Perspektiven für "die Polin"
Der Vater von Martina M. wird von einer Polin versorgt. Sie kocht für den 91-Jährigen, putzt und macht den Haushalt. Sie hilft ihm, wo immer es nötig ist, denn er kann sich nicht mehr selbst versorgen und nur mühsam mit dem Rollator laufen. Doch ob Renata - so heißt sie - auch in Zukunft das Versprechen der Vermittlungsagentur einlösen kann und rund um die Uhr parat steht, ist fraglich. Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts zum Mindestlohn für entsandte mittel- und osteuropäische Betreuungskräfte in Privathaushalten hat viele Pflegebedürftige und ihre Familien aufgeschreckt. Es sagt aus, dass die Bereitschaftszeit einer Betreuungskraft als Arbeitszeit zu bewerten ist und dafür entsprechend Mindestlohn gezahlt werden muss. Dieses Urteil ist an sich keine Überraschung, es bestätigt lediglich, dass geltendes Recht auch für aus dem Ausland entsandte Beschäftigte gilt. Es sorgt jedoch dafür, dass verstärkt - auch in der Politik - wieder über die sogenannte "24-Stunden-Betreuung" gesprochen wird. Verschiedene Stellen mahnen an, dass nun unbedingt Regelungen für die Beschäftigung der geschätzt mindestens 300000 bis 500000 Live-in-Kräfte in Deutschland gefunden werden müssen. "Endlich!", möchte man sagen. Unabhängig davon, wie man die Tätigkeit ausländischer Betreuungskräfte in Privathaushalten bewertet: Sie sind Teil der Versorgungsrealität, mit der wir umgehen müssen. Sie stopfen die Lücken, die von Angehörigen und Pflegediensten nicht mehr gefüllt werden können. Es ist daher dringend geboten, Rahmenbedingungen für diese Form der Beschäftigung festzulegen.
Osteuropäische Betreuungskräfte arbeiten zu fairen Bedingungen in deutschen Haushalten
Der Diözesan-Caritasverband Paderborn engagiert sich zusammen mit verschiedenen Orts-Caritasverbänden schon seit 2009 für die faire und legale Beschäftigung von Live-in-Betreuungskräften. Das Angebot CariFair sorgt dafür, dass die Betreuungskräfte aus dem Ausland zu fairen Bedingungen in Pflegehaushalten in Deutschland beschäftigt werden. Zweisprachige Koordinatorinnen begleiten das Arbeitsverhältnis vor Ort. Dabei ist die Familie der pflegebedürftigen Person Arbeitgeberin, die mit Unterstützung der Caritas einen Arbeitsvertrag mit festgelegter Arbeitszeit und Tarifgehalt mit der Hilfskraft schließt. "24-Stunden-Pflege" im häuslichen Umfeld gibt es bei CariFair nicht. Vielmehr gilt es, durch Einsatzpläne, die immer wieder geprüft und angepasst werden müssen, den Stundenrahmen für beide Seiten verbindlich zu gestalten. Individuelle darüber hinausgehende Bedarfe der Pflegebedürftigen werden mithilfe begleitender Angebote, wie z. B. der Tagespflege, abgedeckt. Auch Angehörige, der Hausnotruf und niederschwellige Betreuungsangebote werden in das Setting einbezogen. Zur sicheren pflegerischen Versorgung ist die Sozialstation verbindlich beteiligt.
Bei CariFair werden etwa 300 Familien und die von ihnen beschäftigten Betreuungskräfte begleitet. Neben dem Angebot der Caritas gibt es einige Hundert Agenturen in Deutschland, die Hilfen aus dem Ausland vermitteln. Der größte Teil der Beschäftigten, geschätzt etwa 90 Prozent, ist allerdings in Schwarzarbeit tätig, was für alle Beteiligten mit Risiken verbunden ist, sowohl pflegerisch als auch finanziell.
Wie soll also die Live-in-Betreuung in der Zukunft gestaltet werden?
Ein erster wichtiger Schritt wäre es, auf politischer Ebene einheitliche und verbindliche Rahmenbedingungen für die Beschäftigung dieser Betreuungskräfte festzulegen, an denen sich sowohl die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen als auch die Beschäftigten orientieren können. Dazu gehören etwa Vorgaben über die Rechtsform der Beschäftigung, den notwendigen Versicherungsschutz für Betreuungskräfte, deren Qualifikation, die Beteiligung eines professionellen Pflegedienstes und eine angemessene Information beider Parteien. CariFair könnte eine hilfreiche Blaupause sein.
Des Weiteren müssen Familien finanziell entlastet werden, um eine legale und faire Beschäftigung finanzieren zu können. Dafür könnte die Pflegeversicherung Lohnzuschüsse für legal beschäftigte Betreuungskräfte durch die Umwandlung von Pflegesachleistungen zahlen. So könnte die finanzielle Differenz zwischen Schwarzarbeit und legaler Anstellung deutlich reduziert werden, und es wäre eine große qualitative Verbesserung für die Familien.
Langfristig geht es um die Frage nach dem generellen Umgang mit dieser Form der Beschäftigung. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen greifen oftmals schlicht aus Not auf eine Live-in-Kraft zurück, weil sie aufgrund fehlender Angebote oder hoher Kosten die Pflege im benötigten Umfang nicht selbst erbringen können. Hier sind die seit Langem von allen Seiten geforderten grundlegenden Reformen in der Pflegeversicherung anzugehen und neue Wege in der Pflege zu entwickeln. Dazu gehören zum Beispiel eine unabhängige und verlässliche Begleitung und Beratung bei Pflegebedürftigkeit, die Begrenzung der Pflegekosten für die Betroffenen und vor allem die Unterstützung und Entlastung pflegender Angehöriger. Pflege sollte Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge sein, damit Pflegebedürftige und ihre Angehörigen vor Ort die für sie geeigneten Angebote finden und im besten Falle so leben können, wie sie es sich wünschen. Insgesamt fehlt es an Händen in allen Bereichen. Die Sorge für eine angemessene Unterstützung hilfs- und pflegebedürftiger Menschen ist eine Aufgabe, an der sich alle beteiligen müssen. Dann wäre es möglich, die immer weiter wachsende Nachfrage nach Betreuungskräften aus dem Ausland zumindest zu begrenzen.