"Integration ist nicht einfach" (Teil 3)
Caritas in NRW: Wenn Sie Flüchtlingen erzählen, dass Sie selbst in der gleichen Situation wie sie gewesen sind, erleben Sie dann bei den Flüchtlingen Erleichterung?
Samer Qarqash: Viele sagen: ‚Ja, echt? Dann wissen Sie ja, was auf der Flucht passiert.‘ Und ich ermutige sie, zu sprechen und erkläre Ihnen dann, was wir auf Grundlage der Gesetze für sie in Deutschland tun können.
Caritas in NRW: Sie sind selbst Muslim und arbeiten bei einem katholischen Verband. War Ihnen das bewusst, als Sie hier angefangen haben?
Samer Qarqash: Ich habe als Muslim keine Probleme mit anderen Religionen und mit anderen Nationalitäten. In Syrien gibt es viele Religionen: Juden, Christen, Muslime, Yazidis, Drusen. Es gibt auch Atheisten. Ebenso gibt es dort viele Nationalitäten: Araber, Kurden, Armenier, Circassianer, Turkmenen, Assyrer und so weiter. Wir haben in einer Gemeinschaft gelebt. Deshalb habe ich damit keine Probleme.
Caritas in NRW: Wie gehen Sie mit Menschen um, die von der Flucht schwer traumatisiert sind?
Samer Qarqash: Viele Menschen haben das Gefühl, in großer Gefahr zu sein. Sie entwickeln Furcht, was zu Persönlichkeitsstörungen oder Schlafstörungen führen kann. Sie sind nicht mehr ausgeglichen, können nicht arbeiten, entwickeln gar Depressionen. Auch Suizide kommen dann leider vor. Ich hatte einen Klienten, der versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Beim SKM haben wir zum Glück das Psychosoziale Zentrum. Für Flüchtlinge, die derart schwer belastet sind, machen wir dort einen Termin aus, um ihnen gezielt helfen zu können. Solche Probleme treten meiner Erfahrung nach vor allem bei älteren Personen auf. Ich kannte einen Flüchtling, der 55 Jahre alt war. Er kam aus Syrien hierher, konnte kein Deutsch, musste aber arbeiten. Er hat sich hier nicht zurechtgefunden und ist in eine Depression gerutscht.
Caritas in NRW: Sicher ist es gut, wenn man mit den Menschen in Ihrer Muttersprache sprechen kann. Sie werden nicht alle Sprachen können, die im EAE vorkommen. Wie händeln sie das?
Samer Qarqash: Beim SKM gibt es Dolmetscher, die uns dann zur Seite stehen. In der Corona-Pandemie machen wir es so, dass wir den Dolmetscher per Telefon hinzuschalten. Wir schalten dann den Lautsprecher an und wir können ihn hören.
Caritas in NRW: Menschen kommen hier in einen für sie fremden Kulturkreis. Das ist eine große Herausforderung.
Samer Qarqash: Integration ist nicht einfach. Denn es gibt hier viele Kulturen. Es gibt nicht immer gute soziale Kontakte zwischen Deutschen und Geflüchteten und zwischen Geflüchteten oder Migranten unterschiedlicher Herkunft. Es gibt zum Beispiel keine Kontakte zwischen Arabern und Polen. Das ist ein Problem. Wir sind hier aber in Deutschland, sitzen alle in einem Boot, und Menschen unterschiedlicher Herkunft müssen sich begegnen. Zwar gibt es zahlreiche Programme, aber es sind zu wenige.
Caritas in NRW: Was macht es schwer, sich in Deutschland zurechtzufinden?
Samer Qarqash: Wenn man nach Deutschland flüchtet, weiß man nicht, was hier wirklich los ist. Es gibt in vielerlei Hinsicht ein völlig anderes System als in vielen der Herkunftsländer der Flüchtlinge. Ein Beispiel sind Steuern. Ein anderes sind Briefe. In manchen Ländern gibt es keine Briefe, da läuft alles über Mail. In Deutschland kommt ein Bescheid vom Jobcenter zum Beispiel mit der Post. Wenn man das nicht weiß, den Brief nicht öffnet oder ihn öffnet, aber den Inhalt nicht versteht und nichts tut und daher Fristen verstreichen lässt, bekommt man möglicherweise Strafen.
Caritas in NRW: Sind wir ein Volk, das Menschen wirklich willkommen heißt? Machen wir es den Flüchtlingen zu schwer?
Samer Qarqash: Nordrhein-Westfalen nicht. Aber in einigen östlichen Bundesländern ist das anders, wie ich gehört habe. Ein Bekannter von mir, der mich in Mönchengladbach besuchte, hat mir gesagt: "Die Kassiererinnen beim Aldi sind Flüchtlingen gegenüber viel freundlicher als in den neuen Ländern." Ich denke: Zu wenige Deutsche kümmern sich in ihrem täglichen Leben um Flüchtlinge. 2013, 2014 war das Engagement sehr groß, aber das wurde immer weniger. Und das halte ich für ein Problem, weil es das gegenseitige Kennenlernen, das für die Integration so wichtig ist, unnötig erschwert. Und es fehlt oft das Verständnis für die psychische Situation vieler Geflüchteter.
Caritas in NRW: Wie meinen Sie das?
Samer Qarqash: Nehmen wir einmal einen Geflüchteten, der weiß, dass seine Familie in der Heimat im Krieg lebt. Wie soll dieser Flüchtling hier gut Deutsch lernen? Der hat doch seine Gedanken ganz woanders. Er hat Stress, weil er weiß, dass es seiner Frau, seinen Kindern dort im Krieg nicht gut geht. Und wenn dann noch hinzukommt, dass die Familie untereinander keinen Kontakt hat, weil es die Situation einfach nicht zulässt, wird die ganze Sache noch schlimmer. Oder nehmen wir einmal einen Flüchtling, 55 Jahre alt. Er hat Mühe, Deutsch zu lernen. Er kann nicht studieren. Und das Jobcenter sagt den Flüchtlingen: Ihr müsst arbeiten. Aber wie?