberbergische Kreis eine so große und ländlich geprägte Region ist, wohnen die Pflegebedürftigen weit auseinander. "Die Zahl unserer Kundinnen und Kunden steigt stetig", sagt Jonas Lamsfuß, Leiter der Pflegestation in Wipperfürth. Das liege vor allem daran, dass viele ihre Angehörigen so lange wie möglich zu Hause pflegen (lassen) wollen. "Hinzu kommen ständig steigende Kosten für Pflegeheime", so Lamsfuß.
Siri sagt lieber Patienten als Kunden. "Das klingt näher und wärmer", meint sie, während sie zu ihrer nächsten Station fährt, ihre Musik-Playlist immer dabei. Gerade laufen die "Vier Jahreszeiten" von Vivaldi. "Klassische Musik holt mich so schön runter", sagt sie. Ihr Diensthandy mit der Pflege-App "Snap Ambulant" und dem Navi klemmt in der Halterung vor ihr. Ihre Tour kennt sie auswendig. Trotzdem ist das Handy ihr permanenter Begleiter. "Jeder Name, jedes Dokument, jede wichtige Adresse oder Telefonnummer ist da drin." Die Caritas Oberberg hat die ambulante Pflege fast vollständig digitalisiert. Siri sagt, das spare Zeit und sei ganz in ihrem Sinne. Sie weiß aber auch, dass sich vor allem ältere Kolleginnen manchmal noch schwertun mit der papierlosen Dokumentation.
Nach jedem Besuch drückt Siri einen Häkchen-Button in der App. Auch beim Ehepaar Roller* ist das so. Sowohl die 85-jährige Gisela Roller als auch ihr 91-jähriger Ehemann Heinz brauchen ihre Hilfe. "Kompressionsverband wechseln, Schilddrüsentablette verabreichen" steht auf dem Display. Aber auch, dass sie den Mann heute duschen muss. Weil er schlecht zu Fuß ist, hilft sie ihm in den Treppenlift und begleitet ihn nach oben ins Badezimmer. Eine halbe Stunde hat sie für alles Zeit - ungefähr. Zwar sind die Zeiten für die einzelnen Aufgaben vorgegeben, eine erfahrene Kraft wie Siri kann sich die Abläufe aber sehr gut selbst einteilen. Bei der einen Patientin geht es schneller, bei dem anderen dauert es etwas länger. "Unter Druck fühle ich mich selten", sagt sie. Bei den Rollers ist nach getaner Arbeit sogar noch Zeit für einen Plausch am Küchentisch. Der Bauer will wissen, warum Siri, deren Großeltern in der Türkei geboren wurden, vor einigen Wochen ihr Kopftuch abgelegt hat. Sie sagt: "Weil ich es so wollte." Er: "Hast du auch deinen Glauben geändert?" Sie: "Nein, warum?" Er: "Du warst auch mit Kopftuch immer willkommen."
Siri fühlt sich wertgeschätzt, manchmal sehnsüchtig erwartet. Wer sie fragt, was sie an ihrem Job so liebt, der bekommt diese Antwort: "Die Dankbarkeit der Menschen, die mich in ihre privaten Räume lassen und mir vertrauen."
Bei Elisabeth Bernburg* und ihrem an Demenz erkrankten Mann Alfons muss Siri nicht klingeln. Die Tür öffnet sich, als Siri aus dem Auto steigt. "Hey, Siri! Wir haben dich schon erwartet", sagt die Frau und fährt fort: "Siri ist manchmal der einzige Kontakt am Tag, den mein Mann und ich haben." Das Ehepaar, beide weit in den 80ern, wohnt etwas außerhalb einer Siedlung. Elisabeth Bernburg kann ihren orientierungslosen Mann kaum noch allein zu Hause lassen. Damit Siri, die den Mann heute wäscht und mit einer wohltuenden Lotion einreibt, nicht sofort wieder fährt, bietet sie ihr einen Cappuccino an. Siri entscheidet sich für ein Wasser und bleibt noch fünf Minuten.
Diese Gespräche am Rande, sagt Siri, seien auch deshalb wichtig, weil sie sich so ein besseres Bild von den Menschen machen könne - vor allem über sich verändernde Verhaltensweisen. "Wenn ich den Eindruck habe, da baut jemand ab, oder die demenzielle Erkrankung wird schlimmer, dann spreche ich anschließend mit den Angehörigen: Leute, ihr müsst was unternehmen!" Die meisten hörten auf sie. Und wenn nicht? "Ich lasse nicht locker!", sagt sie und fügt lächelnd hinzu, dafür sei sie schließlich da. Neulich rief sie den Notarzt, weil eine Patientin über Hüftschmerzen klagte. Wie sich herausstellte, hatte die Frau einen Oberschenkelhalsbruch erlitten.
Bis vor wenigen Jahren hat Siri ihre kranke Großmutter gepflegt. Ihre Mutter sage ihr ständig, dass sie ein Helfersyndrom habe. Sie meine das anerkennend. "Man darf keine Scheu vor anderen Menschen haben, wenn man diesen Job macht." Mit ihrer 75-Prozent-Stelle bleiben ihr am Monatsende 2100 Euro brutto. Das sei nicht viel. "Trotzdem möchte ich nichts anderes machen."
Zehn Minuten früher als geplant, ist sie zurück in der Pflegestation. Schnell Tasche und Schlüssel zurückräumen, ein kurzer Plausch mit dem Chef, dann hat sie frei. Morgen wird sie wieder um fünf Uhr aufstehen und um kurz nach sechs Uhr in die Pflegestation kommen, um Tasche und Schlüssel wieder aus den Schränken zu holen. Anschließend wird sie alle ihre Patientinnen und Patienten wieder sehen. Und sie alle werden sich wieder auf Siri freuen und sagen: Hey, Siri! "Das gibt doch ein schönes Gefühl!", sagt die Pflegerin.
Tragende Säule des Pflegesystems
Ende 2019 waren in Nordrhein-Westfalen laut Landesregierung 965000 Menschen pflegebedürftig. Mehr als 80 Prozent von ihnen wurden zu Hause versorgt und wiederum ein Viertel davon (gut 200000) von einem ambulanten Pflegedienst. Die Verbände und Organisationen der Caritas im Erzbistum Köln (darunter auch Orden, Pfarrgemeinden und Krankenhausträger) unterhalten 74 ambulante Pflegedienste. Sie versorgen - mit mehr als 2000 Mitarbeitenden - rund 13000 Kundinnen und Kunden.