Wird die Pflegesituation jetzt besser?
2018 haben Wissenschaftler mit der "Beschattungsmethode" den Personalbedarf in der Pflege ermittelt. Es wurden Daten von 1380 Pflegebedürftigen in vollstationären Einrichtungen erhoben. 241 speziell geschulte Pflegefachpersonen „beschatteten“ in einer Eins-zu-eins-Zuordnung das Pflegepersonal.Foto: Achim Pohl
Schon im Jahr 2016 hatte der Deutsche Bundestag mit dem zweiten Pflegestärkungsgesetz dem Pflegeversicherungsrecht einen Paragrafen hinzugefügt (§ 113c, SGB XI), der mehr Tempo machen sollte bei einer an wissenschaftlichen Standards orientierten Personalbemessung in der Pflege. Bis zum 30. Juni 2020 sollte demnach ein wissenschaftlich fundiertes Verfahren zur einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs in Pflegeeinrichtungen nach qualitativen und quantitativen Maßstäben entwickelt und erprobt sein. Das SOCIUM Forschungszentrum der Universität Bremen wurde mit der Entwicklung beauftragt. Den Abschlussbericht hatte es fristgerecht dem Qualitätsausschuss und dem Bundesministerium eingereicht. Zu einer Erprobung des Verfahrens kam es jedoch nicht. Daher hat der Gesetzgeber zum Ende der vergangenen Legislaturperiode mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) nun eine sogenannte Konvergenzphase ab Juli 2023 bis zum Jahr 2025 beschlossen, in der das Instrument der Personalbemessung erprobt werden soll. Vor allem für die vollstationären Pflegeeinrichtungen werden die damit verbundenen Herausforderungen groß sein. Aber auch für die ambulanten Pflegedienste werden sich Konsequenzen ergeben.
Konvergenzphase zur Auswertung
Was ist im Vergleich zum bisherigen Verfahren an der nun geltenden Personalbemessung neu?
- Statt der bisherigen Landesregelungen gibt es bundeseinheitliche Rahmenvorgaben.
- Statt der pauschal festgelegten Fachkraftquoten in den Bundesländern werden Qualifikationsvorgaben für einzelne Aufgabenbereiche vorgegeben.
- Als erste Stufe der neuen Personalbemessung wurden ab 1. Januar 2021 bundesweit rund 20000 Stellen für Pflegeassistenzkräfte zusätzlich über die Pflegekassen gefördert.
- Besondere Stellenanteile für Leitung, Sozialen Dienst und Qualitätsmanagement sowie Stellenanteile für Verwaltung und Hauswirtschaft, Küche sowie Haustechnik werden in den Rahmenverträgen der Bundesländer festgelegt.
- Die Auswertung der Erprobung in der Konvergenzphase soll einer Anpassung der Vorgaben dienen, sodass ab 2025 alle vollstationären Pflegeeinrichtungen entsprechend angepasste Rahmenvorgaben erhalten.
- Für besondere konzeptionelle Ausrichtungen sollen abweichende Personalbedarfe berücksichtigt werden können.
Neue Pflegefachassistenten
In den kommenden Jahren stehen die vollstationären Pflegeeinrichtungen wegen der Personalbemessung vor folgenden Herausforderungen:
- Sie müssen einen kompetenz- bzw. qualifikationsorientierten Personaleinsatz im Bereich Pflege und Betreuung entwickeln und erproben.
- Sie müssen die Eignung der Fachkräfte überprüfen, ob sie geeignet sind, die gemäß § 4 Pflegeberufegesetz vorgegebenen Vorbehaltsaufgaben für Pflegefachkräfte zu übernehmen.
- Sie müssen Pflegefachassistentinnen und -assistenten mit dem Qualifikationsniveau 3 ausbilden, gewinnen oder binden oder vergleichbaren Qualifikationsabschlüssen Bestandsschutz gewähren, um dem überwiegend in diesem Qualifikationsniveau größeren Personalbedarf zu entsprechen.
- Es ist absehbar, dass die zusätzlichen Fachkraftstellen (§ 8 Abs. 6 SGB XI), die sogenannten 13000 "Spahnstellen", und die zusätzlichen 20000 Pflegehilfskräfte (§ 8 Abs. 9 SGB XII) wegen der Personalbemessung verrechnet werden.
- Die zusätzlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Betreuung (§ 43b SGB XI) werden nach Einführung der bundeseinheitlichen Personalbemessung beibehalten.
- Es bleibt, bis die Bundesländer in den Rahmenverträgen Festlegungen getroffen haben, die Unsicherheit für die ergänzenden Stellen außerhalb der direkten Pflege und Betreuung für die Bewohnenden.
"Eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung ist notwendig!"Foto: Edyta Pawlowska/photocase.de
In Anbetracht der aktuell weiterhin bestehenden Pandemie scheinen die Herausforderungen durch die neue Personalbemessung in der stationären Pflege für alle Beteiligten eine Überforderung darzustellen. Aber es bleibt die Hoffnung, dass die neue Personalbemessung die Lebensbedingungen der Menschen mit pflegerischem Hilfebedarf sowie die Arbeitsbedingungen für die professionell Pflegenden grundlegend verbessert.
Die Verantwortlichen für die ambulanten Pflegedienste sehen mit Sorge, dass für diesen Bereich bislang kein analoges Verfahren zur Verbesserung der Personalbemessung erarbeitet wurde. In der Entwicklung des Verfahrens für die vollstationären Pflegeeinrichtungen wurde zwar ein Teilprojekt an die Hochschule Osnabrück vergeben, jedoch konnte aufgrund der sehr begrenzten Mittel für dieses Teilprojekt nur festgestellt werden, dass das avisierte Verfahren für den vollstationären Bereich nicht auf die ambulante Pflege übertragen werden kann.
Eines ist klar: Niemand möchte, dass es keine Verbesserungen in der vollstationären Pflege gibt. Dennoch ist nun bei ungleich attraktiveren Arbeitsbedingungen in der stationären Pflege zu befürchten, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich diesen entsprechend attraktiveren Bereich aussuchen und die ambulante Pflege das Nachsehen hat. In Zeiten des Mangels an qualifizierten Fach- und Hilfskräften ist das ein entscheidender Wettbewerbsfaktor. Die Möglichkeiten der Ausbildung in ambulanten Pflegediensten ist zudem aufgrund der Eins-zu-eins-Begleitung der Auszubildenden erschwert. Und darüber hinaus ist der Sinn des Aufwands für die ambulanten Dienste bei der Ausbildung von Pflegefachassistentinnen und -assistenten (Qualifikationsniveau 3) eher zweifelhaft. Denn diese Assistenzkräfte können nach der Ausbildung nicht für alle Leistungen, insbesondere der häuslichen Krankenpflege nach dem fünften Sozialgesetzbuch, eingesetzt werden.
Es gilt, die Pflege für alle Menschen mit entsprechenden Bedarfen dauerhaft zu sichern. Ob die Einführung der avisierten neuen Personalbemessung in diesem Zusammenhang ausreichend ist, darf bezweifelt werden. Eine umfassende Reform der Pflege ist weiterhin zwingend erforderlich. Und die Abkehr vom Sektorendenken und von der Versäulung der Leistungsangebote muss tatsächlich in einer konzertierten Aktion entwickelt werden.
"Die ambulanten Pflegedienste befürchten, dass sie beim Wettbewerb um Fachkräfte das Nachsehen haben."
Stephan Reitz