"Wir brauchen mehr Planbarkeit und Beständigkeit"
Caritas in NRW Was sind die wichtigsten Anliegen der Menschen, die Sie beraten?
Bettina Beusing: Die Themen und Fragestellungen sind so vielfältig wie die Menschen, die zu uns kommen. Bei neu eingereisten Zugewanderten geht es in der Anfangsphase häufig um die Kernthemen Aufenthalt, Wohnen, Existenzsicherung und Sprachförderung. Anschließend sind Integrationsthemen wie Beschäftigung, (Aus-)Bildung, Schule, Berufsanerkennung und die soziale Integration ins Umfeld für viele Menschen wichtig. Tiefer gehender Spracherwerb, Schul- und Kindergartenbesuch der Kinder und bei den Geflüchteten Aufenthaltsverfestigung und Familiennachzug sind ebenfalls Themen, zu denen wir viel beraten.
Caritas in NRW: Die Caritas Bottrop betreibt einen Jugendmigrationsdienst. Was ist aus den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (umF) von 2015 geworden, die inzwischen fünf Jahre älter sind?
Bettina Beusing: Neben den normalen Themen eines jeden jungen Menschen spielen die Themen Qualifizierung (Schule, Ausbildung, Studium), Arbeit und Zukunftsplanung bei ihnen eine größere Rolle. Bis zur Volljährigkeit sind sie über die Jugendhilfe aufgefangen und aufenthaltsrechtlich sicher. Mit der Volljährigkeit ändert sich dies. Aufenthalt, Auszug aus der Wohngruppe, eigenverantwortliches Kümmern, Ausbildung und Arbeit bekommen eine gravierende Rolle - bei vielen umF hängt davon eine Bleibeperspektive in Deutschland ab. Das stellt viele vor große Herausforderungen, und das Angebot des Jugendmigrationsdienstes wird besonders wichtig. Hinzu kommt das Thema Familie. Häufig sind die Jugendlichen von ihren Familien "auf den Weg" nach Deutschland gebracht worden. Die Familien sind ein hohes Risiko eingegangen, emotional wie finanziell. Oft ist damit die Hoffnung verbunden, dass der umF von Deutschland aus die Familie im Herkunftsland unterstützt oder auch ggf. nachholt. Diesen Druck tragen die jungen Menschen bei allen Entscheidungen immer mit.
Caritas in NRW: Fünf Jahre nach dem "Wir schaffen das!" - ist die Integration der zu uns Geflüchteten gelungen?
Bettina Beusing: In den letzten Jahren ist viel passiert - sowohl rechtlich, bei den Förderprogrammen als auch in der Willkommenskultur. Es gab viel Positives, aber auch einiges Schweres, womit die Geflüchteten und auch die Helfersysteme wie wir klarkommen mussten. Definitiv gab es viel Veränderung, Arbeit und Bewegung.
Ich sehe Integration als einen Prozess. Im Sport kann man ihn mit einem Langstrecken- oder Marathonlauf vergleichen. Und meiner Einschätzung nach ist das "Wir schaffen das!" das Ziel, auf das die Geflüchteten wie auch wir als aufnehmende Gesellschaft uns hinbewegen.
Caritas in NRW: Was wünschen Sie sich von der Politik?
Bettina Beusing: Wichtig ist festzuhalten, dass der Beratungsbedarf bei allen Zuwanderergruppen nach wie vor hoch ist. Auch nach einer Aufenthaltssicherung gibt es viele Fragen und neue Herausforderungen auf dem Weg der Integration. Der qualifizierten Beratung kommt eine so große Bedeutung zu. Der Großteil der Menschen, die in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen sind, wird auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten mit uns leben. Es ist wichtig, aus Versäumnissen der Vergangenheit zu lernen und ihnen gute Start- und Integrationsbedingungen zu geben. Sprache und eine gute Arbeit schaffen Perspektiven für die Menschen. Ihnen kommt eine Schlüsselrolle zu. Passgenaue und zeitnahe Unterstützungsangebote für die Zuwanderer sind sehr wichtig. Ich wünsche mir auch eine gleiche Sicht auf die Gruppe der Zuwanderer und keine Clusterung zwischen den jeweiligen Flüchtlingsgruppen und im Verhältnis zu den sonstigen Zuwanderern. Als Leitung von Beratungsdiensten wünsche ich mir natürlich eine höhere Planbarkeit und Beständigkeit von Förderungen. Es ist sehr schwierig, mit stets kurzen Befristungen von Beratungsangeboten zu arbeiten und nicht zu wissen, ob wir die Dienste aufrechterhalten und Kolleginnen und Kollegen im nächsten Jahr noch beschäftigen können. Mehr Sicherheit und politische Zusagen wären für alle Seiten sehr hilfreich.
Fragen von Christoph Grätz
Nicht nochmal bei null anfangen
Zwischen den beiden Fotos liegen fünf Jahre, zwei Ausbildungen, die Geburt eines Kindes und der Versuch der Integration in Deutschland. 2015 gelangt die junge Familie Akbari, Aida, Javad und der einjährige Shahab, nach Deutschland. Aus dem Iran geflohen, gestrandet in Essen, beginnt die kleine Familie mit afghanischen Wurzeln mit den ersten Schritten in ein neues Leben. Sie finden schließlich eine Wohnung, beginnen Berufsausbildungen und schließen erste Freundschaften, Shahab geht in die Kita, das zweite Kind wird geboren.
Die Akbaris sind dankbar für die Unterstützung, die sie erfahren, dankbar auch für die Worte Angela Merkels: "Wir schaffen das!"
Wie weit dieses Versprechen für sie trägt, ist heute, 2020, allerdings ungewiss. Ihr Aufenthaltsstatus ist noch ungeklärt. Ihr größter Wunsch: ein Leben ohne Angst. Endlich ankommen, zu Hause sein und nicht noch mal bei null anfangen.