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Lasst uns alle Gutmensch sein

Motiv: Helfer von Caritas international mit einem Betroffenem in einem Katastrophengebiet Mit Caritas international leistet der Deutsche Caritasverband Not- und Katastrophenhilfe auf allen fünf Kontinenten und steht so für die weltweite Solidarität. Das Plakatmotiv zeigt das Gespräch eines lokalen Caritas-Mitarbeiters mit einem Betroffenen eines Tsunamis in Indonesien (2018).© Deutscher Caritasverband e. V./Sebastian Pfütze

2015 wurde "Gutmensch" zum Unwort des ­Jahres gekürt. Eine Jury aus vier Sprachwissenschaftlern und einem Journalisten erinnerte in der Begründung daran, dass das Wort schon seit Langem verwendet werde, doch "im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsthema besonders prominent geworden war" . Im Jahr 2011 war "Gutmensch" auf Platz zwei gelandet.

In der Begründung führte die Jury weiter aus: "Mit dem Vorwurf ,Gutmensch‘, ,Gutbürger‘ oder ,Gutmenschentum‘ werden Toleranz und Hilfsbereitschaft pauschal als naiv, dumm oder weltfremdes Helfersyndrom diffamiert. Der Ausdruck ,Gutmensch‘ floriert dabei nicht mehr nur im rechtspopulistischen Lager als Kampfbegriff, sondern wird hier und dort auch schon von Journalisten in Leitmedien benutzt. Die Verwendung dieses Ausdrucks verhindert somit einen demokratischen Austausch von Sachargumenten."

Unwörter entstehen im Gebrauch

Interessant ist, sich die Intention des Unworts des Jahres zu vergegenwärtigen. Auf der Website findet sich unter der Überschrift "Die Grundannahme: Unwörter entstehen im Gebrauch" das Anliegen: "Sprachliche Ausdrücke werden dadurch zu Unwörtern, dass sie von Sprechern entweder gedankenlos oder mit kritikwürdigen Intentionen verwendet werden, und dies im öffentlichen Kontext … Die Kritik an ihnen ist Ausdruck der Hoffnung auf mehr Verantwortung im sprachlichen Handeln."

Das Unwort des Jahres wird auf Grundlage der Einsendungen von Bürgerinnen und Bürgern gewählt. 64 Personen hatten "Gutmensch" eingesendet, das am dritthäufigsten vorgeschlagene Wort im Jahr 2015. Diese Menschen waren offensichtlich nicht einverstanden mit der Verwendung dieses diffamierenden Begriffs.

Motiv: Eine Frau steht klatschend bei einer DemonstrationUlrike Ebert-Wenski ist Mentorin im Projekt "Zusammenhalt durch Teilhabe – gelebte Demokratie". Sie arbeitet hauptamtlich im Caritas-Zentrum Kaiserslautern in der Suchtberatung und ist auch privat politisch engagiert.© Deutscher Caritasverband e. V./Sebastian Pfütze

Jedes Gemeinwesen lebt (auch) von Menschen, die bereit sind, sich zu engagieren, sich für andere einzusetzen und zu helfen, wo Hilfe ­benötigt wird. Dieses gute Verhalten durch den Begriff "Gutmensch" herabzusetzen und verächtlich machen zu wollen, ist nicht akzeptabel.

Genau hier setzt die Kampagne der Caritas an. Mit der Aufforderung "Sei gut, Mensch!" lädt sie ein, aktiv zu werden. Das heißt, Menschen beizustehen, ganz konkret und auch politisch, die Unterstützung brauchen. Und sich entschieden gegen Herabsetzung und Diffamierung "guten Handelns" zu wehren.

Ganz wichtig ist, dass es nicht um den moralischen Zeigefinger geht. Es geht vielmehr darum, ins Bewusstsein zu rufen und daran zu erinnern, dass wir alle in der Verantwortung stehen für ein gelingendes Miteinander. Jede und jeder kann etwas tun. Und jede und jeder muss auch etwas tun.

Wir erleben aktuell eine Zeit heftiger Umbrüche. Digitalisierung und Globalisierung verändern gravierend die Arbeits- und Lebenswelt ­vieler Menschen. Verstärkt werden die Veränderungsprozesse durch Zuwanderung und Migra­tion. Themen, die auch in den kommenden Jahren virulent bleiben werden.

Dies alles führt dazu, dass sich viele Menschen verunsichert und orientierungslos fühlen. Sie ringen um den eigenen Platz in der Gesellschaft, oder sie haben Angst vor dem sozialen Abstieg. Sorgen und Unsicherheit führen dazu, dass die Bereitschaft zu Toleranz abnimmt und die Befürchtungen wachsen, vergessen oder gar "überrollt" zu werden. Für viele Menschen liegt die Lösung ­darin, sich abzugrenzen von anderen, sich skeptisch und ablehnend gegenüber Vielfalt zu zeigen und sich auf das Bekannte und Vertraute zu beschränken. Dies fördert den Zusammenhalt in einer Gesellschaft nicht. So entstehen Abschottung, Abwertung, Risse im sozialen Gefüge.

Wenn jeder eine "Insel" sein will ...

Ein Zeitungsartikel aus dem Jahr 2018, der sich mit dem Auseinanderdriften der Gesellschaft beschäftigt, ist überschrieben mit "Jeder will eine Insel sein". Die Autoren analysieren auf Grundlage der Arena Analyse 2018 "Wir und die anderen", wie die Idee der großen Gemeinschaft an Kraft verliert und die Menschen sich in immer kleinere Gruppen abgrenzen. So prägt die Angst vor dem Verlust des sozialen Miteinanders das Lebensgefühl vieler. Paradoxerweise schließen sich dann auf der Suche nach mehr ­Gemeinsamkeit kleinere Gruppen zusammen, die sich entschlossen nach außen abgrenzen.

Motiv: Drei Männer mit Trommeln sitzen mit einigen anderen Personen in einem WaldKlaus Böhm ist ein "Wunscherfüller". Er ist Fahrer in einem Busunternehmen. In seiner Freizeit organisiert und begleitet er Aktionen für das Caritas-Förderzentrum St. Laurentius und Paulus in Landau. Interessierte Bewohnerinnen und Bewohner des Zentrums hat er an eine bestehende Trommelgruppe vermittelt und begleitet sie dorthin.© Deutscher Caritasverband e. V./Sebastian Pfütze

Am sichtbarsten und zunehmend kritisch wahrgenommen findet sich diese Entwicklung in den sozialen Medien, wenn Menschen nur noch die Nachrichten lesen (können), die ihnen die Algorithmen von Facebook und Co. anbieten und die das jeweilige Weltbild entsprechend verfestigen. "Die wechselseitige Abgrenzung auf diesen Plattformen passiert nahezu automatisch durch die dahinterliegenden Algorithmen … Unmerklich zurrt der Zentralrechner die Scheuklappen immer enger."

Toleranz, Respekt und Solidarität: Sie sind der Schlüssel

Scheuklappen sind nicht hilfreich, um Vielfalt wahrzunehmen, Unterschiedlichkeit auszuhalten, den Konsens zu suchen. In einer diversen Welt, in der unterschiedliche Milieus, Kulturen, Nationen und Religionen es notwendig machen, sich in konstruktiver Weise auseinanderzusetzen und nach Konsens zu suchen, sind Toleranz und Respekt wichtig. Und ein fast altmodisch anmutender Begriff erfährt seine Renaissance: Solidarität.

Der Soziologe Heinz Bude sieht einen Unterschied zwischen Empathie und Solidarität: "Wer empathisch ist und jemanden versteht, muss noch lange nicht solidarisch sein." Solidarität ist für ihn ein "Modell der Symmetrie" , zu dem gehört, dass man das eigene Verhalten an das Verständnis seines Selbst bindet: "Zu ihrem Selbstverständnis gehört, in bestimmten Lagen zu teilen. Der Grundmodus ist nicht das Geben, sondern das Teilen."

Hier setzt die Caritas-Kampagne "Sei gut, Mensch!" an. Sie fordert zu solidarischem Verhalten mit Menschen in Not auf. Diese Solidarität kann sichtbar werden in konkretem Handeln, in konkreter Hilfe, und sie kann sichtbar werden in politischer Aktion und politischen Forderungen. Der Verweis auf das Leitbild des Deutschen Caritasverbandes bietet sich an. Hier ist zu lesen: Der Deutsche Caritasverband "setzt sich für Menschen ein, die am Rande der Gesellschaft leben, die öffentlich keine Stimme haben und die sich nicht selbst helfen können. Er verschafft ihren Nöten und Anliegen Gehör und unterstützt sie bei der Wahrnehmung ihrer Rechte. Er tritt gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen entgegen, die zur Benachteiligung von Einzelnen und Familien oder zur Ausgrenzung gesellschaftlicher Gruppen führen."

Motiv: Eine junge Pflegerin sitzt in einem Aufenthaltsraum mit einer Seniorin und einem Senior an einem Tisch und spielt ein BrettspielFranziska Riederle ist Fachdienstleiterin im Ernst-Ott-Seniorenzentrum in Ichenhausen/Günzburg. Sie steht für das hauptamtliche Engagement in der Caritas und zeigt, dass auch junge Leute in der Pflege etwas bewegen können.Deutscher Caritasverband e. V./Sebastian Pfütze

Im Rahmen der Caritas-Kampagne werden Menschen vorgestellt, die auf ganz unterschiedliche Weise empathisch und solidarisch sind mit anderen. Sie engagieren sich in der Not- und Katastrophenhilfe von Caritas international; sie verhindern, dass Lebensmittel auf dem Müll landen; sie fahren virtuelle Autorennen mit Senioren; sie begleiten trauernde Kinder und Jugendliche, und sie engagieren sich in Demokratie-Projekten. Sie arbeiten in Einrichtungen und Diensten der Caritas, sie engagieren sich ehrenamtlich und freiwillig bei der Caritas oder bei anderen Organisationen und Vereinen. Jede und jeder Einzelne von ihnen zeigt, dass man einen Beitrag leisten kann - ganz gleich wie groß oder klein er sein mag -, um das soziale Miteinander in unserer Gesellschaft und weltweit zu bewahren.

Gutmenschen sind nicht naiv

Alle sind "gute" Menschen. Das heißt aber keineswegs, dass diese Frauen und Männer und Jugendlichen naiv oder leichtgläubig sind, dass sie einfältig oder Träumer sind. Ganz im Gegenteil. Sie sind Menschen, die sich anrühren lassen; die anpacken können und wollen; die bereit sind, ihre Zeit, ihre Aufmerksamkeit und auch materielle Dinge zu teilen. Sie sind Menschen, die im Leben stehen, die Arbeit, Freunde und Familie haben und die dennoch Zeit und Kraft finden, für andere da zu sein. Mal in einem zeitlich befristeten Projekt, mal für mehrere Jahre, manchmal nur für eine Aktion. Sie wollen Verantwortung übernehmen über das eigene Umfeld hinaus. Ihnen ist wichtig, Schwachen eine Stimme zu geben. Ihnen ist wichtig, sich politisch zu engagieren.

"Gutmensch" wurde zum Unwort, weil dieser Begriff Hilfsbereitschaft und Toleranz diffamiert. Zudem hat die Jury darauf hingewiesen, dass der Begriff durch seine fehlende Sachlichkeit eine demokratische, gewinnbringende Diskussion verhindert. Die häufige und missbräuchliche Verwendung durch Populisten hat die negative Konnotation des Begriffs ermöglicht und verstärkt.

An dieser Stelle Widerstand zu leisten und den Versuch zu wagen, die Perspektive zu drehen - nicht nur mit Blick auf die Verwendung des Wortes "Gutmensch", sondern auch auf entsprechende Debatten -, ist auch ein Ziel der Kampagne. Es ist ein zugegebenermaßen ambitioniertes Vorhaben, das auch herausfordern wird. So werden wir uns im Kampagnenjahr 2020 darauf einstellen müssen, dass es Widerspruch und Häme geben mag. Wir müssen mit Verunglimpfung rechnen, mit Hass, mit übler Nachrede. Doch wir wollen ganz bewusst ein Zeichen setzen: Ein guter Mensch zu sein darf nicht verunglimpft werden.

Wir wollen die Bedeutung des Wortes drehen

Wir sind nicht allein mit diesem Anliegen. Dies zeigt zum Beispiel das Engagement der Toten Hosen. Die Punkband hat sich 2014 die Markenrechte für das Wort "Gutmensch" für die Verwendung von Merchandising-Produkten gesichert. In einem Interview sagt der Manager der Band, ­Patrick Orth: Eigentlich sei die Eintragung ein "interner Gag" gewesen. Schon seit Jahrzehnten werde versucht, Menschen, die sich gesellschaftlich engagierten, mit dem Wort zu diskreditieren, so Orths Begründung. "Um die Deutungshoheit zurückzugewinnen, hatten wir den Einfall, das Wort als Marke eintragen zu lassen." Und beim Caritas-Kongress im März 2019 in Berlin hat der Blogger "Gutmensch" zu den Themen und Anliegen der Caritas gebloggt.

So unterstützen auch andere das Bestreben, solidarisches Verhalten in der Gesellschaft nicht abwerten und verächtlich machen zu lassen. Die Caritas will mit der Kampagne ihren Beitrag gegen diese Diffamierung leisten. Wir wollen die Bedeutung des Wortes "drehen", wir wollen das Negative umkehren in das Positive. Das ist ein großer Anspruch, ob es gelingt, ist offen. Aber wir müssen es versuchen.

Gutes Leben für alle ist nur möglich, wenn der Zusammenhalt bewahrt wird, wenn Menschen füreinander einstehen. Dazu leisten die vielen Mitarbeitenden der Caritas in all den Einrichtungen und Diensten jeden Tag ihren Beitrag. Dies unterstützen viele Tausend Ehrenamtliche und Freiwillige in der Caritas und bei vielen anderen Verbänden, Vereinen und Organisationen. "Solidarität ist das einzige Mittel gegen Verbitterung", so Heinz Bude.

In diesem Sinn ist die Kampagne zu verstehen: gemeinsam mit vielen solidarisch handeln für den Zusammenhalt und ein gutes Miteinander. Sei gut, Mensch!



Materialien zur Umsetzung der Kampagne:

  • Plakate/Postkarten/Blow-up/Flyer
  • Web/Social Media
  • Pressemappen
  • Sozialpolitische Positionen
  • CKD-Handbuch für Ehrenamtliche

Mehr Informationen zur Caritas-Kampagne finden Sie unter:
www.SeiGutMensch.de und youtube.de/CaritasDeutschland



Sei gut, Mensch!

Cover der Sozialcourage Spezial zur Caritas-Kampagne 2020 mit dem Kampagnenmotiv aus der AltenpflegeFoto: Deutscher Caritasverband

Sozialcourage Spezial 2020

Der Begriff "Gutmensch" wird seit einigen Jahren despektierlich verwendet. Das Magazin Sozialcourage Spezial will deshalb - begleitend zur Caritas-Kampagne 2020 "Sei gut, Mensch!" - mit der Aufforderung zum "Gutsein" ein positives Zeichen setzen.

Die Zeitschrift porträtiert Menschen und Projekte, die anderen Gutes tun und speziell jene unterstützen, die unter besonders schwierigen Bedingungen leben und arbeiten. Die Geschichten und Porträts gehen unter die Haut und motivieren Ehrenamtliche wie Profis, sich für einen menschenwürdigen Umgang miteinander und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu engagieren.

Leserinnen und Leser finden neben Reportagen und Interviews auch Links und Hintergründe zum Thema sowie einen Unterrichtsentwurf für Schule oder Jugendarbeit. Auf Wunsch ist das Heft zusätzlich mit spirituellen Impulsen erhältlich.

Fragen zum Heft beantwortet:

Manuela Blum

Telefon: 0761/200-625
E-Mail: manuela.blum@caritas.de

Lass auch den anderen gut sein!

Porträt: Dr. Antonius HamersDr Antonius Hamers, Priester des Bistums Münster, ist Leiter des Katholischen Büros Nordrhein-Westfalen. Das Katholische Büro in Düsseldorf ist die Vertretung der Erzbistümer Köln und Paderborn sowie der Bistümer Aachen, Essen und Münster im Land zwischen Rhein und Weser.Nicole Cronauge

Dabei: Der Mensch ist weder nur gut noch nur schlecht. Weder denkt er nur an sich noch nur an andere. Auf beides kommt es an: Das Gebot der Nächstenliebe lehrt es uns - du sollst den Nächsten wie dich selbst lieben. Selbstliebe und Selbstsorge sind die Voraussetzung dafür, gut zu sein. Das erlebe ich jeden Tag in meinem Umfeld: Menschen, die politisch hochengagiert sind, die sich für andere einsetzen, die etwas bewegen wollen - für die Gesellschaft, für andere Menschen und selbstverständlich auch dafür, dass sie wiedergewählt werden, dass sie ihr Engagement fortsetzen können.

Sei gut, Mensch! Sei gut zu anderen, sei gut in dem, was du tust.

Sehr eindrucksvoll greift das der Prophet Micha im Alten Testament auf, wenn er schreibt: Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir erwartet: nichts anderes als dies: recht tun, Güte lieben und achtsam mitgehen mit deinem Gott. Für Micha gehören zu einem guten und gottesfürchtigen Leben Gerechtigkeit und Güte. Wenn du gut sein willst, sei gerecht und gütig, so könnte man Michas Weisung zusammenfassen. Auf beide Aspekte kommt es an.

Nur mit Recht kann man keine Gesellschaft gestalten und keinen Staat machen. Bloße Gerechtigkeit kann zur Grausamkeit werden - so mahnt Thomas von Aquin. Rechtsanwendung muss auch Raum für Ermessen, für die besonderen Umstände des Einzelfalls lassen - sei es bei der Strafzumessung, beim Ausländerrecht oder im Sozialrecht. Nur so lassen sich Härten vermeiden und lässt sich Gutes erreichen. Genauso gilt: Nur mit Güte oder Barmherzigkeit kann man keine Gesellschaft gestalten und keinen Staat machen. Bloße Güte oder Barmherzigkeit führt zur Auflösung - auch davor warnt Thomas von Aquin. Recht macht berechenbar und zeigt Grenzen auf. In diesem Spannungsfeld von gerecht und gütig bewegt sich auch politisches und gesellschaftliches Gutsein.

Denn: "Sei gut, Mensch!" heißt nicht: Sei naiv, Mensch! Genau das unterstellt die abfällige Rede vom Gutmenschen, der scheinbar nicht begriffen hat, wie die Realität ist, der naiv und einfältig handelt. Damit wird der christliche Grundauftrag, Gutes zu tun und Böses zu unterlassen, diskreditiert. Für uns steht der Mensch im Mittelpunkt - als verantwortlich Handelnder wie als Bedürftiger. Aus unserer Überzeugung, aus unserem Glauben heraus wollen wir gut sein, wollen wir recht tun, Güte lieben und achtsam mitgehen mit unserem Gott. So wollen wir unsere Gesellschaft prägen, weil wir mit Heinrich Böll davon überzeugt sind, dass selbst die ­allerschlechteste christliche Welt der besten heidnischen vorzuziehen ist, weil es in einer christlichen Welt Raum gibt für die, denen keine heidnische Welt je Raum gab: für Krüppel und Kranke, Alte und Schwache, und mehr noch als Raum gab es für sie: Liebe für die, die der heidnischen wie der gottlosen Welt nutzlos erschienen und erscheinen.

Dazu muss um die besten, menschenfreundlichen Lösungen gerungen werden - gerade im politischen Bereich. Auch wenn jedes politische Engagement Überzeugungen voraussetzt, ersetzen diese Überzeugungen nicht das Argument. Da gilt, dem anderen zuzutrauen, dass er sich für eine gute Lösung einsetzt. Ich kann dem anderen nicht sein Gutsein absprechen, nur weil ich seine Überzeugungen nicht teile.

Die Demokratie lebt vom Kompromiss - nicht als kleinstes Übel, sondern als gemeinsame Lösung. Denn: Schlecht ist, wer nur in seinen Kategorien denkt und nicht in Erwägung zieht, dass der andere auch recht oder eine gute Lösung parat hat. Sei gut, Mensch - und lass auch den anderen gut sein.

Wir gehen den letzten Weg mit

Porträt: Renate Haase, vor einem rot-weißen HintergrundRenate Haase (69) aus Mönchengladbach engagiert sich ehrenamtlich in der Palliativbegleitung des Caritasverbandes.© Andre Zelck

In der Palliativbegleitung versuchen wir, Patienten, die auf den Tod zusteuern, den letzten Lebensweg zu erleichtern. Manchmal höre ich einfach nur zu, gehe ein bisschen auf die Bedürfnisse ein oder leiste kleine Handreichungen, vielleicht gehe ich auch noch einmal mit ihnen spazieren. Es geht auch darum, die Angehörigen zu entlasten, die ja meistens überfordert sind.

Das ist nur ein kleiner Schritt, den wir leisten können, aber für die Angehörigen manchmal ganz wichtig.

Ich mache das, weil ich selbst schon einmal in derselben Situation war: Mein Vater hat 1998 die Diagnose "Krebs" bekommen, er hatte ein Bronchialkarzinom. Die Endphase fing zwischen Weihnachten und Neujahr an, als kein Arzt mehr zu erreichen war. Palliativpflege gab es zu dem Zeitpunkt noch nicht. Wir sind damals wirklich in einen Engpass geraten.

Als das dann vorbei war, habe ich mir geschworen: Sobald du irgendwann mal Zeit hast, versuchst du, irgend­etwas zu finden, wo du dann ehrenamtlich den Leuten das ein bisschen erleichterst, was wir selbst so dringend hätten brauchen können.

Wir gehen den letzten Weg gemeinsam, aber das Ende erleben wir meistens nicht.

Für mich ist dieser Dienst nicht schwierig. Ich tue es sehr gerne.

Wenn man merkt, dass es den Menschen guttut, gibt einem das auch selbst Kraft. Ich merke dann, das tut mir auch selbst gut. Es ist nicht so, dass ich mich dafür auf­opfere - es gibt auch mir etwas. Ich bin zufrieden. Wenn man sieht, dass es den Menschen guttut - das wenige, was ich da leiste -, dann tut mir das auch selbst gut.

Es ist doch nicht ungewöhnlich, Gutes zu tun. Das ist doch eigentlich selbstverständlich! Man muss natürlich die Zeit haben. Für Berufstätige ist das schon schwieriger.

Ich persönlich bin kein Gutmensch, für mich ist das normal.

Notiert von Markus Lahrmann



Weitere Beiträge zum Thema "Sterben und Tod" finden Sie hier in unserem Themendossier.

Ein neues Ehrenamt mit Liebe zur Vespa

Porträt: Petra Kohlhaas-Lindner mit zwei Kundinnen bei einem Tisch vor dem Cafémobil der Caritas HertenPetra Kohlhaas-Lindner in Cafémobil-Dienstkleidung. Sie serviert den Kaffee Freia Lukat (Mitte), Gemeindecaritas Herten, und Linda Koitka (r.) vom Projekt Fortuna.Foto: Harald Westbeld

Sie genießt nicht nur die knatternden Fahrten mit der dreirädrigen Vespa, vor allem schätzt sie die interessanten Gespräche, die ein weites Spektrum umfassen. Das Cafémobil, das erstmals auf dem Katholikentag 2018 eingesetzt und von der Caritas Herten übernommen wurde, ist in seiner Auffälligkeit oft der Gesprächsöffner. Der Kaffee tut ein Übriges dazu. Männer, hat Petra Kohlhaas-Lindner (55) beobachtet, steigen oft über technische Fragen zu Ape und Kaffeemaschine in ein Gespräch ein, Frauen kommen direkter zum Thema.

"Da entwickeln sich recht häufig Gespräche, die haben schon einen seelsorglichen Charakter", sagt Kohlhaas-Lindner. Das sei manchmal wie ein moderner Beichtstuhl. Sie hält sich dabei zurück und wartet ab, ob jemand sich unterhalten möchte. Wichtig sei dafür, aktiv zuhören zu können. Angestoßen durch wenige Fragen und die lockere Atmosphäre, öffneten sich viele Kaffeegäste und berichteten auch von ihren privaten Problemen.

Am liebsten fährt Petra Kohlhaas-Lindner zur "ökumenischen Marktkirche". Hier bietet sich für die gelernte Bibliothekarin und Reiseverkehrskauffrau die Gelegenheit, über ihren Glauben zu reden. Katholisch aufgewachsen und freikirchlich geprägt, sagt sie heute: "Ich bin Christin - das genügt!" Sie freut sich, wenn ihre Gesprächspartner den Glauben als Hilfe in ihrem Leben erfahren können.

Aber es gibt auch die weniger angenehmen Gespräche. Das seien die, auf deren Nährboden die negative Prägung des Begriffs "Gutmensch" wachse. Wenn es ihr zu sehr in rechtes Gedankengut abgleitet, hält sie dagegen: "Manchmal gelingt auch der Einstieg in ein wirkliches Gespräch", sagt Kohlhaas-Lindner.

Von sich selbst würde Petra Kohlhaas-Lindner nicht behaupten wollen, ein Gutmensch zu sein: "Das klingt nach einem hohen Anspruch. Ich glaube nicht, dass ich die Schranke täglich reißen kann - und es hat auch den Beigeschmack von Naivität." Aber wenn sie damit ein Zeichen setzen könne, den Begriff gegen negative Vereinnahmung zu verteidigen, "soll es mir recht sein". Das Cafémobil, das viel Zeit auch in der Vor- und Nachbereitung braucht, ist nicht ihr einziges Ehrenamt. Im Kinderland hat sie schon gearbeitet, engagiert sich bei dem Gedenken an die Reichspogromnacht, und mit ihrem Trio spielt sie unter anderem in Gottesdiensten Klavier und Keyboard.

Die Zeit für ihr Ehrenamt findet Petra Kohlhaas-Lindner, weil sie "blockweise" bei verschiedenen Filmfestivals in der Organisation und der VIP-Betreuung arbeitet. Die Zeit dazwischen nutzt sie für ihre ehrenamtlichen Einsätze vor Ort. "Eigentlich ist es die gleiche Arbeit - nur mit anderen Mitteln. Jeder, der vor mir steht, ist ein VIP."

Das Cafémobil ist für Petra Kohlhaas-Lindner ein ideales Ehrenamt. Nicht nur dass sie selbst gerne Kaffee trinkt und es spannend findet, andere Menschen kennenzulernen, jetzt kann sie auch wieder ihren Vespa-Traum leben. Direkt nach der Führerscheinprüfung kaufte sie sich eine Vespa 200. Zehn Jahre später hat sie sie an einen Bekannten abgegeben, denn ihre kleinen Kinder ließen sich darauf nicht transportieren. Jetzt würde sie sich gerne wieder eine kaufen, eine "300er in Dunkelblau".

Schreib uns, was dich bewegt!

Ilayda Bostancieri und Ann-Marie Bappert von einem violetten Hintergrund mit Zeichnungen und einem Augen-Graffiti. Im Vordergrund ist ein aufgeklapptes Notebook zu sehen.© Andre Zelck

Das Besondere an [U25] ist, dass die Beratung von speziell ausgebildeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter zwischen 16 und 25, sogenannten Peer-Beratern, durchgeführt wird. Alle Peer-Berater und -Beraterinnen bei [U25] arbeiten ehrenamtlich und werden monatelang auf die Aufgabe vorbereitet, Kinder, Jugend­liche und junge Erwachsene in Krisen via Mail durch die Krise begleiten zu können.

Ann-Marie Bappert (24) und Ilayda Bostancieri (24) sind zwei von ihnen. "Als uns das Projekt in der Leiterrunde bei den Pfadfindern vorgestellt wurde, wollte ich sofort mitmachen, ich wollte helfen, wollte anderen zurückgeben, dass ich immer jemanden habe, mit dem ich sprechen kann", sagt Ann-Marie Bappert. Denn jeder Mensch brauche ein offenes Ohr.

Entstanden ist [U25], weil der Arbeitskreis Leben (AKL) in Freiburg 2001 darüber nachdachte, wie man jungen Menschen unter 25 Jahren, die die höchste Rate an Suizidversuchen aufweisen, erreichen könnte. Die Idee: dorthin gehen, wo sich die Jugendlichen aufhalten: ins Internet und in Schulen. Heute gibt es an zehn Orten in ganz Deutschland Teams, die U25-Beratung anbieten. "Viele Jugendliche trauen sich nicht in eine Face-to-Face-Beratung", berichtet Bostancieri. Eine Mail kann man einfach schnell schreiben.

Professionelle Begleitung

Es melden sich Jugendliche und junge Erwachsene von zwölf bis zu 25 Jahren mit ernsten und existenziellen Problemen: Personen mit Missbrauchserfahrungen jeglicher Art, Mobbing-Opfer, Borderline-Patienten, Betroffene von Essstörungen und von psychischen Krankheiten, andere mit Problemen an der Schule, an der Uni oder wegen Arbeitslosigkeit - oder ganz einfach junge Menschen ohne Freunde. Die Beratung und Begleitung sind meist erfolgreich. Manchmal schließt eine Therapie an, manchmal läuft der Mailkontakt auch einfach aus.

"Mein schlimmstes Erlebnis war ein Abschiedsbrief von einer Klientin, die, soweit wir wissen, sich dann auch später das Leben genommen hat", berichtet Bostancieri. Sie sei selbst schwer betroffen gewesen, aber die damalige Hauptamt­liche habe sie gut begleitet. "Uns bleibt ja nichts anderes übrig, als die Entscheidung der Klientinnen und Klienten zu akzeptieren. Die Beratung ist komplett anonym."

Bappert hat ebenfalls eine professionelle Distanz entwickelt: "Das Wichtigste ist, dass es einen nicht so krass runterzieht", sagt sie über ihre eigenen Gefühle angesichts von Selbstmordgedanken und Krisen in den Mails, die sie erreichen. Man müsse dann versuchen, sich abzugrenzen.

Ist sie ein Gutmensch? "Ich würde sagen, das stimmt", schmunzelt sie, ohne irgendwie verlegen zu wirken. Der Begriff sei ja leider halt in der letzten Zeit negativ konnotiert, gerade weil er in der rechten Szene als Schimpfwort benutzt werde. "Ich finde aber, es ist nichts Schlimmes daran, ein Gutmensch zu sein, es ist eher etwas Gutes, ein Gutmensch zu sein - und deswegen finde ich es auch nicht schlimm, wenn ich so genannt werde", sagt sie selbstbewusst.

"Mich würde es stören, wenn mich ein Nazi Gutmensch nennt", wirft Bostancieri ein, "es kommt eigentlich immer darauf an, wie es gemeint ist und von wem es kommt."

"Ein Gutmensch ist ein Mensch, der Gutes tut. Punkt. In welcher Form auch immer."

Vom Ehrenamt zum Sozialberuf

Das Engagement bei [U25] hat bei Ann-Marie Bappert auch zu einer beruflichen Richtungsänderung geführt. Nach drei Jahren Studium von Englisch und Französisch war sie nicht mehr so richtig glücklich mit der Perspektive, Lehrerin zu werden. Durch die Fachbereichsleitung von [U25] wurde sie auf eine Kooperation zwischen dem Caritasverband Gelsenkirchen und der Fachhochschule Dortmund aufmerksam. Jetzt studiert sie genau wie Ilayda Bostancieri in einem ­dualen Studium Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Armut und Flüchtlingsmigration, und beide absolvieren die Praxisphase beim Caritasverband. Und die Perspektive, das Gutmenschentum später beruflich zu machen? "Gut! Damit habe ich kein Problem!", sagt Bappert.

www.u25-gelsenkirchen.de



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Mach mit! Sei da! Hilf anderen!

Porträt: Bernd Brakemeier, vor einem grauen Hintergrund mit einer Glühbirne, einem Jungen und einigen Szenen aus der GastronomieBernd Brakemeier und die Wittener Nachbarschaftshelfer sind aktive Senioren mit handwerklichem Geschick, die anderen helfen.© Andre Zelck

Angefangen hat er damit vor 13 Jahren, als er nach seiner Verrentung irgendetwas suchte, "um nicht in ein tiefes Loch zu fallen". Bei der Caritas Witten wandte er sich an die Abteilung Fokus. Fokus ist eine Beratungs- und Vermittlungsstelle für alle, die sich gerne freiwillig engagieren, sowie für Organisationen, die mit Freiwilligen zusammenarbeiten.

"Ich wollte mit der Rente nicht in ein tiefes Loch fallen"

Brakemeier konnte aus einem Katalog von Aufgaben auswählen, so wurde er Integrationslotse. Er half Migranten beim Einfinden in den deutschen Alltag, auch bei der Einbürgerung. Ich bin mein Leben lang im Ausland gewesen, mir macht das Spaß", sagt er. Als 2015 die vielen Flüchtlinge kamen, gründeten er und andere eine Community. Heute sind die Flüchtlinge mehr oder weniger eingebunden. Witten hat sich stark für Flüchtlinge eingesetzt, es gibt zwar immer noch ein Aufnahmelager mit 600 Betten, die sind aber gar nicht mehr belegt. Da gibt es nicht mehr so viele Brennpunkte.

Deswegen hat er sich in einem Nachbarschaftstreff eingearbeitet. Dort ist Bernd Brakemeier dann der Quartierskümmerer. "Leute können zu mir kommen mit ihren Sorgen und Problemen, und ich versuche dann zu helfen", sagt er und kommt auch durchaus auf eigene Ideen. Kochen mit Kindern für Kinder zum Beispiel. "Ich komme ja aus der Gastronomie, da liegt das nahe." Auch das macht er schon seit zehn Jahren.

"Sind Sie ein Gutmensch, Herr Brakemeier?" "Das kann ich gar nicht beurteilen. Ich helfe einfach", sagt er. Punkt. "Warum helfen nicht mehr Menschen?" "Ich sehe so viele Menschen, die einfach in den Tag hinein leben", sagt er, "die würde ich gerne aufrütteln." Doch da kommt oft wenig Resonanz, gerade vom mittleren Bürgertum kommt manchmal eher Negatives. Seine Mittel seien begrenzt, sagt er, auch sprachlich, er könne nur sagen: "Mach mit. Sei da!" Und: "Hilf anderen."

Das neueste Projekt bei der Freiwilligenagentur Fokus heißt "Senioren helfen Senioren". Sechs oder sieben Rentner, alle selbst Heimwerker und Häuslebauer, bieten kleine handwerkliche Unterstützungen an: einen tropfenden Wasserhahn reparieren, eine Glühlampe wechseln, den Weihnachtsbaum einstielen. Alles Tätigkeiten, für die kein Handwerker mehr kommt oder die unverhältnismäßig teuer würden. Der Bedarf ist da, sagt Brakemeier und ist auch stolz. "Wir sind alle über 70, manchmal ist es schon mühsam, auf eine Leiter zu steigen - aber wir bemühen uns."

"Hier heißen wir die Sonnenblumen-Schwenker"

Porträt: Renate und Peter Jendreiko in einem einfach gehaltenen Ladenlokal mit Stahlregale, in dem Waren ausgegelegt sindnDas Laden-Projekt in Oer-Erkenschwick wird von Ehrenamtlichen getragen. Die Hilfe erfolgt ohne Ansehen der Person. Alle Menschen ohne ausreichendes Einkommen können eine Einkaufsberechtigung erlangen.Foto: Harald Westbeld

Im Jahr 2018 haben sie es verpasst, zwischen all diesen Aufgaben und den familiären Verpflichtungen Zeitfenster für den Urlaub mit dem neu erworbenen Wohnmobil einzuplanen. 2019 blieben nur noch zwei Wochen im November.

Das Engagement der Jendreikos liegt damit sicherlich über dem Durchschnitt. Fühlen sie sich deshalb als "Gutmenschen"? Renate Jendreiko hörte den Begriff erstmals vor ein paar Jahren auf einer CKD-Konferenz und dachte erst noch, er sei positiv gemeint. In Oer-Erkenschwick gibt es dafür einen anderen Namen: "Hier heißen wir die Sonnenblumen-Schwenker." Als im Herbst 2015 die ersten Busse mit Flüchtlingen in der Stadt am Nordrand des Ruhrgebiets ankamen, wurden sie von den Bürgern mit Sonnenblumen begrüßt. Was andere weniger positiv sahen.

Renate und Peter Jendreiko lassen sich davon ihre Ehrenämter nicht madig machen. Sie bestärkt der Dank, den ihre Tochter Elisabeth gerade in das Vorwort ihrer Masterarbeit geschrieben hat. Sie hätten ihr gezeigt, "dass es von großer Stärke zeugt, andere stark zu machen". Renate Jendreikos Einsatz ist klein gestartet über das Engagement in Kindergarten und Schule. Dann wurde sie angesprochen, in der Pfarrcaritas mitzumachen, schon vier Jahre später wurde sie auf Diözesanebene aktiv. Inzwischen arbeitet die 56-Jährige seit vielen Jahren als jüngstes Mitglied im Vorstand mit. "Alles Zufall", sagt Renate Jendreiko. Aber ohne Bereitschaft wäre diese Entwicklung wohl nicht möglich gewesen.

Ihr Schwerpunkt bleibt der "Laden", in dem mittlerweile als ökumenisches Projekt der Verkauf von Lebensmitteln, Gebrauchtkleidung und Hausrat vereint sind. Den Caritas-Shop für gespendeten Haushaltsbedarf hat sie selbst seit 2006 mit aufgebaut. Heute organisiert sie die "Kellerkinder", wie sie und ihre 23 Mitstreiter sich in der WhatsApp-Gruppe nennen. Ständig müssen neue Spenden in die vielen Regale im Untergeschoss des evangelischen Gemeindezentrums einsortiert werden. Ende Oktober waren schon die ersten Kartons mit Engeln, Weihnachtsmännern und Christbaumkugeln abgegeben worden. Da musste eine Sonderschicht eingelegt werden.

Peter Jendreiko hat vor Jahren das Logo für den "Laden" weiterentwickelt, jetzt im Vorruhestand kann er auch das Telefon übernehmen, wenn seine Frau gerade verhindert ist, aber ein Reisebett angeboten wird. Der ehemalige Leiter der Personalentwicklung bei der Ruhrkohle AG begleitet vor allem aber immer mehr junge Flüchtlinge als Ausbildungspate. Vier sind es mittlerweile.

Ein Vorbild aus ihren Familien hatten die Jendreikos nicht, ihren Eltern blieb neben Arbeit und Familie keine Zeit für Ehrenamt. Aber dafür geprägt worden seien sie schon: "Dass man sich in der Not half, war immer klar", sagt Renate Jendreiko. Sie hat eine kaufmännische Ausbildung, aber als die Kinder kamen, blieb sie mangels Betreuungsmöglichkeiten zu Hause. Das bot den Freiraum für ihr ehrenamtliches Engagement.

Die Grundlagen dafür sehen Renate und Peter Jendreiko auch bei ihren Kindern gelegt, sind aber skeptisch, ob der jungen Generation noch die Zeit bleibe, wenn heute beide Partner in der Regel arbeiten müssten und wollten. Immerhin hat ihre Tochter ihre Masterarbeit zum Thema Ausbildungspaten geschrieben.

www.der-laden-oer-erkenschwick.de



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Eine Frage der Einstellung

Porträt: Gerd Fischer, einem hell-grünen Hintergrund mit goldenen Bilderrahmen. Im Vordergrund ist ein Smartphone auf einem Selfie-Stick zu sehen."Ich bin über meine Frau zum Ehrenamt gekommen", sagt Gerd Fischer. "Wir sind im Caritas 'zentrum plus' eine sehr nette, kleine Gemeinschaft."© Andre Zelck

Caritas in NRW Ist es wichtig, Gutes zu tun?

Gerd Fischer: Ein guter Mensch zu sein, das ist mir wichtig, aber ich möchte kein Gutmensch sein. Der Begriff ist für mich sehr negativ besetzt.

Caritas in NRW: Was ist ein Gutmensch?

Gerd Fischer: Einer, der das Gute über alles stellt, ohne zu reflektieren. Für mich ist es wichtig, dass ich sehen kann: Das Gute bringt was. Etwas zu tun, muss auch bei anderen etwas bewirken. "Gutmenschen" machen aus meinem Blickwinkel heraus häufig etwas zum eigenen Wohlsein. Der Gutmensch fühlt sich dabei selbst besser, wenn er etwas Gutes tut. Das ist nicht mein Ansatz: Nur etwas Gutes zu tun, weil es mir selbst guttut, reicht nicht. Etwas Gutes zu tun bedeutet, etwas von sich zu geben, ohne eine Gegenleistung zu erwarten.

Caritas in NRW: Braucht es für diese Gesellschaft mehr Menschen, die anderen etwas Gutes tun?

Gerd Fischer: Selbstverständlich. Es gibt inzwischen sehr viel Unwissen, viel Leid und Armut. Dagegen muss etwas getan werden. Die Forderung: "Der Staat muss sich darum kümmern" ist aus meiner Sicht falsch. Man muss sich erst einmal die Frage stellen: "Was tue ich überhaupt für den Staat, für das Gemeinwesen?" Etwas für andere zu tun, sollte man nach vorne stellen.

Caritas in NRW: Woran liegt es, wenn das nicht geschieht?

Gerd Fischer: Es herrscht viel Frust. Viele Menschen glauben, dass sie nicht genügend wahrgenommen werden, dass ihre Meinung nicht zählt, sondern nur die Meinung der Oberen. Wenn man sieht, wie viele Menschen ihr Leben lang gearbeitet haben und im Alter nur bescheiden davon leben können, dann ist das für unseren Sozialstaat ­bedrückend. Das zu sehen führt bei manchen zu Staatsverdrossenheit und Ablehnung von gesellschaftlichem Engagement.

Caritas in NRW: Bei Ihnen ist das doch anders?

Gerd Fischer: Bei mir liegt es vielleicht an meinen Eltern. Es war Teil der Erziehung, meiner Schwester und mir eine friedliche Kindheit zu schenken. Zudem haben sie mir sehr viel Vertrauen entgegengebracht. Das prägt, und ich bekam dadurch eine positive Einstellung zum Leben und zu meinen Mitmenschen.

Die Fragen stellte Markus Lahrmann.

www.gf-foto.com

Von Bösewichten und Gutmenschen

Porträt: Dr. Boris KrauseDr. Boris Krause, Theologischer Referent beim Caritasverband für die Diözese Münster

Ich hatte im Kino anfangs Sympathie für den "Joker", den Hollywood-Bösewicht. In seinem Leben lief schief, was nur schieflaufen kann, bis er endlich selbstbewusst aufblüht. Doch leider rechnet er dann in abscheulicher Weise mit dem "System" ab, sodass Batman als Retter des Guten einschreiten muss.

Das ist eine von vielen Gut-Böse-Erzählungen, die unser kulturelles Bewusstsein prägen. Von der Versuchung im Paradies über Rumpelstilzchen bis zu Herr der Ringe: In all diesen Erzählungen vergewissern wir uns der Einsicht, dass das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen ist.

Was lässt sich aber über eine Gegenwart sagen, in der diese Zuschreibungen semantisch ins Wanken gebracht und sozial engagierte Menschen ironisch als "Gutmenschen" gebrandmarkt werden? Wir erleben offenbar eine Zeit schwindender Klarheit, entfernt vom Ufer einer tragfähigen Zukunftsvision, inmitten eines digitalen Meinungsozeans, der primär von einer Kraft durchströmt ist: von Stimmungen und Gefühlen.

Diese Erkenntnis ist hilfreich. Unsere stärksten Gefühlslagen sind nämlich unsere stärksten Bewegmotive: Liebe und Angst. Beide brauchen wir, beide können schaden: Liebe verbindet, kann aber blind machen. Angst schützt, sorgt jedoch für Tunnelblick (lat. angina, "Enge"). "Gutmenschen" werden nun nicht auf dem Feld der Liebe geboren. Nein, sie entstehen auf dem Feld meiner Ängste und können dort zu Hassobjekten werden. Schon Platon wusste, dass die Gerechten leiden und den Unmut der anderen spüren.

"Bilde ich mir das ein, oder wird es da draußen immer verrückter?", fragt der Joker. Ja, die Sehnsucht nach Klarheit ist heute groß. Doch bringt das Einteilen von Menschen in die Guten und die Bösen Klarheit? Niemand trägt nur Licht oder nur Schatten, niemand nur liebende oder nur ängstliche Anteile in sich. Die moralisierende Zweiteilung wird hier zur unlauteren Vereinfachung. Verbindung entsteht nicht durch Zuschreibungen, sondern eher durch eine an mein Gegenüber gerichtete Frage: "Wovor hast du Angst?"



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Sooo viele gute Menschen!

Ein Schaubild, mit der Anzahl der deutschlandweiten Ehrenamtlichen und der ungefähre Anteil an Katholiken, Frauen, 50 bis 74 Jährigen und Ehrenamtlichen mit durschnittlich 5 Einsatzstunden/Monat

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Integrationsarbeit in allen Facetten

Porträt: Ines Kolender, vor einem schwarz-weißen Hintergrund mit dem gelben Schriftzug 'Willkommenskultur'. Im Vordergrund sind ein Langenscheidt-Band und eine Menschenmenge zu sehen.Ines Kolender hat auch schon Freunde und Bekannte zum Engagement für Flüchtlinge motiviert. Ihr jüngster Sohn gab Nachhilfe, seine Freundin hilft auch über die Caritas.© Andre Zelck

Wenn es um ehrenamtliches Engagement für Flüchtlinge geht, denkt Ines Kolender durchaus auch politisch. "Es gibt schon genug Rechte!", sagt sie. "Wir müssen von der anderen Seite aus angreifen und versuchen zu vermitteln, damit die Diskrepanz nicht noch größer wird, die Diskrepanz zwischen "Wir mögen keine Ausländer" und "Die Ausländer sind ja ganz okay". Ines Kolender ist überzeugt, dass Migranten dazu beitragen, "die Gesellschaft vielfältiger zu machen".

Deswegen engagiert sie sich vielfältig bei der Integration von Geflüchteten. Angefangen hat sie beim Integrationsprojekt "CareMigration", das Migranten und Deutsche in Tandems zusammenbringt. Seit Ende 2015 unterrichtet sie ehrenamtlich Deutsch, sie betreut und knüpft Kontakte, hilft bei Bewerbungsschreiben, Amtsgängen und ebnet den Weg zu Praktika und Ausbildungsplätzen, sie unterstützt Auszubildende als Jobpatin. "Aktuell unterrichte ich ein Geschwisterpärchen in Deutsch; er ist 16 und in der Schule und tut sich sehr schwer, sie ist 19 und schon auf dem Weg ins Praktikum", sagt sie. Und auch bei der Freizeitgestaltung ist sie emsig, besorgte Karten für Handball und nahm kurzerhand 20 Geflüchtete mit zum Spiel.

Ihre Motivation: "Es macht Spaß - und es macht mich glücklich, wenn es gelingt, Probleme zu lösen." Auch wenn es zwischendurch schon mal schlaflose Nächte gebe, immer wieder komme "so viel Dankbarkeit zurück".



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"Gutmensch" im Sprachgebrauch

Szene aus der Serie 'Die Simpsons': Ned Flanders streichelt vor dem Schuleingang den Hund der Familie Simpson, Bart Simpon sitzt daneben. Hinter einem Baum versteckt sich Schuldirektor Seymour SkinnerGläubig, spießig, schräg: Ned Flanders (r.), der Nachbar der Comic-Familie Simpson und Prototyp für eine "Gutmensch"-BeleidigungBild: United Archives/CinemaCollection/FOTOFINDER.COM

Über das Wort "Gutmensch" wird heftig gestritten, zahllose Kolumnisten und Blogger werfen sich in die Schlacht - vor allem seit es zum "Unwort des Jahres 2015" gekürt worden ist. Die einen nutzen das Wort als Kampfbegriff gegen jene, die sich realitätsfern politisch oder sozial engagieren. Die anderen sehen das ethische Ideal eines guten Menschen hämisch herabqualifiziert und ärgern sich darüber, dass Engagement und Nächstenliebe offenbar zu einem Schimpfwort verkommen seien.

Der Duden, der das Wort "Gutmensch" im Jahr 2000 in seine Rechtschreibsammlung aufnahm, definiert mit negativer Konnotation: "[naiver] Mensch, der sich in einer als unkritisch, übertrieben, nervtötend oder ähnlich empfundenen Weise für die Political Correctness einsetzt". Für den Deutschen Journalisten-Verband bezeichnete der Begriff Gutmensch dagegen noch im Jahr 2006 einen Menschen mit positiven Antrieben, der humanistische, religiös-mitmenschliche Lebensziele höher einschätze als zweckorientierte Argumente, dafür aber Geringschätzung und Zynismus ernte.

Mit den Flüchtlingsdebatten des Jahres 2015 hatte das Wort wieder Konjunktur und driftete endgültig in die Schimpfwort-Ecke. Dort muss es nicht bleiben. Denn die Sprachkritik, eine wissenschaftliche Disziplin der Linguistik, kennt zahlreiche Beispiele dafür, wie Wortbedeutungen sich ändern können - spontan im Sprachgebrauch oder durch gezielte Einflussnahme.

Im besten Fall zieht die gesamte Sprachgemeinschaft mit, wie etwa im Bestreben der feministischen Linguistik, Frauen in Sprache und Weltsicht präsenter zu machen - inzwischen sind grammatische Diversität, Binnen-I, Sternchen oder Unterstrich fast selbstverständlich geworden.

Gar nicht so selten erfahren ursprünglich wertfreie Bezeichnungen eine Bedeutungsverschlechterung. "Weib" war einst die übliche Bezeichnung für Frau, "Dirne" wurde im 19. Jahrhundert vom Mädchen zur Hure, blieb aber in der Dirndl-Tracht oder im norddeutschen "Deern" positiv besetzt. "Neger" geht heute - anders als noch in den 1970er-Jahren - überhaupt nicht mehr, und den Priester als "Pfaffen" zu beleidigen, war im Mittelhochdeutschen noch völlig in Ordnung.

Der öffentliche Sprachgebrauch kann aber auch den umgekehrten Weg vom Schimpfwort zur positiven Bezeichnung nehmen; "Geusenwort" nennt die Linguistik solche Wörter. Das Wort "Christ" war im 1. Jahrhundert zunächst herabwürdigend gemeint. Afroamerikanische Hip-Hopper bezeichnen sich selbst oft mit dem rassistischen Ausdruck "Nigger". Ähnlich erging es der Bezeichnung "schwul", ursprünglich Beschimpfung, dann Selbstbezeichnung der Schwulenbewegung, heute in der Jugendsprache allerdings wieder als Schimpfwort verwendet. Und "Piraten" sind heute keine Verbrecher, sondern anerkannte politische Parteien. Es gibt also gute Gründe, zu hoffen, dass "Gutmensch" den Weg aus der Schmuddelecke der deutschen Sprache findet.

Lebensphasenorientierte Personal- und Organisationsentwicklung

Ein Jugendlicher sitzt im Schneidersitz auf einem Stein an der steinigen Meeresküste und blickt in den SonnenuntergangAm 13. Februar 2020 wird in Bochum die Abschlussveranstaltung des Projekts "Phase L" stattfinden. Die zwölf Pilotstandorte stellen dort ihre Instrumente vor.Foto: Keegan Houser/unsplash.com

Lebenslange Personalentwicklung ist für Arbeitgeber, die ihre Attraktivität steigern wollen, ein Baustein, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Heute sind auch in den Sozialberufen die Arbeitnehmer in der guten Situation, sich aus verschiedenen Jobangeboten den zu ihnen am besten passenden Arbeitsplatz auszusuchen. Und dabei konkurriert die Sozialbranche auch noch mit Branchen, in denen nicht selten die Bezahlung flexibler ist als in den an den Tarifen des öffentlichen Dienstes orientierten Berufen in der Pflege und Erziehung.

So wurden in dem Projekt "Phase L" an insgesamt zwölf Pilotstandorten in partizipativen Prozessen gemeinsam mit den Mitarbeitenden passgenaue Instrumente der Personal- und Organisationsentwicklung entwickelt und eingeführt. Es wurden beispielsweise neue Dienstplanmodelle entwickelt, ein Fortbildungskonzept eingeführt, ein Methodenkoffer konzipiert, Regelungen für ein Ausfallmanagement getroffen, Onboardingprozesse überarbeitet, Methoden zur Stressreduktion eingeführt, ein Desk-Sharing-Konzept erstellt, Teambuilding-Maßnahmen gestärkt. Unterstützt wurde diese Vorgehensweise teils durch externe Experten. Die Instrumente befinden sich derzeit in der Erprobung.

Die Lenkungsgruppenmitglieder der insgesamt zwölf am Projekt teilnehmenden Pilotstandorte wurden in sechs Modulen zu den Themen: Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Gesundheitsmanagement, Personalmarketing und Personalgewinnung, Arbeitsorganisation und Arbeitszeit, Leistungsmanagement und Vergütung, Karriere- und Laufbahnplanung, Qualifizierung und Training sowie Wissensmanagement, Ausgangs- und Übergangsmanagement geschult.

Weitere Informationen zu dem Projekt finden Sie hier.

Wohnortnahe Versorgung erhalten

Einige Bauarbeiter stehen an einer Baustelle vor dem Malteser Krankenhaus 'Seliger Gerhard' Bonn/Rhein-Sieg und beobachten, wie ein Kran ein großes Objekt transportiertFür die Malteser ist es ein herber Schnitt: Sie wollen sich aus der Trägerschaft von sechs ihrer acht Krankenhäuser in Deutschland zurückziehen, darunter auch vom Malteser Krankenhaus Seliger Gerhard in Bonn. Der Betrieb habe sich kaum refinanziert, hieß es. Kostensteigerungen und fehlende Investitionen des Landes machten es für Betreiber kleinerer Gruppen und einzelner Krankenhäuser schwierig, weiter zu bestehen.Foto: Caritas

Große Sorgen über die zukünftige Entwicklung der Krankenhauslandschaft werden deutlich, wenn man sich zurzeit mit Vertretern der Krankenhäuser über die Krankenhauspolitik in Nordrhein-Westfalen und auf Bundesebene unterhält. Natürlich, da sind zuerst einmal die Veröffentlichung des Gutachtens zur Krankenhausplanung durch NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) und die dazu aktuell stattfindenden Fachgespräche. Aber es ist nicht nur dieser Prozess allein, der bei den Verantwortlichen im Krankenhausbereich zu den tiefgreifenden Befürchtungen um die Zukunft gerade der katholischen Krankenhäuser führt. Es sind vor allem die immer wieder neuen und erweiterten gesetzlichen oder verwaltungsorganisatorischen Vorgaben aus der Bundespolitik, die die Situation der Krankenhäuser aktuell zusätzlich belasten. Einige Beispiele seien genannt:

  • Während alle Akteure des Gesundheitswesens noch intensiv darum bemüht sind, die neue generalistische Pflegeausbildung in die Praxis umzusetzen und die notwendigen Kooperationen zu entwickeln, werden die Häuser gleichzeitig durch den Entwurf des Bundesgesundheitsministeriums zur Verordnung über die Pflegepersonaluntergrenzen verunsichert. Es ist zu befürchten, dass durch das System der Pflegepersonaluntergrenzen die Situation in der Pflege selbst gerade nicht verbessert wird, sondern nur einmal mehr der bürokratische Aufwand für die Dokumentation steigt. Und das in einer Situation, in der sowieso nicht genügend Pflegekräfte vorhanden sind.
  • Durch das zum 1. Januar 2020 in Kraft getretene Gesetz zur Reform des Medizinischen Dienstes soll die Unabhängigkeit des Medizinischen Dienstes als Körperschaft des öffentlichen Rechtes gestärkt werden. Gleichzeitig werden den Krankenhäusern aber Sanktionszahlungen bei Fehlbelegungen angedroht, der tatsächliche medizinische Bedarf oder die soziale Situation der Patienten geraten dabei aus dem Blick. Die Folge werden wiederum Vorwürfe der "betrügerischen" Falschabrechnung, eine Zunahme von Klageverfahren und damit wiederum mehr Bürokratie sein.
  • Auch die geplante Reform der Notfallversorgung ambulanter Patienten wird nicht ohne Auswirkungen auf die Strukturen der Krankenhauslandschaft bleiben. Einmal mehr werden Konzentrationsprozesse gefördert und die kleineren Häuser, insbesondere auf dem Lande, benachteiligt. Den Interessen der Patienten an einer wohnortnahen Versorgung und an kurzen Wegen werden diese Vorstellungen nicht gerecht (vgl. dazu ausführlich den Schwerpunkt der Fachzeitschrift "neue caritas", 21/2019).

Diese Fehlentwicklungen treffen auf einen "Markt" der stationären Gesundheitsversorgung, der schon traditionell von erheblichen Brüchen und Verwerfungen gekennzeichnet ist. So erfüllen die Bundesländer die ihnen im Rahmen der dualen Finanzierung auferlegte Pflicht zur Refinanzierung der Investitionen bei Weitem nicht ausreichend - bei erheblichen Unterschieden zwischen den einzelnen Bundesländern. In der Folge muss ein immer größerer Teil der notwendigen Investitionen aus Eigenmitteln getragen werden - mit negativen Folgen für die Liquidität und einer zusätzlichen Belastung des Ergebnisses. Auch gilt weiterhin, dass kommunale Krankenhäuser und Universitätskliniken erhebliche zusätzliche Mittel im Rahmen von Defizitausgleichen aus öffentlichen Kassen erhalten und so die Wettbewerbssituation weiter verzerrt wird. Betrachtet man dann noch die letzte Studie der Bertelsmann-Stiftung, die die Schließung von mehr als 50 Prozent der bestehenden Krankenhäuser fordert, wird verständlich, dass gerade Vertreter kleinerer Krankenhäuser im ländlichen Raum zusehends um deren Existenz fürchten müssen und ein allgemeines Kliniksterben vorausgesagt wird.

Und schaut man in die Zeitung, scheinen viele Befürchtungen bereits heute wahr zu werden. Die Zahl der Insolvenzen und Planinsolvenzen steigt, zunehmend scheuen Träger die tatsächlichen und vermeintlichen Risiken und suchen für ihre Häuser neue Trägerstrukturen - immer häufiger im privat-gewerblichen Bereich.

Planung nach Schweizer Vorbild

Aber noch einmal zurück zur Landeskrankenhausplanung in Nordrhein-Westfalen. Ausgehend von dem von NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann im September 2019 vorgestellten Gutachten, soll nun in diesem Jahr mit allen Beteiligten ein Krankenhausplan erarbeitet werden, der dann in der Folge in regionale Planungskonzepte umgesetzt werden soll. Nach dem Vorliegen des Gutachtens lassen sich einzelne politische Zielvorgaben für diesen Prozess bereits heute erkennen:

  • Minister Laumann betont immer wieder, dass es auch ihm um eine gute Erreichbarkeit der Krankenhäuser gehe, aber - so Laumann - nicht jeder solle alles machen dürfen, es müsse zu strukturellen Absprachen kommen, um Parallelstrukturen zu vermeiden.
  • Um dieses Ziel zu erreichen, will der zukünftige Krankenhausplan sich nicht mehr an Bettenzahlen, sondern an Leistungsbereichen und Leistungsgruppen orientieren. So soll eine bedarfsorientierte Krankenhausplanung nach Schweizer Vorbild erreicht werden.
  • Insgesamt sieht das Gutachten in Nordrhein-Westfalen eher Anzeichen für eine Über- als für eine Unterversorgung; Letztere sei höchstens in einzelnen ländlichen Regionen feststellbar. Zusammen mit den oben genannten Stichworten resultiert daraus eine Tendenz zur Konzentration des Leistungsangebotes. Ungelöst bleibt dabei aber die Frage, wie die für einen solchen Prozess notwendigen Investitionskosten refinanziert werden sollen.

Ein wichtiger Ort von Kirche

Betrachtet man diese ersten Einschätzungen zur Landeskrankenhausplanung NRW vor dem Hintergrund der oben beschriebenen bundesgesetzlichen Vorgaben, wird deutlich, wie stark der Trend zur Zentralisierung der Krankenhauslandschaft bereits heute ausgeprägt ist. Dieser generelle Trend betrifft naturgemäß insbesondere kleinere und mittlere Krankenhäuser in ländlichen Strukturen - in Nordrhein-Westfalen (und nicht nur dort) eben insbesondere konfessionelle Krankenhäuser, die gerade hier am häufigsten vertreten sind und damit die Versorgung sicherstellen.

Auch die kleineren und mittleren, häufig konfessionellen Krankenhäuser leisten einen wichtigen und unverzichtbaren Beitrag zur Daseinsvorsorge, besonders auch in den ländlichen Regionen Nordrhein-Westfalens, in denen gesundheitliche Versorgung bereits heute vielfach prekär ist. So hat auch die Kommission "Gleichwertige Lebensverhältnisse" in ihren Empfehlungen die besondere Bedeutung "einer gut erreichbaren, wohnortnahen Gesundheitsinfrastruktur" betont. Die konfessionellen Krankenhäuser sind aus diesem Segment der Daseinsvorsorge nicht wegzudenken.

Krankenhäuser dürfen nicht länger ausschließlich als Wirtschaftsunternehmen betrachtet werden, die eine Rendite zu erwirtschaften haben und einen "Asset" - einen wirtschaftlich handelbaren Wert - darstellen. Sie müssen ihren Wert behalten als Teil der sozialen Infrastruktur für die Menschen in einer bestimmten Region, deren Versorgung ihr Auftrag ist.

Gemessen an diesem Auftrag, aber auch gemessen an der Zahl ihrer Mitarbeitenden, sind die katholischen Krankenhäuser ein wesentlicher Teil der verbandlichen Caritas - in Nordrhein-Westfalen und auch auf der Ebene des Bundes. Daher hat die Caritas ein wesentliches Interesse, dass - trotz Anerkennung notwendiger Strukturveränderungen - die katholische Krankenhauslandschaft in ihrer Bedeutung erhalten bleibt. Die Krankenhäuser sind ein wichtiger Ort von Kirche. Caritas und katholische Krankhäuser sollten daher gemeinsam die aktuellen Entwicklungen kritisch verfolgen und bewerten sowie gemeinsam notwendige Handlungsstrategien entwickeln.

Zum Thema Krankenhausplanung folgt in der nächsten Ausgabe ein Beitrag aus Trägerperspektive.



Weitere Beiträge zum Thema "Krankenhäuser" finden Sie hier in unserem Themendossier.

"Wir brauchen eine Gesetzesänderung" (Teil 2)

Porträt: Roman Schlag, der vor zwei Caritas-Roll-Ups sitztRoman Schlag ist Referent für allgemeine Sozialberatung, Arbeitslosigkeit, Armut, Schuldnerberatung beim Diözesan-Caritasverband Aachen und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Schuldnerberatung der Verbände (AG SBV) auf Bundesebene.Foto: Christian Heidrich

Caritas in NRW: Überschuldung ist also ein Nebenprodukt unseres Wirtschaftssystems.

Roman Schlag: Das kann man durchaus so sagen. Durch die immer komplexeren Finanzierungsangebote, durch die intensive Konsumentenwerbung, wird einkalkuliert, dass es Verbraucher gibt, die irgendwann nicht mehr zahlen können.

Caritas in NRW: Halten Sie das für richtig? Würden Sie es begrüßen, wenn da seitens der Politik interveniert würde?

Roman Schlag: Ich halte es für wichtig, dass die Politik regulierend eingreift, klare Grenzen zieht, wie Verbraucher vor komplexen nicht nachvollziehbaren Angeboten zu schützen sind. Ebenso muss endlich in nachhaltige Prävention und Aufklärung sowohl im schulischen als auch außerschulischen Bereich investiert werden.

Caritas in NRW: Wenn ich nun überschuldet bin, was soll ich tun?

Roman Schlag: Wenn die Überschuldung schon eingetreten ist, sollte man möglichst schnell eine Beratungsstelle aufsuchen und sich Hilfe von Dritten holen. Das sollte auch deshalb geschehen, um die Kraft zu haben, das gesamte finanzielle System neu zu ordnen und zu sortieren. Ganz wichtig ist, nicht zu versuchen, Löcher stopfen zu wollen und dabei neue Löcher aufzureißen. Man sollte sich der Situation stellen. Auf keinen Fall sollten Betroffene hingehen und ihre Post nicht mehr öffnen, dem Druck erliegen, den Gläubiger aufbauen, und eine Grundhaltung entwickeln wie: ,Da komme ich nicht mehr raus.‘ Es wird immer Lösungen geben, aus einer Überschuldungssituation herauszukommen. Weitere Schritte, die sehr hilfreich sein können, wären, sich einmal einen genauen Haushaltsplan zu machen: Man stellt die fixen Ausgaben, die man im Monat hat, den fixen monatlichen Einnahmen gegenüber. Daraus kann man schon erkennen, wie eng es möglicherweise ist oder warum es mit der derzeitigen Finanzierung nicht klappen kann. Und für die weiteren Schritte und Kontakte zu oder Schreiben an Gläubiger ist es hilfreich, sich eine professionelle Beratung zu holen. Freilich kann man selbst direkt mit den Gläubigern in Kontakt treten, aber man sollte dann in keinem Falle Versprechungen machen, die man nicht halten kann. Besser ist es, zu sagen: ,Ich bin in einer verzweifelten Situation, ich muss schauen, was ich machen kann, und ich werde mir dazu Hilfe holen.‘

Porträt: Roman Schlag, der gestikulierend an einem Tisch vor zwei Caritas-Roll-Ups sitztFoto: Christian Heidrich

Caritas in NRW: Nehmen wir einmal an, ich wäre überschuldet. Kann ich mich an eine Beratungsstelle wenden?

Roman Schlag: Das hängt, das muss man ganz offen sagen, unter anderem davon ab, in welcher Kommune Sie leben. Es gibt Städte und Gemeinden, in denen Sie sich an eine Beratungsstelle wenden können, die Ihnen auch kostenfrei weiterhilft. Es gibt mittlerweile aber auch zahlreiche Kommunen, die ein Urteil des Bundessozialgerichtes umsetzen, das besagt: Einen Anspruch auf kostenfreie Schuldnerberatung haben nur Personen, die im Sozialleistungsbezug sind, also Personen, die entweder Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld II bekommen. Diese Personen haben einen Rechtsanspruch, aber Personen, die keinen Leistungsanspruch haben, eben nicht. Und diese Menschen würden zunächst einmal große Schwierigkeiten haben, eine Beratungsstelle zu finden, die sie kostenfrei berät.

Caritas in NRW: Ich höre aus Ihrer Antwort heraus, die Caritas sähe es gerne, wenn kostenfreie Schuldnerberatung unabhängig vom Wohnort und vom Geldbeutel des Klienten möglich wäre.

Roman Schlag: Das ist vollkommen richtig. Bei einer so existenziell wichtigen Beratungsform darf es nicht davon abhängen, wo ich wohne. Es müssen gleiche Verhältnisse und gleiche Zugänge für alle Bürger hergestellt werden. Das ist unter anderem die Forderung der Caritas. Hinzu kommt: Wenn ich mit meinen Einnahmen über der Grenze des Sozialleistungsbezuges liege, kann das aus Sicht der Caritas nicht das einzige Kriterium sein, nicht in den Genuss der kostenfreien Schuldnerberatung zu kommen. Auch solche Personen leben aufgrund der Zahlungen, die sie zum Eingehen ihrer Verpflichtungen zu leisten haben, oder durch Pfändungen mit einem gesetzlich festgelegten Existenzminimum und können gar keine Zahlungen für eine Beratung aufbringen. De facto stehen sie also gar nicht besser da. Es betrifft Arbeitslose, es betrifft Menschen, die Arbeitslosengeld I beziehen und ein gutes, mittleres Einkommen hatten, es betrifft aber auch Rentner, die keinen ergänzenden Grundsicherungsanspruch haben, aber das Geld für Beratung nicht zur Verfügung haben. Diese Personenkreise haben nach Auslegung des Urteils des Bundessozialgerichtes keinen Anspruch auf kostenfreie Schuldnerberatung.

Caritas in NRW: Gibt es Erkenntnisse, ob Menschen, die eine Schuldnerberatung aufsuchen, mit der Situation besser zurechtkommen als diejenigen, die keine Beratung besuchen?

Roman Schlag: Es gab immer wieder Untersuchungen, die die Wirkung der Beratung gezeigt haben. Dazu wurden Ratsuchende befragt. Es gibt sogar Beratungsstellen, die ein eigenes Instrument entwickelt haben, um Erkenntnisse zu gewinnen, indem sie die Zufriedenheit der Klienten abfragen. Diese diversen Untersuchungen haben gezeigt, dass es den Menschen durch die Beratung relativ schnell viel besser gegangen ist. Ich selbst habe in der Beratung eine Familie gehabt, die aufgrund der Überschuldungssituation Verwahrlosungstendenzen zeigte. Im Laufe des Beratungsprozesses konnte man allein am Geruch spüren, wie sich mit der Familie etwas veränderte. Man sah auf einmal, dass ihre Kleidung sauberer war, dass sie gepflegter waren, dass sie mit einer positiveren Haltung in die Beratung kamen.

Porträt: Roman Schlag, der vor zwei Caritas-Roll-Ups sitztFoto: Christian Heidrich

Caritas in NRW: Die Ergebnisse, die sie anführen, legen ja den Schluss nahe, der Politik zu empfehlen, allen unabhängig vom Wohnort und vom Geldbeutel den Zugang zu kostenfreier Schuldnerberatung zu ermöglichen. Warum ist es so schwierig, das durchzusetzen?

Roman Schlag: Zunächst einmal kann man vermuten, dass die Politik grundsätzlich das Instrument Schuldnerberatung, wie es in den Gesetzen SGB II und SGB XII geregelt ist, begrüßt und die Politik die Notwendigkeit der Beratung erkannt hat. Weil es durch die Aufteilung der beiden Gesetze keine Auffanggesetze mehr gibt, sind Personenkreise von Schuldnerberatung ausgeschlossen. Ob das Absicht war, ist reine Spekulation. Tatsache ist: Wir brauchen eine Gesetzesänderung. Die Wohlfahrtsverbände und die Arbeitsgemeinschaft der Schuldnerberatung der Verbände (AG SBV) haben eine gemeinsame Positionierung erarbeitet. Sie besagt: Im SGB XII sollte ein Paragraf eingeführt werden, der Schuldnerberatung für alle gewährleistet. Um dafür politische Mehrheiten zu bekommen, heißt es, irrsinnig dicke Bretter zu bohren. Denn eine solche Gesetzesänderung hat zur Konsequenz: In das System Schuldnerberatung muss deutlich mehr Geld investiert werden. Auf kommunaler Ebene scheuen sich die Kämmerer, dafür mehr Geld in die Hand zu nehmen. Es gibt mittlerweile einige Untersuchungen nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich und in der Schweiz, die zeigen: Jeder Euro, der in die Schuldnerberatung investiert wird, liefert fünf Euro zurück, das heißt: Das ist der Betrag, der an Sozialleistungen gespart wird. Das ist sehr konservativ gerechnet. Es bleibt aber dabei: Geld, das in Schuldnerberatung investiert wird, ist sehr gut angelegtes Geld.



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"Die Welle kommt erst noch"

Eine ältere Ehrenamtlich trägt in der Werler Tafel eine Kiste mit Lebensmitteln und lächelt dabei. Im Hintergrund sind zwei weitere Ehrenamtliche und Regale mit verschiedenen Waren zu sehen.Immer mehr Menschen nehmen die Werler Caritas-Tafel in Anspruch. Als Ehrenamtliche engagieren sich dort Karin Gebhardt sowie Dimitri Gossen und Monika Wimmelbrücker (im Hintergrund).Foto: Marcus Bottin

In Werl, einer rund 30000 Einwohner zählenden Wallfahrtsstadt am Hellweg, muss der Leiter der Caritas-
Tafel, Michael Geitmann, mit Sorgen feststellen, dass der Anteil älterer Menschen im Kundenkreis stetig steigt. Wegen des zunehmenden Bedarfs wurde erst vor wenigen Monaten der Samstag als sechster Ausgabetag in der Woche eingeführt. Dass immer mehr Menschen die Dienste der Werler Tafel in Anspruch nehmen, überrascht Geitmann nicht. Im Gegenteil: "Es müssten eigentlich noch viel mehr sein - und zwar ganz besonders ältere Kunden", sagt er. "Aber gerade ältere Menschen entwickeln oft ein Schamgefühl. Der erste Schritt fällt vielen schwer."

Das, so Michael Geitmann, sei bei jüngeren Kunden häufig anders: "Wer schon immer im System gelebt hat, für den ist es eine Selbstverständlichkeit. Der Besuch einer Tafel besitzt für sie eine ganz andere Normalität. Oft waren schon deren Eltern auf Sozialleistungen angewiesen." Dem gegenüber stehen Männer und Frauen, die durch eine sehr kleine Rente erst im Alter in die Armut abrutschen. Für diese Menschen sei es nicht normal, zum Sozialamt zu gehen oder ihre Lebensmittel bei der Tafel zu holen. Aber immer mehr Seniorinnen und Senioren müssen genau das tun. Sonst kommen sie nicht über die Runden.

In der ländlich geprägten Region zwischen Sauerland, Münsterland und Ruhrgebiet ist die soziale Welt schon lange nicht mehr in Ordnung - und Altersarmut tritt immer häufiger offen in Erscheinung. "Werl ist schon ein spezielles Pflaster", findet Geitmann, der neben der Tafel auch das Caritas-Sozialkaufhaus leitet. "Unsere Stadt ist stark geprägt vom Thema Armut." Für die Mitarbeitenden der Werler Tafel bedeutet das jede Menge Arbeit - und auch viele Sorgen. Die Unterstützung durch Bevölkerung, Handel und Wirtschaft sei zwar gut, aber es komme auch zu Engpässen bei der Versorgung. "Wenn wir an unsere Kapazitätsgrenze kommen, rufen wir auch schon mal einen Stopp aus. Dann gibt es keine Neuaufnahmen", sagt der Tafel-Leiter - und merkt ausdrücklich an: "So ein Aufnahmestopp gilt selbstverständlich für alle. Da werden bei uns keine Unterschiede gemacht!"

Bliebe noch die Frage, wie sich die Gesellschaft der Problematik stellt. Ist das Thema Armut überhaupt in den Köpfen der Menschen angekommen? "Nein, noch nicht wirklich", mutmaßt Michael Geitmann. Das merkt er oft, wenn er Besucher empfängt, die zum ersten Mal eine Einrichtung wie die Werler Tafel erleben: "Die sind immer wieder schwer beeindruckt. Das hier ist schon eine Parallelwelt."

Was Michael Geitmann besonders sorgt, sind die Prognosen für die nächsten Jahre. Er befürchtet: "Die Welle kommt erst noch." Wenn er nach seinen Wünschen gefragt wird, antwortet der Werler gerne: "Dass wir überflüssig werden. Dass wir die Tafeln abschaffen können." Aber das wird wohl ein frommer Wunsch bleiben, denn der Chef der Werler Tafel kennt die Zahlen: "Es gibt jetzt schon so viele Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten. Wenn die älter werden und nicht mehr arbeiten können, rutschen sie auch ins System und werden neue Kunden der Tafeln - nur sind sie dann schon 60 plus."



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Auferweckung auf dem Tennisplatz

Porträt: Dr. Boris KrauseDr. Boris Krause, Theologischer Referent beim Caritasverband für die Diözese Münster

Neulich im TV, eine Szene aus "Kroymann" im Ersten: Vier Frauen im reifen Lebensalter, beste Freundinnen, treffen sich auf dem Tennisplatz. Sie reden über Gott und die Welt. Zwischenzeitlich werfen sie sich anerkennende Worte zu, bezogen darauf, wie sie das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen meistern.

Die Krux: Irgendwie schafft es keine der Beteiligten, die Komplimente der anderen wirklich anzunehmen. Jede ist geradezu geübt darin, den potenziell verbalen Balsam an sich abperlen zu lassen. Nur eine Frau fällt aus dem Rahmen und sorgt damit für Irritation. Unverblümt bemerkt sie nämlich: "Ihr habt schon recht: Ich mach das ganz schön gut!" - Stille, verstörte Gesichter, Ende der Szene.

Klar, Eigenlob, noch dazu im Beisein anderer, gilt als Untugend - zumindest haben wir das so gelernt. Doch wie ist es, wenn Zuspruch an Menschen von den Stimmen ihrer inneren Kritikerinnen bzw. Kritiker so torpediert wird, dass davon kaum noch was bis zur Seele vordringt? Ist es nicht häufig so, dass diese Stimmen mehr Macht über uns haben als die der inneren Ermutigerinnen bzw. Ermutiger? Weicht nicht die Freude über den Applaus nach erzieltem Erfolg oft nur wenige Stunden später der nüchternen Frage, was nicht lief oder noch besser hätte sein können?

Nichts gegen den Antrieb, sich verbessern zu wollen. Doch ist festzuhalten, dass vielen Menschen selten bis gar nicht bewusst ist, dass sie im Mutlos-Modus verharren, den sie als Normalität hinnehmen. Es gibt Schätzungen, dass bis zu 75 Prozent der inneren Dialoge, die wir sekündlich unbewusst führen, gegen uns selbst gerichtet sind.

Da lob ich mir den Gedanken von Viktor Frankl: "Ich muss mir von mir selbst nicht alles gefallen lassen." Die Botschaft ist wichtig. Wir können uns trainieren - oder wie die Hirnforschung sagt "neuronal neu vernetzen". Dazu gehört es, die Mutstimmen in uns häufiger laut zu drehen und uns bewusst neue Sätze zuzusprechen, etwa: "Steh auf und geh!" Wenn das wirkt, dann hat das was von Auferweckung, ob im Job, in der Kirche oder auf dem Tennisplatz.

Boris Krause



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Da bleibt kein Cent übrig

Eine Altenheimbewohnerin sitzt neben ihrem Bett in einem Stuhl und hält eine Flasche Handlotion in der Hand. Im Hintergrund ist neben dem Bett ein Nachttisch zu sehen.Das Taschengeld, der sogenannte Barbetrag, ist gesetzlich auf 27 Prozent des Sozialhilfe-Eckregelsatzes festgelegt – aktuell sind das 114,48 Euro. Das Taschengeld fließt aus der Sozialhilfe, Selbstzahler bekommen die Leistung nicht. 2017 bezogen gut 60000 Menschen Sozialhilfe für die Finanzierung ihres Altersheimplatzes.Foto: Achim Pohl

Die alte Dame strahlt übers ganze Gesicht. Sie kommt gerade vom Friseur, der praktischerweise direkt neben dem Aufenthaltsraum im katholischen Marienheim in Essen-Überruhr liegt. Waschen, Schneiden, Legen für 18 Euro. Die Summe bezahlt Maria Brahmkamp* von ihrem Taschengeld.

"Alle zwei Wochen" zum Friseur, das ist der kleine Luxus, den sie sich gönnt, der ihrem Selbstwertgefühl guttut. Ansonsten muss die Seniorin sparsam haushalten. 114 Euro Taschengeld bekommt Maria Brahmkamp, so wie jeder Bewohner, der Sozialhilfe zur Finanzierung seines Heimplatzes bezieht. Das Geld gibt sie vor allem für Medikamente aus, die nicht von der Krankenkasse bezahlt werden: eine Salbe für die schmerzenden Glieder, eine spezielle Creme für die strapazierte Haut. Und dann noch 25 Euro im Monat für Fußpflege und außerdem Batterien fürs Hörgerät, da bleibt kein Cent übrig. "114 Euro sind zu wenig, das reicht in vielen Fällen nicht aus", kritisieren denn auch Pflege-Experten. "Es kommt immer auf die persönliche Situation an", differenziert Dieter Merten, der Leiter des Marienheims. Von den 121 Bewohnerinnen und Bewohnern beziehen 60 Prozent ergänzende Sozialhilfe und somit auch 114 Euro Taschengeld. Es wird am Monatsanfang ausgezahlt oder auf Wunsch vom Pflegeheim auf einem Konto verwaltet. "Es gibt Bewohner, die das Geld nicht anrühren." Das sind vor allem jene, die von fortschreitender Demenz betroffen sind. Bei anderen reicht es vorne und hinten nicht. Zum Beispiel bei Rauchern. Es ist schon vorgekommen, dass Bewohner den Aschenbecher nach Zigarettenstummeln durchsucht haben. "Das ist tragisch", so Merten. Eine Lösung, etwa Entwöhnung, sieht er nicht: "Sie können keinem Menschen, der sein Leben lang stark geraucht hat, sagen: So, ab jetzt nur noch fünf Zigaretten am Tag. Das funktioniert nicht."

Ursula Schäfer* ist Raucherin. "Ohne meine Söhne käme ich nicht klar", sagt die Rollstuhlfahrerin. Die beiden Söhne spendieren ihr die Zigaretten für 200 Euro im Monat. Sie ist dankbar für die Unterstützung. Denn Ursula Schäfer ist der Meinung, dass es nicht Aufgabe der Gesellschaft sei, den Tabakkonsum zu finanzieren. Dabei denkt die 72-Jährige an die jüngere Generation, die das Ganze schließlich durch Sozialabgaben finanzieren müsse.

Apropos jüngere Generation: "Eine Tafel Schokolade für den Enkel musste immer in der Schublade sein. Meiner Mutter war es ganz wichtig, dass sie auch etwas geben konnte", erzählt Inge-Hedwig Leifeld, die auch nach dem Tod ihrer Mutter weiter im Heimbeirat sitzt. Finanziert hat die Seniorin die kleinen Geschenke von ihrem Taschengeld. "Dafür hab ich ihr die Haare geschnitten, sonst hätte es nicht gereicht", erklärt die Tochter.

Teilhabe am kulturellen Leben - dafür verwende keiner der Bewohner sein Taschengeld, so Dieter Merten: "Das Durchschnittsalter liegt bei 85, viele sind über 90. Die gehen abends nicht mehr in die Oper."

Doch für die Bewohner, die Medikamente benötigen, die die Krankenkasse nicht bezahlt, wünscht sich Helga Schwarz vom Heimbeirat eine flexiblere Regelung. Und ebenso für diejenigen, die im Alter stark zu- oder abnehmen und deshalb neue Kleidung brauchen. Mit dem Taschengeld und dem monatlichen Bekleidungszuschuss von 20 Euro komme man nicht weit.



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Einmal noch den Geruch von frischen Waldpilzen …

Ein Malteser-Herzenswunsch-Krankenwagen, der vor einem Wald steht. Neben dem Wagen steht eine Krankenbahre mit einem Patient und vier Helfer/innen.Begleitet wurde Fritz Gerhardt bei seinem letzten Ausflug auch von einem "Pilze & Wald"-sachkundigen Diepentaler Anwohner.Foto: Malteser Hilfsdienst

Es ist schon eine ungewöhnliche Wandergruppe, die sich durch das dichte Grün des Naherholungsgebiets Diepental in Leichlingen bei Leverkusen bewegt. Mittendrin Fritz Gerhardt* auf einer mobilen Krankenliege, die von zwei Malteser-Rettungssanitätern über die ein oder andere Unebenheit befördert wird. Herr Gerhardt ist im fortgeschrittenen Stadium an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt. Seine Tage sind gezählt. In der kurzen Zeit, die ihm noch bleibt, denkt er viel über Vergangenes nach, die Zeit vor der Erkrankung, die vielen schönen Momente. Zum Beispiel daran, wie er über 40 Jahre zusammen mit seiner Frau in den Wald gefahren ist, um dort Pilze zu suchen. Noch einmal den Geruch von frischen Waldpilzen in der Nase zu spüren - das ist sein Herzenswunsch.

Dass dieser im Diepental erfüllt werden konnte, ist ein Verdienst der Initiative "Malteser- Herzenswunsch-Krankenwagen". Mit dem vollständig ausgestatteten Krankentransporter können Menschen mit lebensverkürzenden Krankheiten an Erinnerungsorte oder zu Veranstaltungen und Familienfeiern gebracht werden. Das Lebensalter der Fahrgäste reicht von kleinen Kindern bis zu Menschen im hohen Alter. Eines aber haben sie alle gemeinsam: Ihr Leben neigt sich dem Ende entgegen, und sie haben nicht die logistischen oder finanziellen Möglichkeiten, sich ihren letzten Wunsch selbst zu erfüllen.

"Wir erleben bei jeder Fahrt sehr berührende Momente und das wunderbare Gefühl, Menschen auf ihrem letzten Weg noch ein ganz besonderes Erleben ermöglicht zu haben", sagt Brigitte Münster*, eine von über 140 geschulten Ehrenamtlichen, die die Fahrten des Herzenswunsch-Krankenwagens begleiten. Die Fahrt ist für die Gäste und ihre Angehörigen kostenlos und wird komplett über Spenden finanziert.

Eine Mitarbeiterin und ein Mitarbeiter des Malteser Hilfsdienstes schieben eine Krankenbahre durch einen Wald. Die Mitarbeiterin dreht sich dabei um und lächelt in die Kamera.Foto: Malteser Hilfsdienst

Wünsche müssen zügig erfüllt werden

Die Wünsche, die der Herzenswunsch-Krankenwagen schon erfüllt hat, sind vielfältig: das letzte Mal die besten Freunde oder das geliebte Pony besuchen, einmal noch das Meer sehen oder ein Fußballspiel des Lieblingsvereins im Stadion anschauen. Über die Realisierung entscheidet das Malteser-Herzenswunsch-Team innerhalb von 48 Stunden. "In der Regel müssen wir die Wünsche zügig umsetzen, denn oft bleibt nicht viel Zeit", so Ina Plitt-Trümpler, zuständig beim Malteser Hilfsdienst in Köln für den Herzenswunsch-Krankenwagen. "Darum sind wir auch sehr an einer intensiven Zusammenarbeit mit Hospizdiensten, Palliativstationen und weiteren sterbebegleitenden Einrichtungen interessiert, damit wir frühzeitig von den Wünschen unserer potenziellen Fahrgäste erfahren. Es kommt leider immer wieder vor, dass diese zu spät geäußert werden und nicht mehr erfüllt werden können", fährt Plitt-Trümpler fort. Ein Grund, warum nun auch der Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln in seinen Einrichtungen und Diensten intensiv Werbung für den Herzenswunsch-Krankenwagen macht. "Ich habe höchsten Respekt vor dem Malteser-Organisationsteam, das das möglich macht, und vor den Helfenden, die ihre Zeit dafür einsetzen, diese Menschen auf ihrer vielleicht letzten Reise zu begleiten. Es ist unser Anliegen in unserer Funktion als Dachverband, die Verantwortlichen in den Einrichtungen und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort zu motivieren, in persönlichen Gesprächen mit den ihnen anvertrauten Menschen und deren Angehörigen Herzenswünsche in Erfahrung zu bringen, die das Malteser-Team dann erfüllt. Ich glaube, dass noch viel zu wenige Menschen von diesem Angebot wissen und viele Wünsche darauf warten, erfüllt zu werden", erläutert Dr. Helmut Loggen, stellvertretender Diözesan-Caritasdirektor, das Engagement seines Verbandes.

Fritz Gerhardt konnte den Geruch seiner geliebten Waldpilze übrigens gerade noch rechtzeitig genießen. Wenige Tage nach diesem außergewöhnlichen Erlebnis verstarb er an seiner schweren Erkrankung.

Sie möchten einem schwersterkrankten Menschen seinen Herzenswunsch erfüllen? Dann nehmen Sie gerne Kontakt auf mit:

E-Mail: herzenswunsch.koeln@malteser.org
Telefon: 0800 33 00 102
Web: www.malteser-herzenswunsch.de



* Namen geändert

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Die Rückkehr der Altersarmut – unaufhaltsam?

Eine Seniorin sitzt auf einem grünen Stuhl und blickt lächelnd in die KameraDie Botschaft bisher: "Arbeite länger, habe weniger, spare mehr!"Foto: Michael Kottmeier, K-Film

Noch heißt es im Fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2017 lapidar: "Den maßgeblichen Kennziffern zufolge stellt Armut im Alter heutzutage für die große Mehrheit der Senioren kein drängendes Problem dar." Das hört sich beruhigend an. Weniger gut sieht es allerdings aus, wenn man sich die konkreten Zahlen anschaut. Die Armutsgefährdungsquote der 65-Jährigen und Älteren in Deutschland lag 2018 bei 14,7 Prozent. Das entspricht in der Tat ungefähr der Quote von 15,5 Prozent für die Gesamtbevölkerung - was allerdings doch wohl heißt, dass Armut für eine ziemlich große Minderheit in Deutschland sehr wohl ein drängendes Problem darstellt: 15,5 Prozent von rund 83 Millionen Einwohnern, das sind knapp 13 Millionen Menschen, junge wie alte.

Was speziell die Altersarmut angeht, ist die Entwicklung der Armutsgefährdungsquote in den letzten Jahren sehr bezeichnend. Im Jahr 2006 lag diese für Senioren noch bei 10,4 Prozent. Seitdem ist sie kontinuierlich auf 14,7 Prozent angestiegen - so stark wie für keine andere Altersgruppe. Der sich hier klar abzeichnende Trend bestätigt sich, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass im gleichen Zeitraum, also von 2006 bis 2018, die Zahl der Empfängerinnen und Empfänger von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung von 681991 auf 1078521 gestiegen ist. Frappant ist auch die wachsende Verschuldung von Rentnerinnen und Rentnern. Nach Angaben der Wirtschaftsauskunftei Creditreform hat sich die Zahl der überschuldeten Senioren von 2013 bis 2019 um sage und schreibe 243 Prozent erhöht. Die Experten von Creditreform sehen deshalb einen "Doppeltrend zu Altersarmut und Altersüberschuldung". Kennerinnen und Kenner der Materie waren von dieser Entwicklung keineswegs überrascht; vielmehr hatten nicht wenige sogar ausdrücklich davor gewarnt. Und auch heute muss man keine Kassandra sein, um vorherzusagen, dass sich das Problem verschärfen und die Zahl der Betroffenen weiter ansteigen wird, wenn keine politischen Gegenmaßnahmen getroffen werden. Es ist deshalb kein Alarmismus, von einer Rückkehr der Altersarmut zu sprechen.

Eine Seniorin in einem orange-roten BademantelVon Altersarmut betroffen sind meistens alleinstehende Frauen, Langzeitarbeitslose und Menschen ohne Berufsabschluss.Foto: Michael Kottmeier, K-Film

Grundlegend verändert wurde diese Situation erst durch die große Rentenreform von 1957. Deren erklärtes Ziel war laut Gesetzentwurf "eine Lebensgrundlage, die den Rentner aus der Nähe des Fürsorgeempfängers in die Nachbarschaft des Lohnempfängers rückt". Durch die Reform von 1957 kam es nicht nur zu einer spürbaren Erhöhung der Renten, sondern es wurde auch die dynamische Anpassung der Rentenhöhe an die Bruttolohnentwicklung eingeführt. Das gelang durch einen Wechsel vom Kapitaldeckungs- zum Umlageverfahren. Die Wählerinnen und Wähler dankten es Konrad Adenauer, indem sie seinen Unionsparteien bei der Bundestagswahl 1957 eine absolute Mehrheit bescherten - das erste und einzige Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass das einer Partei gelang.

Der Rückbau des Rentensystems begann 1992

Die bittere Wahrheit ist: Genau wie die weitgehende Beendigung der Altersarmut in den 50er-Jahren hat auch deren Rückkehr politische Gründe. Der Rückbau des Rentensystems begann bereits 1992 mit dem Wechsel von der bruttolohn- zur nettolohnbezogenen Anpassung der Renten. Wesentlich einschneidender aber waren die Rentenreformen der rot-grünen Schröder-Regierung. Der damalige Wirtschaftsweise Horst Siebert brachte die Maßnahmen auf die treffende Kurzformel: "Arbeite länger, habe weniger, spare mehr!" Zunächst wurde 2002 die Deckelung des Rentenbeitrags eingeführt. Dieser sollte bis 2020 auf nicht mehr als 20 Prozent und bis 2030 auf nicht mehr als 22 Prozent steigen. Zum Ausgleich der damit verbundenen Senkung des Rentenniveaus wurde die Riester-Rente auf den Weg gebracht, die eine Teil-Privatisierung der Altersvorsorge bedeutete. 2004 wurde der Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentenanpassungsformel eingeführt, also die Berücksichtigung des zahlenmäßigen Verhältnisses von Rentnerinnen und Rentnern zu Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern bei der Berechnung der Rentenhöhe.

Eine Seniorin mit verschränkten Armen, die zur Seite blickt3,2 Prozent der Menschen im Alter beantragen Grundsicherung, ihre Rente liegt also unter dem Existenzminimum. Viel mehr verzichten aus Scham oder Unwissenheit auf die Beantragung. Das Quartiersprojekt der Caritas Gelsenkirchen bietet den Menschen im Stadtteil Scholven eine Anlaufstelle.Foto: Achim Pohl

Natürlich wurden diese politischen Maßnahmen nicht willkürlich getroffen. Sie wurden vor allem als notwendige Antworten auf den demografischen Wandel dargestellt. Das aber ist hier nicht das Thema. Unabhängig davon, ob die Rentenreformen gut oder schlecht begründet waren: Sie haben zu einem steten Sinkflug bei den Renten geführt. 1990 lag das Standardrentenniveau, also der Wert, der das Verhältnis der Durchschnittsrente zum Durchschnittseinkommen angibt, noch bei 55,0 Prozent; seither ist es um knapp sieben Prozentpunkte auf 48,16 Prozent im Jahr 2019 gefallen. Das ist nahe an dem bis 2025 garantierten Mindestrentenniveau von 48 Prozent. Danach kann das Rentenniveau bis 2030 weiter auf bis zu 43 Prozent fallen. Die Folge ist, dass sich die gesetzliche Rente von der Idee der Lebensstandardsicherung weitgehend verabschiedet. Rentnerinnen und Rentner rücken damit wieder - in Umkehrung der Begründung der Rentenreform von 1957 - aus der Nähe des Lohnempfängers in die Nachbarschaft des Fürsorgeempfängers. Erschwerend kommt hinzu, dass dieser Rückbau des Rentensystems in einer Zeit stattfindet, in der atypische Beschäftigungsverhältnisse zunehmen und viele Erwerbsbiografien nicht mehr geradlinig verlaufen, sondern vermehrt Brüche mit Phasen der Erwerbslosigkeit aufweisen. Und man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass sich dieser Trend mit dem digitalen Wandel der Arbeitswelt noch verstärken wird. Für immer mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wird es deshalb schwer, Rentenansprüche zu erwerben, die über dem Grundsicherungsniveau liegen.

Die Politik hat das Problem inzwischen erkannt und auch erste konkrete Maßnahmen unternommen, wie Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente und die gerade beschlossene Grundrente, durch die ab 2021 diejenigen Rentnerinnen und Rentner, die als Geringverdiener lange Jahre Beiträge gezahlt haben, bessergestellt werden. Dadurch ist wenigstens einmal der Trend umgekehrt, dass mit jeder Rentenreform eine Verschlechterung der Leistungen einhergeht. Das drohende Scheitern der Rentenkommission der Bundesregierung führt aber vor Augen, dass die eigentliche Frage noch ihrer Beantwortung harrt: die zukünftige, über das Jahr 2025 hinausreichende Ausgestaltung des Rentensystems zwischen den Zielen soziale Gerechtigkeit, auch Generationengerechtigkeit, und Nachhaltigkeit. Die Überwindung der Altersarmut war eine der großen sozialen Errungenschaften in der Nachkriegszeit. Es wäre ein politisches Armutszeugnis sondergleichen, wenn heute, wo Deutschland eines der reichsten Länder der Welt ist, die Politik sich nicht auf nachhaltige Maßnahmen gegen die Rückkehr der Altersarmut verständigen könnte.



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33 Beitragsjahre sind zu viel

Porträt: Sabine DepewSabine DepewFoto: Nicole Cronauge

Zehn Euro sind schnell ausgegeben: Brot, Margarine, Marmelade und Käse, eine Flasche Mineralwasser, ein Netz Kartoffeln und Zwiebeln, vielleicht noch Seife oder Shampoo - wenn noch etwas Frisches auf den Tisch soll und ein Paket Kaffee fällig wird, dann gehören eine Büchse Cola und ein paar Kekse schon zum Luxus, und übrig bleibt gar nichts.

Weniger als zehn Euro täglich: Das ist für immer mehr Rentner und Rentnerinnen Alltag, sie gelten als armutsgefährdet. Inzwischen betrifft das drei Millionen alte Menschen in Deutschland, und die Zahl steigt.

Viele dieser Menschen habe ein Leben lang gearbeitet und eine Rente erwirtschaftet, mit der man nach Abzug der Fixkosten kaum über die Runden kommen kann. Mit rezeptfreien Medikamenten wie etwa Schmerzmitteln wird deshalb geknausert. Reparaturen werden möglichst herausgezögert. Kleidung sitzt nicht drin, Kino, Theater, Geschenke für die Enkel schon gar nicht.

Die Prognosen besagen, dass Altersarmut in den nächsten 15 Jahren weiterhin und eklatant zunehmen wird. Das ist dem Umstand geschuldet, dass immer mehr Menschen im Niedriglohnsektor arbeiten, Teilzeit beschäftigt sind oder unterbrochene Erwerbsbiografien haben. Die Familie ist bei vielen schon lange kein Garant mehr für eine wirtschaftliche Versorgung. Erschwerend kommt hinzu, dass fast zwei Drittel der armen Seniorinnen und Senioren, die Anspruch auf Grundsicherung im Alter hätten, aus Scham auf einen Antrag verzichten und stattdessen eher an Heizung und Essen sparen.

Auch Verschuldung spielt zunehmend eine Rolle. Wenn auch die Verschuldungsquote der Rentner über 70 Jahre (drei Prozent) deutlich unter den Vergleichswerten anderer Altersgruppen (10 Prozent) liegt, so zieht der Faktor für Rentner dennoch an: Von 2013 bis 2019 um 243 Prozent, davon allein im Berichtsjahr 2018/19 um 45 Prozent, meldet der "Schuldner-Atlas" der Creditreform Wirtschaftsforschung.

Wie andere Wohlfahrtsverbände auch bietet die Caritas Akut-Hilfe in ihren Suppenküchen und Kleiderkammern, Sozialkaufhäusern und Beratungsdiensten. Eigentlich geht es uns Sozialverbänden aber nicht darum, die Lücken in unserem Gesellschaftssystem mit dem zu füllen, was früher "Armenspeisung" hieß. Sondern wir streiten für gerechte, einklagbare Leistungen, damit Bürger im Ruhestand ein menschenwürdiges Auskommen haben.

Die geplante Grundrente ist ein Schritt in die richtige Richtung. Wer mindestens 35 Beitragsjahre in der Rentenversicherung nachweisen kann, jedoch eine Rente unterhalb der Grundsicherung bekommt, soll ab Januar 2021 dank einer Aufwertung von Beitragszeiten eine Grundrente erhalten. Ab 33 Erwerbsjahren mit Beiträgen auch aus Kindererziehungs- und Pflegezeiten sollen gestaffelte Zuschläge gezahlt werden.

Wir als Caritas finden gut, dass die Grundrente nicht eigens beantragt werden muss, sondern von der Rentenversicherung automatisch berechnet wird. So wird denen, die sich dafür schämen, die Bedarfsprüfung erspart. Hochproblematisch sehen wir aber die Bemessungszeit von 35 bzw. 33 Beitragsjahren für strukturschwache Regionen wie das Ruhrgebiet. Eine schwache Wirtschaft und schlechte Rahmenbedingungen sorgen in der Ruhrregion für höhere Arbeitslosigkeit als anderswo. Duisburg und Essen bilden hier die Schlusslichter. Man kann es den Menschen nicht anlasten, wenn sie in Städten leben, die seit 25 Jahren in der Haushaltssicherung sind und deshalb in Fragen der Bildung und Erwerbsförderung ihrer Bürger keine großen Sprünge machen können. Altersarmut ist nicht nur ein Problem des Einzelnen, sie ist ein gesamtgesellschaftliches Problem.

Die Caritas im Ruhrbistum fragt sich, warum das Thema "Altersarmut" in der Ruhrkonferenz der NRW-Landesregierung keine Rolle spielt. Wenn nicht dort, so muss Altersarmut auf einen Runden Tisch auf Landesebene. Dort geht es zunächst dringend darum, über einen Sonderfonds Ruhrgebiets-bürgern den Zugang zur geplanten Grundrente zu ermöglichen. Langfristig ist es natürlich wünschenswert, dass die Menschen über einen adäquaten Mindestlohn und ein sicheres Rentenniveau ihren Lebensabend aus eigenen Kräften absichern können.

Kontakt

Facebook: Sabine Depew
Twitter: @Sabine Depew



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"Wir haben gelernt, bescheiden und sparsam zu sein"

Vier Frauen, die im Treffpunkt 'Annahaus' in Bergisch Gladbach an einem gedeckten Tisch sitzenKaffee-Treff im ­Annahaus in Bergisch Gladbach: Jeweils montags treffen sich hier bis zu einem Dutzend Damen aus der Nachbarschaft.Foto: Jo Schwartz/Diözesan-Caritasverband Köln

Brigitte M. ist aufgebracht. Zehn Euro mehr Miete im Monat verlangt die Wohnungsbaugesellschaft. Vor einigen Tagen kam der Brief mit der Ankündigung einer Mieterhöhung. Statt 470 soll sie künftig 480 Euro zahlen, kalt. Dazu kommen noch Strom, Heizung und Wasser. "Das spare ich mir vom Essen ab", sagt die 81-Jährige trotzig in Richtung ihrer elf Jahr älteren Tischnachbarin. Ihre Wangen sind vor Aufregung ganz rot. "Ich habe der Erhöhung zugestimmt, aber nur, weil ich keine Scherereien will. Die habe ich schon genug."

Die Nachbarin, Ursula R. (92), zieht die Brauen hoch, hat Verständnis für die Aufregung: "Das ist viel, wenn man eh nicht viel hat." Brigitte M., seit 1975 Witwe, muss mit knapp 900 Euro Rente im Monat auskommen. Zu wenig, um sich etwas zu gönnen, zu viel, um Grundsicherung beantragen zu können. Nach Abzug von Miete, Nebenkosten und Ausgaben für Arzneien - allein 50 Euro im Monat für Herzmedikamente - bleiben ihr 50 bis 60 Euro in der Woche zum Leben. Das hat sie ausgerechnet.

Eine Seniorin, die sich mit ihrem rechten Arm an einem Tisch abstütztUrsula R. – die 92-Jährige ist die Älteste in der Runde.Foto: Jo Schwartz/Diözesan-Caritasverband Köln

Vier- bis fünfmal in der Woche schiebt sie ihren Rollator die gut 100 Meter über die Schmidt-Blegge-Straße in Bergisch Gladbach zur Caritas. Hier, in der Begegnungsstätte Annahaus, trifft sie betagte Damen und manchmal auch einige Herren aus der Nachbarschaft. Die meisten zwischen 80 und Anfang 90. Das Annahaus serviert mittwochs und freitags ein warmes Mittagessen, den Eintopf für 4,50 Euro, das Menü für 5,50 Euro. Donnerstags gibt’s Frühstück und heute - am Montagnachmittag - Kaffee und Kuchen. Rund 50 Seniorinnen und Senioren aus der Umgebung nutzen regelmäßig die Angebote des Annahauses.

Diesmal sind sechs Damen gekommen, sie alle verbindet: Ihre Männer sind zum Teil schon vor Jahren verstorben - und das Geld wird bei vielen von ihnen zum Monatsende knapp.

Für immer mehr Menschen in Deutschland reicht die Rente nicht zum Leben: Fast 1,1 Millionen Personen bezogen Ende 2018 Grundsicherung im Alter, teilt das Statistische Bundesamt mit. 2005 waren es nur gut halb so viele. Anspruch auf Grundsicherung hätten noch weit mehr Menschen. Allein: Viele schämen sich für ihre Armut und verzichten auf den Weg zum Amt.

Scham spielt auch bei den Damen an der Kaffeetafel eine Rolle. Keine von ihnen bezieht Grundsicherung. "Wir haben gelernt, bescheiden und sparsam zu sein", sagt Irmgard W., und sofort pflichten die anderen Damen der 85-Jährigen nickend bei. Alle erinnern sich an schlimme Zeiten, den Krieg, zerstörte Städte, Hunger. Zwei der Frauen flüchteten nach Kriegsende aus Schlesien in den Westen Deutschlands. "Ich habe alles erlebt", sagt Brigitte G. (82), "Tieffliegerangriffe auf der Flucht im Viehwaggon, Leichen, die neben der Bahnstrecke lagen. Als ich acht Jahre alt war, stand ich mit meiner Mutter auf einer Wiese in Bayern, und niemand wollte uns aufnehmen." Je älter sie werde, desto präsenter werde die Kindheit wieder, sagt sie. "Aber manchmal denke ich, ich klage auf hohem Niveau. Wir sind doch bisher mit allen Sachen fertiggeworden!"

Eine Seniorin lachend in die Haare greiftBrigitte G. (82) kam 1945 als Achtjährige aus Niederschlesien nach Westdeutschland. Die Flucht wird sie nie vergessen.Foto: Jo Schwartz/Diözesan-Caritasverband Köln

Das Leben habe sie robust gemacht, meint auch Brigitte M. - die schlimmen Erfahrungen, etwa der frühe Tod ihres Mannes, hätten sie abgehärtet. Und Ursula R. pflichtet ihr bei: "Wer nur die fetten Jahre kennengelernt hat, also die Geburtsjahrgänge ab 1960, der tut sich doch viel schwerer, wenn es mal nicht so läuft." Was Altersarmut angehe, habe sie viel mehr Angst um ihre Tochter, die auch schon über 60 sei, als um sich selbst.

Christel S. ist 85 und hat sieben Kinder großgezogen, drei sind bereits gestorben. Für eine richtige Ausbildung war nie Zeit. Eine Zeit lang arbeitete sie im Haushalt einer Industriellenfamilie, doch mit dem ersten Kind blieb sie zu Hause. Heute habe sie eine "sehr kleine Rente", wie viel, möchte sie nicht sagen. "Es reicht, um über die Runden zu kommen." Ihr jüngster Sohn helfe ihr bei den Einkäufen. Gelegentlich, sagte sie, "gönne ich mir etwas. Dann gehe ich essen in ein kleines türkisches Restaurant." Mehr sei aber nicht drin.

Alle Frauen haben Kinder und Enkel, einige auch Urenkel. Zu den Gewohnheiten ihrer Generation gehört: Die klassische Rollenverteilung wurde selten hinterfragt. Der Mann verdiente das Geld, machte Karriere, die Frau blieb zu Hause, kümmerte sich um Haushalt und Kinder. Die Folge: eine manchmal winzige Rente. Immerhin: Wo das Geld fehlte, sprang die Familie ein, erzählen die Damen.

"Der Zusammenhalt innerhalb der Familie war immer gut und ist mir ganz wichtig", sagt Ursula R., die 92-Jährige. Der helfe über manche schwierige Situation hinweg, etwa als vor einigen Jahren ihre Tochter starb. Ihr Eindruck ist, dass heute nur noch der Einzelne zählt. "Jeder möchte sich nur noch selbst verwirklichen. Läuft es dann aber schief, fehlt die Familie, die einen auffangen kann."

Eine Seniorin, die ihren linken Zeigefinger hebtIrmgard W. (85) sagt von sich, dass sie gelernt habe, sparsam zu sein. Heute helfe ihr das mit einer kleinen Rente.Foto: Jo Schwartz/Diözesan-Caritasverband Köln

Und der Staat, sollte der nicht einspringen, wenn es finanziell eng wird? "Wir können uns nicht immer auf den Staat verlassen", sagt Ursula R. Die Grundrente zum Beispiel - ja, die sei gut, "aber die darf den Leuten doch nicht einfach so ohne Voraussetzung ausgezahlt werden", meint Brigitte M., die 81-Jährige. "Wer Unterstützung möchte, der muss dafür auch was tun."

Vor fünf Jahren, erzählt sie, habe sie sich die Zähne machen lassen müssen. Ein vierstelliger Betrag wurde fällig - als Zuzahlung. Mit dem Zahnarzt vereinbarte sie eine Ratenzahlung, der räumte ihr sogar einen Rabatt ein. Es reichte trotzdem nicht. Also ging sie mit 75 noch einmal arbeiten. Sie jobbte in einer Wäscherei. Es wirkt, als sei sie sogar etwas stolz darauf - es aus eigener Kraft geschafft zu haben.

Heute würde sie nicht mehr arbeiten können. Deshalb wurmt sie die Mieterhöhung um zehn Euro auch so. Stärker als vor einigen Jahren achtet sie jetzt beim Einkauf auf Sonderangebote. "Ich habe keine andere Wahl. Ich bin nicht mehr so frei."

"Wir brauchen eine Gesetzesänderung"

Porträt: Roman Schlag, der vor zwei Caritas-Roll-Ups stehtRoman Schlag ist Referent für allgemeine Sozialberatung, Arbeitslosigkeit, Armut, Schuldnerberatung beim Diözesan-Caritasverband Aachen und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Schuldnerberatung der Verbände (AG SBV) auf Bundesebene.Foto: Christian Heidrich

Caritas in NRW: Herr Schlag, wie viele Menschen sind in Deutschland überschuldet?

Roman Schlag: In Deutschland sind rund 6,9 Millionen Menschen überschuldet. Betroffen sind rund 3,5 Millionen Haushalte, die ihren Zahlungsverpflichtungen nicht mehr im erforderlichen Umfang nachkommen können.

Caritas in NRW: Ist das eine hohe Zahl?

Roman Schlag: Das ist eine sehr hohe Zahl. Wir müssen nämlich sehen, dass wir bei der Anzahl der überschuldeten Menschen nur von erwachsenen Personen sprechen. Setzt man die Zahl der überschuldeten Menschen in Relation zu der Anzahl Erwachsener an der Gesamtbevölkerung können wir sagen, dass gut zehn Prozent der Erwachsenen in Deutschland überschuldet sind.

Caritas in NRW: Wie definieren Sie Überschuldung?

Roman Schlag: Grundsätzlich lässt sich Überschuldung nicht immer trennscharf definieren. Der Übergang von der Ver- zur Überschuldung ist fließend. Sehr treffend ist wohl die Definition, dass Überschuldung vorliegt, wenn Verbindlichkeiten eingegangen sind und diese nach Abzug der fixen Lebenshaltungskosten zuzüglich Ernährung und sonstigem notwendigen Lebensbedarf nicht mehr bedient werden können.

Caritas in NRW: Was bedeutet es für Menschen, überschuldet zu sein?

Roman Schlag: Für Betroffene ist Überschuldung viel dramatischer als es sich zunächst anhört. Es hört sich ja ein bisschen so an wie: Ich kann nicht mehr bezahlen. Aber eigentlich ist es viel schlimmer. Überschuldung bedeutet: Auf der Einzelperson oder der Familie lastet ein enormer Druck. Zum einen bauen die Gläubiger einen großen Druck auf, seinen Zahlungsverpflichtungen doch bitte nachzukommen. Zum anderen macht der eigene Wunsch, seinen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen, den Betroffenen selbst einen großen Druck. Überschuldete Menschen stecken den Kopf nicht in den Sand und sagen: ‚Nach mir die Sintflut.‘ Sie wollen ja irgendwie zahlen. Der Druck, der zum Beispiel in Familien herrscht, lässt Probleme zu Tage treten, die zuvor gar nicht im Blick waren: Beziehungskrisen und Ehekrisen sind die Regel. Es gibt massive Auswirkungen auf Kinder. Kinder spüren, dass etwas in der Familie nicht stimmt. Mit ihnen wird aber nicht gesprochen. Sie können das auch nicht richtig einordnen. Sie sehen aber, dass sich die Familie manche Dinge nicht mehr leisten kann. Die Situation ist angespannt, es kommt zu Aggressionen und Depressionen. Überschuldung hat nicht nur finanzielle Konsequenzen, sondern auch massive psychische Auswirkungen.

Porträt: Roman Schlag, der mit verschränkten Händen an einem Tisch vor zwei Caritas-Roll-Ups sitztFoto: Christian Heidrich

Caritas in NRW: Geht das sogar so weit, dass sich auch das gesellschaftliche Leben der Betroffenen verändert? Ich denke an das Stichwort Teilhabe.

Roman Schlag: Das kann sich massiv verändern. Menschen können ihr Eigenheim verlieren, werden in eine viel kleinere Wohnung ziehen müssen. Das Wohnumfeld verändert sich, wenn ich mir die Wohnung nicht mehr leisten kann, weil die Miete zu teuer geworden ist. Ich werde Dinge wie Besuche im Zoo, im Theater, im Kino nicht mehr einfach so machen können. In der Extremphase habe ich einen täglichen Kampf, ob ich mir die Dinge des täglichen Bedarfs noch leisten kann.

Caritas in NRW: Sie brachten eben das Stichwort Eigenheim. Daraus schließe ich: Überschuldung trifft nicht nur diejenigen, die generell wenig Geld zur Verfügung haben, sondern auch Menschen, die sich einen gewissen Lebensstandard erarbeitet haben, etwa ein Eigenheim.

Roman Schlag: Das ist in der Tat so. Statistisch gesehen sind aber Menschen mit einem relativ geringen und knappen Einkommen stärker gefährdet, in eine Überschuldung abzurutschen. Schauen wir aber in die Beratungsstellen, sehen wir, dass das gesamte Spektrum unserer Gesellschaft dorthin kommt. Leitende Beamte haben wir auch schon in der Beratung gehabt. Bei diesen Personen zeigt sich häufig, dass die Überschuldung viel später eintritt und die finanziellen Verhältnisse umso schwieriger sind. Die Berater bekommen es dann mit sehr komplexen Schuldenkonstruktionen zu tun.

Caritas in NRW: Gibt es einen typischen Weg in die Überschuldung?

Roman Schlag: Es gibt Klassiker. Das zeigt auch die Statistik. Einer ist Arbeitslosigkeit, ein anderer ist eine Trennung oder Scheidung und der dritte ist Krankheit. Das sind die drei größten Hauptverursacher von Überschuldung. In eine Überschuldung gerate ich dann, wenn ich Ereignisse, die ich nicht geplant habe, bei der Kreditaufnahme, beim Darlehensvertrag oder beim Ratenkauf nicht berücksichtigt habe. Dann bricht mein Finanzierungsgebäude zusammen. Ich kann Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen. Im ersten Schritt versuchen die Betroffen weiterhin, ihr Konto kontinuierlich zu überziehen und schöpfen das bis ans Limit aus. Irgendwann merkt die Bank das, und sie macht das Spiel nicht mehr mit. Dann wird versucht, umzuschulden. Hat die erste Umschuldung geklappt, ist mein Schuldenberg ja nicht geringer geworden. Ich habe lediglich eine Ratenverpflichtung verlagert. Es beginnt ein Teufelskreis. Meistens geht das wieder mit einer weiteren Kontoüberziehung einher. Ich versuche - so paradox das klingt -, Löcher zu stopfen mit Löchern, die ich auf der anderen Seite reiße. Wenn dann die Mahnbescheide oder gar die Vollstreckungsbescheide eintreffen, ist die Überschuldung schon sehr massiv.

Porträt: Roman Schlag, der an einem Tisch sitzt und einen Stift in seinen Händen hält. Vor ihm liegt eine Ausgabe der Zeitschrift 'Caritas in NRW' und einige Notizen.Foto: Christian Heidrich

Caritas in NRW: Wer ist aus Ihrer Sicht verantwortlich dafür, dass Menschen in Überschuldung geraten? Sind es die Betroffenen selber? Oder sind es auch Faktoren von außen?

Roman Schlag: Natürlich kann man sagen: Den Vertrag unterschrieben oder den Kauf auf Raten abgeschlossen hat der Klient erst einmal selbst. Das ist seine Verantwortung. Aber diese alleine bei ihm zu belassen, wäre viel zu kurz gedacht. Schulden zu machen und sich zu verschulden ist heute ein ganz normaler Vorgang. Wenn es das in unserem Wirtschaftssystem, das auf Konsum ausgerichtet ist, nicht gäbe, würde die Zahl der Arbeitslosen massiv steigen. Unser Wirtschaftssystem legt es darauf an, dass Menschen Ratenzahlungen eingehen. Und natürlich gibt es ganz viele Verlockungen. Da gibt es Produkte, die werben mit ‚heute kaufen und morgen bezahlen‘. Da entsteht der Eindruck: Das kann ich mir leisten, das bekomme ich schon hin. Wenn über Dritte Darlehen oder Kredite für Produkte vermittelt werden, schaut man nicht so genau, ob ich mir das leisten kann. Ich habe das Produkt ja nicht für 2.000 Euro gekauft, sondern erhalte es für 40 oder 50 Euro Rate. Das schafft man irgendwie immer, denkt man sich. Man spricht da von Anbieterverhalten. Der Konsument reagiert auf ein Angebot, das ihm sehr schmackhaft gemacht wird.



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Schneller schuldenfrei

Eine Seniorin, die Kleingeld und eine leere Geldbörse in den Händen hält. Der Foto ist auf die Hände der Seniorin fokussiert.933 Beratungsfälle zählte die Schuldnerberatung der Caritas Rheine im vergangenen Jahr. Manchen reicht ein einmaliges Gespräch. In Einzelfällen hat Schuldnerberater ­Stefan Beckmann Klienten schon über zehn Jahre begleitet.Foto: Achim Pohl

Plötzlich steht vor dem Kontostand ein Minus, und die Zahl dahinter wächst. Das Geld ist knapp, der Druck nimmt zu. Für Menschen, die Schulden haben, ist es nicht selten mit Scham verknüpft, darüber zu sprechen. Dabei ist gerade dann professionelle Hilfe besonders wichtig, wenn der Dschungel aus Forderungen und Gläubigern dichter wird.

Einen Lichtblick hinsichtlich kostenloser Beratung für Menschen mit Schulden bietet die Caritas mit ihren Beratungsstellen. Seit elf Jahren steht Stefan Beckmann für die Schuldnerberatung der Caritas Rheine seinen Klientinnen und Klienten zur Seite. Die Nachfrage ist groß, allein 2019 hatte das dreiköpfige Team 933 Beratungsfälle.

"Es ist ein Querschnitt durch die ganze Gesellschaft", beschreibt Beckmann die Menschen, die seine Beratung aufsuchen, "von jungen Erwachsenen bis zu Rentnern." Was sich hingegen wiederholt, das sind die Geschichten hinter den Geldproblemen. Immer wieder verändern unvorhergesehene Ereignisse das Leben. Jemand verliert seine Arbeit, oder eine Schichtzulage fällt weg. Auch das Scheitern von Beziehungen kann einschneidende finanzielle Konsequenzen haben. Der Kredit für das Haus nimmt keine Rücksicht auf das Ende einer Zweisamkeit. "Plötzlich passt der Lebensstandard nicht mehr zum Einkommen", fasst Beckmann zusammen.

Die Lösung von Geldproblemen beginnt mit einer Bestandsaufnahme. "Wirklich wichtig ist ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen und Energie", weiß der Schuldnerberater. Ständige Kosten werden aufgelistet und auf absolute Notwendigkeit geprüft. Manches lässt sich einsparen, oder es können auf der Einnahmeseite ergänzende Leistungen beantragt werden. "Am schwierigsten ist es da, wo es an eigene Veränderungen geht", berichtet Beckmann. Dazu gehört es, geplant einzukaufen und einen großen Bogen um Ratenzahlungsverträge zu machen. Auch hier unterstützt die Schuldnerberatung lebensnah, und oft lässt sich die Abwärtsspirale der Schulden durch eigene Anstrengung noch durchbrechen.

Bei etwa einem Drittel der Beratungen aber, die die Caritas Rheine 2019 durchführte, war eine Privatinsolvenz der letzte Ausweg in eine schuldenfreie Zukunft. "Es ist gut, dass es das Insolvenzverfahren gibt", betont Beckmann. Diese 20 Jahre alte Regelung ermögliche, sich aus einer hoffnungslosen Überschuldung überhaupt zu befreien. "Dennoch", so Beckmann, "ist es keine leichte Zeit."

Aktuell dauert ein Insolvenzverfahren in Deutschland in der Regel sechs Jahre. Diese Zeit setzt sich zusammen aus dem Verfahren selbst und einer anschließenden Wohlverhaltensperiode. Ein Gericht prüft zunächst, ob ein Insolvenzverfahren überhaupt möglich ist - sollten die Schulden beispielsweise aus einer Straftat entstanden sein, können sie durch eine Insolvenz nicht aufgelöst werden.

Wer sich für ein Insolvenzverfahren entscheidet, auf den kommen zunächst 1.500 bis 2.000 Euro zusätzliche Schulden zu. Denn die Kosten für das Gerichtsverfahren muss der Schuldner selbst tragen. Möglich ist es aber, den Betrag über die Gerichtskasse "vorstrecken" zu lassen oder in kleinere Beträge zu teilen und in Raten zu zahlen. Das Gericht beauftragt außerdem einen Verwalter damit, möglicherweise noch vorhandenes Vermögen zu verwerten und für etwa ein Jahr alle Geschäfte und Verträge des Insolventen zu übernehmen. An die Zeit, in der der Verwalter die Geschäfte übernimmt, schließt sich die Wohlverhaltensperiode an. Auch in dieser Phase ist es die Pflicht eines Schuldners, jede Arbeit anzunehmen, die ihm zuzumuten ist. Einkommen, das über der Pfändungsgrenze liegt, muss abgegeben werden. Nach sechs Jahren ist eine reguläre Privatinsolvenz abgeschlossen und der ehemalige Schuldner von seinen Restschulden befreit.

Stefan Beckmann an seinem Arbeitsplatz sitzt an seinem Arbeitsplatz. Auf dem Schreibtisch steht eine große Zahl von Akten.Stefan Beckmann behält den Durchblick im Dschungel von Gläubigern und Forderungen. Seit über zwei Jahrzehnten berät er Schuldner und weiß um die Hürden und Belastungen einer Privatinsolvenz.Foto: Juliane Büker

Schon jetzt ist es in Deutschland möglich, die Zeit der Privatinsolvenz zu verkürzen. Nach fünf Jahren schuldenfrei ist, wer die Gerichtskosten bis dahin selbst bestreiten kann. Wer es zusätzlich schafft, mindestens 35 Prozent seiner bekannten Schulden während der ersten drei Jahre der Insolvenz abzuzahlen, kann bereits dann die Restschuldbefreiung erhalten. Beide Verkürzungen treten nicht automatisch ein, sondern müssen vom Schuldner beantragt werden.

Stefan Beckmann sieht an dieser Stelle aber einen wesentlichen Knackpunkt. "Aktuell ist die Möglichkeit, in drei Jahren schuldenfrei zu sein, realitätsfern", bewertet er. "Sie existiert nur für Gutverdiener oder für Personen mit Unterstützung von Dritten." In seiner Zeit als Schuldnerberater habe nicht ein einziger Klient die Insolvenz in drei Jahren abschließen können. Er hat die Erfahrung gemacht, dass selbst das Tragen der Gerichtskosten für die meisten Schuldner nicht möglich ist. Die theoretischen Möglichkeiten, die es zur Verkürzung schon gebe, seien in der Praxis zahnlose Tiger.

Die Berufserfahrung des Schuldnerberaters hat ihm gezeigt, wie wichtig machbare Bedingungen sind, damit eine theoretische Möglichkeit auch zu einer echten Chance für Betroffene wird. Unter diesem Gesichtspunkt verfolgt Beckmann die geplante Verkürzung der Insolvenzzeit, die von der EU beschlossen wurde.

"Wenn die Restschuldbefreiung zukünftig nach drei statt sechs Jahren erfolgen soll, muss es eine reine Verkürzung zu gleichen Bedingungen sein, die Hürden dürfen nicht steigen", fordert der Schuldnerberater. Möglich bleiben müsse weiterhin, dass Gerichts­kosten gestundet werden könnten. Außerdem sei es wichtig, dass Ausschlussgründe für ein Insolvenzverfahren nicht erweitert würden, beispielsweise durch Schulden bei sämtlichen staatlichen Einrichtungen. Die Liste von Forderungen, die von einer Restschuldbefreiung ausgenommen seien, dürfe nicht länger werden.

Sollten diese Bedingungen umgesetzt werden, schätzt Beckmann ein verkürztes Insolvenzverfahren sehr positiv ein. Die Schulden bestimmen eine bedeutende Zeit des Lebens, die sehr belastet ist, weiß er: "Die Verkürzung der Insolvenzzeit würde dies auf ein angemessenes Maß reduzieren." Einen Verlust für die Wirtschaft sieht er durch eine Verkürzung nicht. In den meisten Fällen gebe es ohnehin kein pfändbares Einkommen, sodass ein langes Insolvenzverfahren ausschließlich Kosten produziere. Die kürzere Laufzeit ermögliche den Menschen, schneller wieder einen Zugang zum Wirtschaftskreislauf zu bekommen, so Beckmann. "Vor allem bedeutet es viel mehr Lebensqualität."

Juliane Büker



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"Frau Mankertz hat mich wieder aufgebaut"

Elisabeth Mankertz sitzt mit einer Frau an einem Tisch und führt ein BeratungsgesprächSchuldnerberaterin Elisabeth Mankertz (l.) füllt gemeinsam mit Adelheid Bergdorf ein Formular aus, aus dem die Rentnerin ersehen kann, wie viel von der Rente nach Abzug aller Ausgaben übrig bleibt.Foto: DiCV Aachen

An das Frühjahr 2019 hat Adelheid Bergdorf* keine guten Erinnerungen. Erst starb der Ehemann der 72-Jährigen. Nachdem er bestattet war und die Schwalmtalerin gemeinsam mit ihren beiden Kindern die Unterlagen des Verstorbenen durchsah, kam die nächste Hiobsbotschaft: Adelheid Bergdorf saß auf einem Berg an Schulden: 14.000 Euro. Die Rentnerin versuchte, das Unheil abzuwenden, und schlug das Erbe aus. Doch bei genauer Durchsicht der Unterlagen stellte sich heraus: Die Verträge der beiden Darlehen, die zu bedienen waren, hatte sowohl ihr Mann als auch sie selbst unterschrieben. Mit seinen Unterschriften hatte sich das Ehepaar verpflichtet, monatlich Raten von rund 310 Euro zu bedienen. Eine Summe, die die Finanzkraft der 72-Jährigen überstieg.

Eine Freundin ihrer Tochter erzählte Adelheid Bergdorf von der Schuldnerberatungsstelle des Caritasverbandes für die Region Kempen-Viersen in Schwalmtal. "Ich habe mich zunächst gesträubt, dorthin zu gehen. Aber schließlich habe ich mich entschlossen, es doch zu tun, bevor das Kind weiter in den Brunnen fällt", sagt die Rentnerin. Zusammen mit einer Freundin suchte sie Elisabeth Mankertz, die Schuldnerberaterin der Caritas, auf. Ein schwerer Gang war das, erinnert sie sich. Aber heute ist sie froh, hierhin gekommen zu sein. "Frau Mankertz hat mich wieder aufgebaut", sagt sie. Mittlerweile kann Adelheid Bergdorf wieder lachen. Denn Elisabeth Mankertz hat es geschafft, dass die Rentnerin und die Gläubiger einen Vergleich abgeschlossen haben. Seit März 2020 zahlt die Rentnerin nun 60 Monatsraten in Höhe von 138 Euro. In fünf Jahren ist sie schuldenfrei. Sie hat wieder Luft zum Atmen.

Nach dem Tod des Ehemanns zeigte sich der ganze Schlamassel

Wie konnte es zu den Schulden kommen? Das Ehepaar Bergdorf hatte sich vor Jahren eine neue Küche gekauft. Diesen Kauf hatte es über Raten abgewickelt. Zudem musste es noch ein weiteres, kleines Darlehen bedienen. Auch für dieses Darlehen hatte das Paar gemeinsam unterschrieben. Doch was Adelheid Bergdorf nicht ahnte: Dieses Darlehen war mit einer Kreditkarte gekoppelt, mit der der Ehemann der Rentnerin immer wieder Geld abhob. Heute versteht die 72-Jährige, warum ihr Mann, der sich immer um alle Geldangelegenheiten gekümmert hatte, vor wenigen Jahren komisch reagierte, als sie vorschlug, nachdem die Küche abbezahlt war, auf ein neues Auto zu sparen. Er, der gerne Auto fuhr, zeigte sich wenig begeistert. Als sich dann nach dem Tod des Ehemanns der ganze Schlamassel zeigte, war die Schwalmtalerin am Boden zerstört: "Da war der Schmerz über den Tod meines Mannes und dann immer wieder die Frage: Warum hat er denn nichts gesagt? Mein Mann hat nie viel geredet. Aber er hat mir nicht alles gesagt, und das macht mich traurig", sagt sie.

Was Adelheid Bergdorf erlebt hat, ist für Schuldnerberaterin Elisabeth Mankertz "ein häufig auftretender Fall". Rentnerpaaren fehle oft der Weitblick, vor allem dann, wenn - wie im Fall von Familie Bergdorf - zwei Renten zur Verfügung stünden. "Sie wiegen sich in Sicherheit, dass sie kleine Kredite schon abbezahlen können", sagt Mankertz. Wenn dann der Partner sterbe und die Verbindlichkeiten weiter bedient werden müssten, beginne oft ein Teufelskreis. "Menschen wie Adelheid Bergdorf haben eine hohe Zahlungsmoral. Sie haben Sorge, dass der Kühlschrank leer bleibt oder der Strom abgestellt werden könnte, wenn sie ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen." Manche sähen keinen anderen Ausweg, als weitere Kredite aufzunehmen, um den Lebensstandard zu halten - ein Weg mit fatalen Folgen. Im Büro von Elisabeth Mankertz sitzen Klienten, die so hoch verschuldet waren, dass nur noch eine Verbraucherinsolvenz sie retten konnte. So weit hat es Adelheid Bergdorf nicht kommen lassen. "Sie hat alles richtig gemacht und rechtzeitig die Kurve bekommen", sagt Elisabeth Mankertz.

Kredite sollten vor Eintritt ins Rentenalter beglichen sein

Unmittelbar nachdem die Rentnerin zu der Schuldnerberaterin gekommen war, hat die Bank die Kredite gekündigt. Nach einiger Zeit hat Bergdorf Verhandlungen mit den Gläubigern aufgenommen, die schließlich zu einem Vergleich führten. "Die Chance, bei Rentnern einen Vergleich zu schließen, ist größer, weil bei ihnen keine Aussicht besteht auf ein steigendes Einkommen", sagt Elisabeth Mankertz. In fünf Jahren nun ist Adelheid Bergdorf schuldenfrei, wenn sie die 60 vereinbarten ­Monatsraten bezahlt hat. "Damit kann ich gut leben, damit komme ich klar. Wenn ich weiß, ich muss zahlen, dann mache ich das auch", sagt sie.

Elisabeth Mankertz hält es für wichtig, Vorbeugung zu betreiben. "Es müssten mehr Infoveranstaltungen für Menschen der Generation 55 plus angeboten werden, in denen sie sich über Präventionsmaßnahmen informieren können", sagt sie. Ihre Tipps: Kredite sollten mit Eintritt ins Rentenalter beglichen sein. Sämtliche Fixkosten sollten dann kritisch betrachtet und eventuell reduziert werden. Eventuelle Umbaumaßnahmen in der Wohnung, um sie zum Beispiel behindertengerecht zu machen, sollten noch ins Erwerbsleben fallen.



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Neuanfang ohne Makel

Andreas Dawo und Alfons Beckmann sitzen in einem Büro an einem Tisch. Vor ihnen liegen zwei aufgeschlagene Aktenordner.Schuldner­berater Andreas Dawo (l.) und Alfons Beckmann, ehemaliger Verwaltungsleiter der Caritas, entscheiden gemeinsam mit Bankenvertretern über Zahlungen aus dem Bürgschaftsfonds.Foto: Harald Westbeld

Bei einem Unternehmer, langjährig erfolgreich, aber durch unerwartet erhöhte Lieferantenpreise und Krankheit mit 150.000 Euro völlig überschuldet, brauchte es dafür gerade einmal 2.000 Euro. Die Bank, die sich schon gar nichts mehr erhofft hatte, war zufrieden, ein Neustart möglich.

Das Team der Schuldnerberater der Caritas Ahaus, dass Dawo seit 13 Jahren leitet, verfügt über ein landesweit ziemlich einzigartiges Instrument, um in besonderen Fällen helfen zu können. Vor mittlerweile 32 Jahren wurde der Bürgschaftsfonds gegründet, in den die örtliche Sparkasse und Volksbank je zur Hälfte umgerechnet 45.000 Euro einzahlten. Inzwischen ist der Fonds auf 85.000 Euro aufgestockt. Ihre Vertreter entscheiden zusammen mit Dawo und Alfons Beckmann, dem ehemaligen Verwaltungsleiter der Caritas, darüber, in welchem Fall geholfen wird.

Über einige Jahre dümpelte der Fonds vor sich hin, "aber seit zehn Jahren ist er richtig in Schwung gekommen", berichtet Dawo. Obwohl man eigentlich gedacht habe, dass er mit der 1999 eingeführten Insolvenzordnung nicht mehr gebraucht werde. "Aber gerade damit ist er sinnvoll", ist die Erkenntnis. Der Fonds kann sehr überschaubare Beträge vorstrecken, mit denen die Gläubiger befriedigt werden können. In kleinen Raten, je nach den persönlichen Möglichkeiten, zahlen die Schuldner zurück. So bleibt der Geldtopf immer gefüllt für die nächsten Fälle.

Banken melden sich von sich aus bei den Schuldnerberatern

Zwischen zehn und 20 Fälle bereitet Dawo für jede der zwei bis drei Sitzungen im Jahr vor. Ganz wichtiges Kriterium ist, dass sich die Klienten zuvor als zuverlässig erwiesen haben. Für sie freut sich Dawo, einen "Neustart ohne Makel" ermöglichen zu können. Nicht nur zieht sich eine Privatinsolvenz über fünf oder sechs Jahre hin, in der pfändbare Einkünfte abzugeben sind. Das Verfahren muss veröffentlicht werden - auch im Internet.

Die Erfahrung zeigt, dass die Chance, die der Bürgschaftsfonds bietet, auch von Gläubigern geschätzt wird. Banken oder Finanzämter melden sich bei der Schuldnerberatung und schlagen Schuldner dafür vor in der Hoffnung, aussichtslose Kreditgeschichten mit geringem Aufwand abzuschließen und wenigstens einen kleinen Teilbetrag zu bekommen. Aber auch das "Interesse, die Menschen aufzufangen", war die Motivation bei den Banken für die Gründung des Fonds, erinnert sich Alfons Beckmann.

In 13 Jahren keine Ausfälle bei den Rückzahlungen

Längst nicht jede Überschuldung ist selbst verschuldet. Häufig führen Schicksalsschläge wie Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Tod eines Partners in die Ver- und Überschuldung. Zunehmend spielen auch psychische Erkrankungen eine Rolle. Die Schuldnerberatungen haben im vergangenen Jahr mit rund 2000 Fällen allein bei der Caritas Ahaus einen neuen Rekord erreicht. Manchmal reicht es, die Kredite "neu zu strukturieren". Schwierig wird es bei zu vielen Ratenverträgen. Der absolute Ausreißer liegt bei 188 Gläubigern. "Das läuft wohl auf eine Insolvenz hinaus", stellt Dawo fest.

Sosehr Dawo und sein Team die Möglichkeiten des Fonds schätzen, so sehr bedeutet er auch einiges an Mehrarbeit. Denn die Fälle müssen sorgfältig vorbereitet und die Schuldner während der Rückzahlungsphase weiter begleitet werden. Möglicherweise, so Alfons Beckmann, sei das auch ein Grund, warum es seines Wissens kaum weitere Fonds dieser Art in NRW gebe. Nur noch bei der Caritas in Ibbenbüren hilft ein ähnlicher Fonds.

Die Schuldner, die Hilfe durch den Fonds in Ahaus erfahren, erlebt Dawo "als sehr ehrlich und vertrauensvoll". An Ausfälle bei den Rückzahlungen kann sich auch Alfons Beckmann in den vergangenen 13 Jahren nicht erinnern. Mal springe ein Verwandter ein und zahle die Summe in einer Rate zurück, oder es würden Raten von 40 bis 50 Euro monatlich vereinbart.

Sorgen macht sich Andreas Dawo an anderer Stelle: Am Anstieg der Fälle von Jahr zu Jahr sind vor allem ältere Menschen, auch 80-Jährige, beteiligt: "Sie verzeichnen den höchsten prozentualen Zuwachs." Die Altersarmut komme in der Schuldnerberatung an, und da sei sicherlich noch mehr Dynamik zu erwarten. Problem sei vor allem auch, dass Ansprüche nicht eingefordert würden, diese Armut verschämter sei. Wenn aber die Rente nur bei 800 Euro liege, "geht praktisch gar nichts mehr". Trotzdem suchten ältere Menschen die Schuld für die Verschuldung eher noch bei sich selbst.

www.caritas-ahaus-vreden.de



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Rückgrat der Gesundheitsversorgung

Eine Krankenpflegerin läuft an einem sakralen Kunstwerk vorbei, was an einer weißen Wand hängtGerade in NRW bilden kirchliche Krankenhäuser das Rückgrat der gesundheitlichen Versorgung sowohl in Ballungszentren wie auch im ländlichen Raum. Sie leisten damit einen wesentlichen Beitrag zur Daseinsvorsorge.Foto: St. Franziskus-Stiftung Münster

Pflegepersonaluntergrenzen, das MD(K)-Reformgesetz, der Referentenentwurf zur Notfallversorgung und überbordende Vorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, beschleunigen den sogenannten "kalten Strukturwandel" im bundesdeutschen Krankenhauswesen. Auch die eigentlich sinnvolle Finanzierung aller Pflegekosten ist handwerklich so unzureichend gestaltet, dass nicht nur die für 2018 und 2019 zugesagten Finanzmittel nicht in voller Höhe ausgezahlt wurden, sondern die Krankenhäuser aktuell keine validen Finanzplanungen vornehmen können und nicht selten erhebliche Beträge vorfinanzieren müssen. Die jüngsten Insolvenzen und "Notverkäufe" in NRW und anderen Bundesländern sind nur ein erster Indikator für die äußerst schwierige Situation, obwohl die Gesetze ihre Wirkungen noch gar nicht richtig entfaltet haben. Darüber hinaus haben konfessionelle Krankenhäuser nicht die Möglichkeit einer Subventionierung, wie dies bei den allermeisten kommunalen Krankenhäusern und Universitätskliniken der Fall ist.

Vor diesem Hintergrund ist es umso dringender, dass der Staat seiner Verpflichtung einer auskömmlichen Krankenhausfinanzierung und strukturierten Krankenhausplanung nachkommt.

Auf Basis des vorliegenden Gutachtens zur Krankenhausplanung in NRW soll durch ein hierarchisches oder auch pyramidenartiges Modell die künftige Planung erfolgen, in welchem die bisherige Planungsgröße "Krankenhausbett" nur noch eine sehr untergeordnete Rolle spielen wird. Es sollen laut Gutachten Leistungsbereiche definiert werden, denen Leistungsgruppen zugeordnet werden. Über die weitere Zuordnung auf Basis der DRGs (Diagnosis Related Groups), also der maßgeblichen Abrechnungseinheit stationärer Krankenhausleistungen, soll letztlich für jedes Krankenhaus festgelegt werden, welche Leistungen es erbringen darf. Hier ergibt sich jedoch ein methodisches Problem: Die DRGs sind ein Abrechnungssystem, welches bestimmte Krankenhausleistungen - jedes Jahr neu - kostenhomogen bewerten soll. Das DRG-System ist für eine eindeutige Zuordnung von medizinisch-pflegerischen Leistungen nicht geeignet. Hierfür gibt es andere, geeignetere Klassifikationssysteme wie den ICD (International Classification of Diseases) und die OPS-Ziffern (Prozedurenschlüssel). Die Verwendung eines geeigneten Klassifikationssystems wird kurzfristig zu klären sein. Im weiteren gemeinsamen Erarbeitungsprozess sind darüber hinaus u. a. folgende Aspekte zwingend zu beachten:

  • Das Leistungsspektrum eines Krankenhauses muss zunächst einmal inhaltlich-fachlich konsistent sein, d. h., die medizinisch-pflegerischen Bereiche müssen einen vernünftigen Bezug haben, es muss für Patienten attraktiv sein, ebenso für Mitarbeitende etc.
  • Das System sollte nicht zu feingliedrig und damit letztlich kaum beherrschbar werden (z. B. Auslegungsfragen und Konfliktpotenzial in Budgetverhandlungen). Eine Orientierung am Aufbau der ärztlichen Weiterbildungsordnung (WBO) könnte hier ein sinnvoller Ansatz sein. In dieser Struktur wäre insbesondere entscheidend, wie in den Krankenhäusern neben den Schwerpunktabteilungen wie beispielsweise Urologie, Gynäkologie/Geburtshilfe, Neurologie oder auch Geriatrie (zurzeit in der WBO nicht gesondert ausgewiesen) die "großen" Bereiche der Inneren Medizin und Chirurgie mit ihren jeweiligen Spezialisierungen strukturiert werden. Hier gibt es wie auch in der Vergangenheit die Diskussion, was beispielsweise zur "Allgemeinen Inneren Medizin" gehört und was etwa der Kardiologie oder Gastroenterologie zuzuordnen ist. In dieser entscheidenden Frage ist einerseits zu berücksichtigen, dass durch medizinischen und medizintechnischen Fortschritt immer mehr Verfahren zum allgemeinen Standard gehören, die in der Vergangenheit einem Spezialbereich zugeordnet waren. Andererseits müsste bei einer entsprechenden Zuordnung von Spezialisierungen über Strukturvorgaben (z. B. Räumlichkeiten, Anzahl und Qualifikation von Personal) darauf geachtet werden, dass diese unter den Gesichtspunkten von Bedarfsgerechtigkeit, Wohnortnähe wie auch Leistungsfähigkeit richtig austariert sind. Ebenso dürften solche Vorgaben nicht permanent von bundesgesetzlichen Vorgaben, insbesondere durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), "overruled" werden.
  • Ein Chirurg, der eine Operation durchführt. Im Hintergrund ist weiteres medizinisches Personal zu sehen.Das Krankenhausgutachten empfiehlt, dass die Zuteilung von Leistungen an Qualitätskriterien gekoppelt wird: Wer mehr Fälle einer bestimmten Krankheit behandelt, bringt mehr Können und Erfahrung mit. Das steigert die Behandlungserfolge und verbessert die Versorgungsqualität.Foto: St. Marien-Hospital, Siegen

    Darüber hinaus ist zwingend zu beachten, dass bei jeder Definition der Leistungen für ein Krankenhaus (technisch im sog. Feststellungsbescheid) diese Leistungen auch für die ärztliche Weiterbildung hinreichend und für junge Assistenzärzte in der Weiterbildung ausreichend interessant sind; andernfalls wird es dem Krankenhaus kaum möglich sein, junge Ärzte wie auch erfahrene Fachärzte zu gewinnen.
  • Die Leistungen müssen in der Gesamtheit so bewertet sein, dass ein wirtschaftlicher Betrieb des Krankenhauses möglich ist. Dies entspricht im Übrigen auch dem gesetzlichen Auftrag.

Soll die künftige Krankenhausplanung wirklich funktionieren, müssen außerdem folgende Rahmenbedingungen gegeben sein:

  • Wenn Leistungen zwischen Krankenhäusern örtlich und regional abgestimmt sein sollen, muss dies auch kartellrechtlich positiv begleitet werden. Es ist völlig unverständlich, dass freiwillig geplante Zusammenschlüsse von konfessionellen oder auch konfessionellen und kommunalen Krankenhäusern beispielsweise in Köln, Gütersloh und Soest vom Bundeskartellamt negativ beschieden werden.
  • Jedwede Weiterentwicklung und Strukturreform bedarf einer intensiven finanziellen Begleitung. Es ist Konsens, dass die Investitionsmittel seitens der Bundesländer seit vielen Jahren nicht ausreichen und die Krankenhäuser zulasten ihrer Substanz arbeiten. Eine strukturelle Weiterentwicklung, die örtlich und regional auch die "Neusortierung" sowie vereinzelt auch Zusammenlegung von Krankenhäusern bedeuten kann, erfordert erhebliche Finanzmittel. Hier sind sowohl das Land für Investitionen wie auch die Krankenkassen über die Budgets gefordert, solche Prozesse über mehrere Jahre verlässlich zu begleiten.
  • Eine zu ausgeprägte Zentralisierung von Leistungen beinhaltet immer die Gefahr, dass die Anbieter in einer Monopolsituation keine oder geringe Anreize für einen Qualitätswettbewerb haben. Einmal abgebaute Leistungsstrukturen später wieder aufzubauen ist enorm schwierig und teuer. Hier ist eine langfristig vorausschauende Planung erforderlich.

Unabhängig vom Krankenhausplanungsprozess sollten die aktuellen Projekte und "freiwilligen" Initiativen zur strukturellen Weiterentwicklung politisch - und auch investiv - massiv unterstützt werden. Es gibt bereits an vielen Stellen trägerinterne wie auch trägerübergreifende Projekte, Krankenhausstrukturen neu zu konfigurieren, Standorte zusammenzulegen etc.

Eine Krankenpflegerin und ein Krankenpfleger schieben ein Krankenbett über den Gang eines KrankenhausesBei Notfällen muss es schnell gehen. Kurze Wege in die Notaufnahme können Leben retten.Foto: St. Franziskus-Stiftung Münster

Fazit

Bei allen technischen Feinheiten der Krankenhausplanung wird es letztlich eine politische Aufgabe bleiben, zu definieren, was insbesondere die im Krankenhausgestaltungsgesetz des Landes NRW (KHGG NRW) verwendeten Begriffe "patienten- und bedarfsgerecht" sowie "wohnortnah" konkret bedeuten. Dies erfordert einen gesellschaftlichen Konsens. Krankenhäuser sind nicht nur maßgebliche "Elemente der Daseinsvorsorge", sondern nicht selten größter Arbeitgeber und wichtiger "Wirtschaftsfaktor" vor Ort. Insofern beinhaltet der gesellschaftliche Diskurs auch die Frage, wie gleichwertige Lebensverhältnisse in ländlichen wie städtischen Regionen erhalten bleiben sollen. Eine neue Krankenhausplanung erfordert, dass die als bedarfsgerecht und wohnortnah identifizierten Krankenhäuser wirtschaftlich arbeiten können. Kirchliche Krankenhäuser sind auch und gerade in NRW über Jahrhunderte ein wesentliches Rückgrat der Gesundheitsversorgung und übernehmen nach dem Subsidiaritätsprinzip in weiten Teilen staatliche Aufgaben. Viele Orden wie auch Kirchengemeinden und Stiftungen haben personell und finanziell Enormes geleistet und somit zur Prosperität in Städten und Regionen beigetragen. Sofern in diesen Einrichtungen Überschüsse erwirtschaftet werden, müssen diese in der Regel satzungsgemäß unmittelbar reinvestiert werden. Strukturelle Weiterentwicklungen sind richtig und wichtig und werden von den Trägern kirchlicher Einrichtungen grundsätzlich unterstützt. Die politisch Verantwortlichen sollten sich der tragenden Rolle kirchlicher Gesundheitseinrichtungen in der Vergangenheit, aber auch künftig bewusst sein im Sinne einer wettbewerblich wie leistungsfähig "gesunden" Trägervielfalt.



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"Wir brauchen eine Gesetzesänderung" (Teil 3)

Porträt: Roman Schlag, der gestikulierend an einem Tisch vor zwei Caritas-Roll-Ups sitztRoman Schlag ist Referent für allgemeine Sozialberatung, Arbeitslosigkeit, Armut, Schuldnerberatung beim Diözesan-Caritasverband Aachen und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Schuldnerberatung der Verbände (AG SBV) auf Bundesebene.Foto: Christian Heidrich

Caritas in NRW: Wo sehen Sie die Widerstände?

Roman Schlag: Widerstände rühren vor allem daher, dass gesagt wird: Wenn wir an einer Stelle etwas für die Schuldnerberatung ausgeben, müssen wir dieses Geld an einer anderen Stelle wegnehmen. Und da Kommunen ohnehin kaum Luft haben, wird das als problematisch gesehen. Es ist ein großer Schritt, im SGB XII den notwendigen Paragrafen zu verankern. Die Motivation in der Politik, dies zu tun, scheint mir nicht sehr groß. Klar ist aber auch: Wenn man die Politik auf die Notwendigkeit einer Gesetzesänderung hinweist, ist sie sich der Problematik schon bewusst. Daher geht es zurzeit vor allem darum, möglichst viele Politiker dafür zu sensibilisieren, dass wir an der Stelle ein Problem haben.

Caritas in NRW: Sie waren jüngst für die SPD-Fraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen als Sachverständiger bei einer Anhörung im Ausschuss für Verbraucherfragen und im Rechtsausschuss. Worum ging es bei der Anhörung?

Roman Schlag: Es ging um eine Anfrage der Fraktionen von SPD und Grünen, in der gefordert wurde, Schuldnerberatung für alle zu ermöglichen und die Trennung in Insolvenz- und Schuldnerberatung aufzuheben. Meine Erfahrung war: Die Politiker haben viele Fragen gestellt. Dies geschah mit dem Ziel, zu verstehen, was Schuldnerberatung tatsächlich leistet: Schuldnerberatung bietet nicht nur die rein rechtliche Abwicklung der Verschuldungssituation. Auch psychosoziale Beratung und pädagogische Beratung spielen eine Rolle. Ich habe den Eindruck: Selbst wenn das Ansinnen von SPD und Grünen wegen der Mehrheitsverhältnisse im Landtag nicht umgesetzt wird, ist ein Problembewusstsein geweckt worden. Es wurde deutlich: Was die Finanzierung der Schuldnerberatung angeht, haben wir in Nordrhein-Westfalen einen großen Flickenteppich. Die ­Finanzierung ändert sich an bald jeder Kommunalgrenze. Es gibt keine Einheitlichkeit in der Frage, ob ich eine Beratung kostenfrei bekommen kann oder nicht.

Caritas in NRW: Warum ist die aus Sicht der Caritas so wichtig?

Roman Schlag: Wir müssen als Solidaritätsstifter und Anwalt für die Menschen fordern, in den Kommunen gleichbleibende Beratungsmöglichkeiten vorzuhalten. Es kann nicht sein, dass der eine Personenkreis mehr schlecht als recht beraten werden kann und ein anderer davon vollkommen ausgeschlossen ist, obwohl er Bedarf hat, beraten zu werden, und er sich selbst die Beratung nicht leisten kann, nur weil er auf dem Papier ein Einkommen hat, mit dem er keinen Grundsicherungsanspruch hat. Es wäre vollkommen fatal zu sagen: Um in den Genuss kostenfreier Schuldnerberatung zu kommen, muss es erst einmal so weit kommen, dass ich nicht nur überschuldet bin, sondern auch noch in die Sozialleistungsbedürftigkeit abrutsche. Das würde jedem präventiven Ansatz, um eben nicht in die Leistungsbedürftigkeit abzurutschen, wie ihn das SGB II eigentlich vorsieht, entgegenstehen.

Porträt: Roman Schlag, der gestikulierend an einem Tisch vor zwei Caritas-Roll-Ups sitztFoto: Christian Heidrich

Caritas in NRW: Wie kann die Beratung mir helfen, und wie finde ich den Weg raus aus den Schulden?

Roman Schlag: Die Beratung wird zunächst das Allerwichtigste abklären: Gibt es existenzgefährdende Situationen? Droht Verlust des Wohnraums? Drohen Stromsperren? In solchen Fällen würde die Beratung sofort intervenieren, um die Existenz zu sichern. Ist das geklärt, wird die Beratung den Klienten zunächst einmal motivieren und stärken, sich seiner Überschuldungssituation zu stellen. Das heißt, dass er wieder anfängt, sämtliche Briefe zu öffnen, dass er anfängt - auch mit Unterstützung der Beratung - seine Unterlagen zu sortieren. Es wird also mit einer Schuldenanamnese begonnen. Und in weiteren Schritten wird genau geschaut, welche Lösungsmöglichkeiten es für die Verschuldungssituation gibt und welche Unterstützung die Familie benötigt, damit sie sich auch psychisch wieder stabilisieren kann.

Caritas in NRW: Wenn ich einmal bei einer Beratungsstelle gelandet bin, wird diese mich auch durch den gesamten Prozess begleiten?

Roman Schlag: Es ist das Ziel einer Beratung, den Klienten durch den gesamten Prozess zu begleiten. Eine gute Schuldnerberatungsstelle wird bei einem eröffneten Insolvenzverfahren die Beratung nicht einstellen. Der Ratsuchende ist aufgefordert, sich jederzeit bei Fragen oder Problemen an die Beratungsstelle zu wenden auch im Hinblick darauf, dass die Beratungsstelle erklärt, was weiter passiert.

Caritas in NRW: Das Insolvenzverfahren ist dann die Lösung, um wieder aus der Überschuldung herauszukommen?

Roman Schlag: Es ist häufig eine Lösung, aber nicht zwangsläufig die Lösung. Es ist ganz wichtig: Das Verbraucherinsolvenzverfahren ist innerhalb des Beratungsprozesses eine Möglichkeit, um aus der Überschuldung herauszukommen, um wieder ein schuldenfreies Leben führen zu können. Unter Umständen müssen diese oder andere Wege aber gar nicht notwendig sein. Es ist wichtig, im Beratungsprozess genau zu beobachten und zu analysieren, wieweit ein Insolvenzverfahren Sinn macht oder nicht.

Porträt: Roman Schlag, der gestikulierend an einem Tisch vor zwei Caritas-Roll-Ups sitztFoto: Christian Heidrich

Caritas in NRW: Es gibt Bemühungen in der Politik, das Insolvenzverfahren zu verändern. Welche Hintergründe hat das?

Roman Schlag: Die Europäische Union hat eine Richtlinie entworfen, um zu erreichen, dass die Insolvenzverfahren für Unternehmen und Privatpersonen einheitlich geregelt werden. Man hat sich verständigt, dass ein Insolvenzverfahren für Unternehmen zukünftig drei Jahre dauern soll. Die Richtlinie ließ offen und gab die Möglichkeit, diese Regelung auch auf die Verbraucherinsolvenzverfahren anzuwenden. Nach derzeitigem Stand hat das Bundesjustizministerium angekündigt, eine Vorlage zu erarbeiten, die besagt: Auch für Verbraucher soll die auf drei Jahre verkürzte Verfahrensdauer angewendet werden. Das begrüßen wir sehr. Aller Voraussicht nach wird diese Regelung mit dem letztmöglichen Termin, den die EU-Richtlinie gewährt, im Jahr 2022 in Kraft treten. Es wird allerdings an Übergangslösungen gearbeitet, damit Insolvenzverfahren, die jetzt sechs Jahre dauern, nicht mehr beantragt würden, sondern dass es insgesamt eine sukzessive Verkürzung des Verfahrens gibt, bis die neue Regelung in Kraft tritt.

Caritas in NRW: Begrüßt die Caritas die Entwicklung?

Roman Schlag: Die Caritas begrüßt diese Entwicklung ausdrücklich. Wir hoffen darauf, dass wegen der guten Erfahrungen, die wir mit dem Insolvenzverfahren bislang gemacht haben, wenig Weiteres verändert wird. Das zeichnet sich ab. Aus dem Referentenentwurf, der in den nächsten Tagen und Wochen kommen soll, wissen wir, dass es im wesentlich eine Veränderung der gesetzlichen Vorgaben geben wird, die im Wesentlichen zu einer Verkürzung des Insolvenzverfahrens führen wird.

Caritas in NRW: Sind überschuldete Menschen Ihrer Einschätzung nach genügend im Fokus der Politik?

Roman Schlag: Ganz viele Menschen kennen jemanden, der wiederum jemanden kennt, von dem man weiß, dass er überschuldet ist. Das Thema Geld und Schulden ist in aller Munde. Und ich denke, dass Politiker das auch im Fokus haben. Die Frage ist für mich nur: In welcher Form haben sie es im Fokus? Die Dimension, wie viele Personen von Überschuldung betroffen sind, was das eigentlich bedeutet, wie hoch die Überschuldung ist, wie schwierig die Perspektive für die Betroffenen und wie komplex ihre Beratung ist, ist teilweise überhaupt nicht im Fokus der Politik. Das braucht dringend Erklärung.

Das Interview führte Christian Heidrich.



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Kranken- und Altenpflege im Corona-Hotspot

Eine Bewohnerin sitzt zugedeckt in ihrem Rollstuhl, der sich auf der Terasse eines Altenheims befindet, und lächelt einen jungen Mann an, der seine linke Hand auf ihre Schulter legt.Wenn das Lächeln hinter einer Maske verschwinden muss, ist manchmal die Verwirrung groß. Denn Pflege ist auch Beziehungsarbeit. Doch die Angst vor Ansteckungen mit dem Coronavirus ist groß, und alte Menschen sind besonders gefährdet.Foto: Achim Pohl

China ist weit weg, dachte Josef Aretz, als er zum ersten Mal vom Coronavirus hörte. "Dass es zu einer weltweiten Pandemie kommen würde mit diesen Ausmaßen, das habe ich in meinen kühnsten Träumen nicht erwartet", sagt der 60-Jährige. Er leitet in Gangelt im Kreis Heinsberg das Katharina Kasper-Heim der Katharina Kasper ViaNobis GmbH. Es umfasst zwei stationäre Einrichtungen, eine mit 60 Plätzen für Menschen, die geistig behindert und pflegebedürftig sind, und eine mit gerontopsychiatrischem Schwerpunkt mit 33 Plätzen. Zudem ist Aretz auch für das Wohn- und Pflegezentrum Hehn in Mönchengladbach verantwortlich, ein Altenheim mit 86 Plätzen und zwei Tagespflegen mit 14 und 25 Plätzen. Gangelt, das ist die Gemeinde, die nach Karneval bundesweit in die Schlagzeilen geriet. Nach einer Kappensitzung im rheinischen Karneval im Ortsteil Langbroich stellten die Gesundheitsbehörden des Kreises Heinsberg bei Hunderten Bürgern das Coronavirus fest. Eine Krankheitswelle nahm ihren Lauf, die den Landrat Stefan Pusch das öffentliche Leben im Kreis drei Wochen früher als in Deutschland komplett herunterfahren ließ.

Zwei Frauen, die sich auf der Terasse eines Altenheims befinden, tanzen miteinander. Im Hintergrund sitzt eine weitere Frau in einem Rollstuhl.Wenn Besuch wegbleiben muss und Spaziergänge ausfallen, müssen kreative und fröhliche Pflegekräfte für Abwechslung und Entspannung sorgen.Foto: Achim Pohl

Nachts tagt der Krisenstab

"In der Nacht auf Aschermittwoch haben wir die ersten Nachrichten über den Ausbruch der Infektion in Gangelt bekommen", sagt Josef Aretz. Um ein Uhr nachts tritt dar­aufhin in Gangelt - das Katharina Kasper-Heim ist Teil eines Einrichtungskomplexes, der ein Fachkrankenhaus für psychisch Kranke sowie verschiedene Einrichtungen der Eingliederungshilfe, der Jugendhilfe und der Seniorenhilfe umfasst - der Krisenstab zusammen. Er beschließt: Besuchsverbot in allen Einrichtungen, Absage aller Fortbildungen, Zutrittsbeschränkungen für öffentlich zugängliche Einrichtungen wie ein Geschäft auf dem Gelände. "Durch die Komplexeinrichtung in Gangelt waren wir in der Lage, in einem größeren Krisenstab die Maßnahmen zu bündeln", sagt Josef Aretz in der Rückschau. Das sei vor allem ein großer Vorteil gewesen, als es darum gegangen sei, Gebäude zu finden, in denen Quarantäne-Bereiche hätten eingerichtet werden können.

Am Aschermittwoch bekommen auch Evelyn von Heel und Kerstin Mengeler von der Caritas-Pflegestation (CPS) im zehn Kilometer entfernten Geilenkirchen die Nachricht, dass in Gangelt das Coronavirus festgestellt wurde. Die Gemeinde gehört zum Einzugsgebiet der CPS. Eine Information, die vieles in dem Pflegedienst auf den Kopf stellt. Wissentlich ist zu diesem Zeitpunkt niemand aus der 51-köpfigen Mitarbeiterschaft infiziert. Aber eine Woche zuvor gab es in der CPS eine Reihe von Krankmeldungen wegen grippaler Infekte. "Ob es nicht doch Corona war, lässt sich heute nicht mehr feststellen", sagt Kerstin Mengeler, die stellvertretende Pflegedienstleitung der CPS. "Und dann kamen am Aschermittwoch Mitarbeiter, die berichtet haben, dass sie selbst oder Angehörige von ihnen bei der Kappensitzung in Langbroich gewesen seien", erzählt Marion Peters, Vorstand und Leiterin der Abteilung Gesundheit und Pflege beim Caritasverband für die Region Heinsberg, in dessen Trägerschaft die CPS Geilenkirchen ist. "Wir hatten auch Mitarbeiter, deren Kinder in den Kindergarten gingen, in dem die Frau des Ersterkrankten im Kreis Heinsberg beschäftigt ist", sagt Evelyn von Heel, die Leiterin der CPS. Für die Pflegestation hatte das Konsequenzen: Auf Anordnung des Kreises mussten alle Mitarbeitenden, die krank waren oder Kontakt mit möglicherweise Infizierten hatten, zwei Wochen in häusliche Quarantäne. "Wenn in dieser Situation die Mitarbeiter, die noch arbeiten konnten und durften, nicht so flexibel gewesen wären, dann wäre es gar nicht machbar gewesen. Viele haben auf ihre freien Wochenenden verzichtet", sagt Kerstin Mengeler. Bis zu 22 Mitarbeiter waren krank oder in Quarantäne. Von den 330 Kunden, die die CPS betreut, waren (Stand Mai) fünf Kunden infiziert. Drei von ihnen sind an Covid-19 gestorben.

Eine Heimbewohnerin die auf einem Fensterrahmen gelehnt nach draußen schaut. In der Hand hält sie ein verziertes Papier mit einem kurzen Liedtext.Erste Heime erließen eigene Besuchsverbote, mit der Corona-Schutzverordnung galten sie landesweit vom 22. März bis Muttertag. Die Isolation war für viele Bewohner sehr schmerzhaft.Foto: Achim Pohl

Fachkräfte des Medizinischen Dienstes müssen mit anpacken

Im Katharina Kasper-Heim in Gangelt lässt der Kreis Heinsberg mehrfach Bewohner und Mitarbeiter testen. In dem Teil der Einrichtung, in dem Menschen mit Behinderung leben, waren 26 Bewohner und neun Mitarbeiter infiziert. Im gerontopsychiatrischen Altenheim wurden ein Bewohner und ein Mitarbeiter positiv getestet (alle Zahlen Stand Mai). Die Infizierten kamen in Quarantäne. "Im Quarantäne-Bereich haben wir in Absprache mit dem Gesundheitsamt des Kreises Heinsberg auf freiwilliger Basis auch drei Mitarbeiter eingesetzt, die selbst positiv getestet waren", sagt Josef Aretz. Sie hatten zu dem Zeitpunkt keine Erkrankungssymptome. Und Aretz ist auf das Angebot des Medizinischen Dienstes Nordrhein der Krankenkassen (MDK) eingegangen: Pflegefachkräfte, die sonst Einrichtungen prüfen, wurden zum Einsatz in Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Bis Ende Mai waren sie da. "Das war eine große Entlastung", sagt Aretz. Er ist froh, dass die Einrichtung (bis zum Redaktionsschluss Mitte Mai) keinen Sterbefall zu verzeichnen hatte. "Zwar gab es Bewohner mit einer schweren Symptomatik, aber ohne dass sie Atemnot bekamen. Bei uns hatten die Bewohner eher hohe Temperaturen, Hals- und Gliederschmerzen. Nur einen Bewohner mussten wir in ein allgemeines Krankenhaus verlegen, er musste auch beatmet werden", sagt er.

Man achtet mehr aufeinander

Seit Beginn der Corona-Pandemie ist in der CPS in Geilenkirchen nichts mehr so, wie es vorher war. Am augenfälligsten wird es daran, dass die Pflegekräfte generell mit chirurgischen Mund-Nasen-Schutzmasken unterwegs sind. Bei Covid-19-Verdachtsfällen kommt die dafür vorgesehene spezielle Schutzausrüstung zum Einsatz. Hinzu kommt: Touren mussten kurzfristig verändert werden, wenn bei Kunden ein Covid-Verdachtsfall bekannt wurde. "Diese Patienten werden zum Schluss einer Tour angefahren, sodass die Pflegekräfte danach nicht nur ihre Schutzausrüstung ablegen, sondern sich auch komplett umziehen können", sagt Kerstin Mengeler. Auch Covid-Infizierte, die insulinpflichtig seien, würden nach diesem Prinzip versorgt. "Und wenn wir jetzt einen Dienstplan machen, schauen wir anders hin. Wir fragen uns: Ist das für den Mitarbeiter wirklich so machbar?", sagt Evelyn von Heel. Unter den Pflegekräften seien nämlich auch Mütter, die hätten in der Corona-Hochphase nicht die Möglichkeit gehabt, die Kinder bereits um sechs Uhr in die Betreuung zu bringen. "Man achtet mehr aufeinander. Die Mitarbeiter spüren, dass wir auf sie eingehen. Viele kommen von sich aus auf uns zu und sagen: An diesem oder an jenem Tag könnte ich aber schon früher anfangen."

Marion Peters, Evelyn von Heel und Kerstin Mengeler sitzen zusammen an einem Konferenztisch. Im Hintergrund sind Schränke mit einem Tresor, vielen Ablagekörbchen und ein dekoratives Herz zu sehen.Marion Peters, Evelyn von Heel und Kerstin Mengeler (v. l.) freuen sich, dass die Arbeit der Caritas-Pflegestation auch in Corona-Zeiten anerkannt wird. Davon erzählt das „Danke-Herz“, das die Mitarbeiter an einem Schrank aufgehängt haben.Foto: RCV Heinsberg/Melanie Bodem

Selbstkritische Rückschau

Im Katharina Kasper-Heim in Gangelt schaut Josef Aretz nach den ersten zwei Monaten der Pandemie selbstkritisch zurück. "Eines haben wir gelernt: dass wir künftig einen größeren Vorrat an Schutzausrüstung vorhalten werden", sagt er. Hygiene habe in den Pflegeeinrichtungen immer einen hohen Stellenwert gehabt, Hygienefachkräfte seien ausgebildet worden. "Aber mit diesen Ausmaßen haben wir nicht gerechnet", gesteht Aretz. "Bei den Schutzmasken, die ein Verfallsdatum haben, haben wir aus wirtschaftlichen Gründen immer dafür gesorgt, dass der Vorrat niedrig gehalten wurde. Das haben wir jetzt geändert." Das Thema Schutzausrüstung beschäftigt auch Evelyn von Heel von der CPS in Geilenkirchen in der Rückschau. "Ich habe mich manchmal gefragt: Mein Gott, warum hast du nicht im Januar noch das eine oder andere an Schutzausrüstung bestellt? Da wäre es sicherlich noch direkt zu haben und preiswerter gewesen. Da werde ich demnächst aufmerksamer sein", sagt sie. Und Marion Peters ergänzt: "Wir werden jetzt, was die Schutzausrüstung angeht, immer zusätzlich zu dem Material, das wir regelmäßig brauchen, Vorrat für zwei Monate haben. Was die chirurgischen Mund-Nasen-Schutzmasken angeht, haben wir jetzt so viel gekauft, dass wir bis Ende des Jahres jeden Tag mit Mundschutz fahren können. Und dann ist es hoffentlich vorbei."

www.caritas-heinsberg.de
www.katharina-kasper-heim.de



Logo des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK)"MDK hilft": Fachkräfte des sozialmedizinischen Beratungsdienstes unterstützten die Pflegekräfte.



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Die Woche Nummer vier ist geschafft

Ein in Decken eingewickelter Heimbewohner sitzt in einem Rollstuhl, der sich in einer Parkanlage befindet. Neben ihm kniet eine Frau. Im Hintergrund sitzt zudem ein Senior mit Rollator auf einer Bank.Die kurzfristige Öffnung für Besucher zum Muttertag empfinden viele Heimleitungen als Schlag ins Gesicht. Zumal gleichzeitig der Heimleitung persönlich ein Bußgeld angedroht wird, wenn nicht rechtzeitig ein Hygienekonzept vorliegt.Foto: Achim Pohl

Die Isolierung kann für alle aufgehoben werden. In seine Freude mischt sich Trauer. Drei Bewohner sind an Covid-19 verstorben. 17 hatten sich angesteckt, und fünf Mitarbeiterinnen waren ebenfalls infiziert. Es waren dramatische Wochen in Recke. In wenigen Tagen, manchmal in Stunden mussten Wohnbereiche voneinander isoliert werden, Bewohner umziehen, von Gemeinschaftsverpflegung auf Tablett-System umgestellt und die Bewohner einzeln in den Zimmern versorgt werden…

Der Gefahr war sich Plietker schon bewusst, Wochen bevor das Virus Anfang April den Weg in sein Haus fand. Besuche waren bereits verboten, die Bewohner wurden gruppenweise versorgt und die Teams der Wohnbereiche voneinander getrennt, zusätzliche Schutzausrüstung besorgt. Passiert ist es trotzdem. Alle Indizien deuten darauf hin, dass Corona durch zwei aus dem Krankenhaus zurückkehrende Bewohner den Weg in das Haus St. Benedikt fand. Tests bei der Entlassung aus dem Krankenhaus sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht Standard und eine anschließende Quarantäne ebenso wenig. Die Folgen dieses erzwungenen Versäumnisses sind dramatisch.

Porträt: Andreas PlietkerFoto: Privat

Positive Testergebnisse bei zunächst elf Bewohnern und zwei Mitarbeiterinnen erzwingen radikale Maßnahmen. 30 Pflegekräfte sowie je eine Mitarbeiterin für die Betreuung und die Hauswirtschaft gehen in Quarantäne - alle freiwillig, betont Plietker. Er erlebt eine "total gut organisierte und motivierte Mitarbeiterschaft". Sieben Tage in 12-Stunden-Schichten kümmern sie sich in getrennten Teams um die infizierten Bewohner, dann übernehmen die Kollegen. Für vier Wochen ziehen sie in zwei Hotels, pendeln dorthin mit Wagen, die von Autohäusern und Verleihfirmen zur Verfügung gestellt werden.

Plietker ist froh, dass er schon vor dem Ausbruch der Pandemie in St. Benedikt bei der Gemeinde darauf gedrungen hat, für den Fall des Falles nach zusätzlichen Unterkünften zu suchen. Im Haus selbst werden zwei ebenfalls getrennt voneinander arbeitende Küchenteams gebildet, die Dienstkleidung der Teams wird separat täglich in der Einrichtung selbst gewaschen, Zugangswege werden definiert, um Begegnungen auszuschließen.

Als es Ende April geschafft ist, bleiben gemischte Gefühle: Erleichterung, Stolz auf die Teamleistung, aber eben auch Trauer über die Bewohner, die es nicht geschafft haben. Und die Sorge vor neuen Infektionen.

www.haus-st-benedikt.de



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Lernen aus der Krise

Porträt: Dr. Frank Johannes HenselDr. Frank Johannes Hensel

Wer hätte zu Beginn dieses Jahres geahnt, dass die Öffentlichkeit Pflegerinnen und Pfleger aus Altenheimen und Krankenhäusern, Erzieherinnen und Erzieher aus Kindertagesstätten oder die Frauen und Männer, die als Beraterinnen und Berater vor Ort die Stellung halten, zu Heldinnen und Helden erklären würde?

Die Corona-Pandemie, also die wohl schwerste wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs, hat die Frage der Systemrelevanz allen ganz rasch klargemacht. Waren es zu Zeiten der Finanzkrise 2008/2009 noch Banken, ohne die angeblich kein Gemeinwesen existieren kann, sind es jetzt Menschen. Menschen, die anderen Menschen in größter Not beistehen. Man könnte auch sagen: Corona zeigt, was richtig wichtig ist.

Bedeutung der Daseinsvorsorge

Zum Beispiel Krankenhäuser und deren Mitarbeitende. Nicht wenige "Experten" forderten in den vergangenen Jahren einen Abbau von Überkapazitäten, da es angeblich vor allem in Ballungsgebieten zu viele kleine Krankenhäuser und Betten gebe. Die Corona-Pandemie verändert hier das Bewusstsein grundlegend. Krankenhäuser können eben nicht als Wirtschaftsunternehmen betrachtet werden, die jederzeit genug Rendite erbringen müssen und dafür Personal, Ausrüstung und Notfallkapazitäten stets knapp halten sollten. Krankenhäuser sind vielmehr elementarer Teil der sozialen Infrastruktur für die Menschen in ihren Regionen. Letztlich waren es ja gerade die zu Beginn der Corona-Krise geschaffenen zusätzlichen Kapazitäten - etwa auf den Intensivstationen -, die die Bedrohlichkeit der Pandemie in Deutschland abmilderten und den Menschen das Vertrauen gaben, im Notfall gut versorgt zu sein.

Ebenso wie die Krankenhäuser sind auch die Altenpflegeeinrichtungen - als Teil der Daseinsvorsorge - ungeeignet als Geschäftsmodell renditeorientierter Unternehmen. Systemrelevanz verträgt sich nicht mit einem entfesselten Wettbewerb, im Gegenteil: Sie erfordert faire und tariflich geregelte Bezahlung und ausreichend menschliche Zuwendung - und genau hier ist die Gemeinnützigkeit von Trägern sehr passend. Es sei noch einmal betont: Schon jetzt liegt der Lohn in den Caritas-Heimen im Schnitt um 20 Prozent über dem Branchenmittel.

Darüber hinaus benötigt Systemrelevanz die volle Funktionsfähigkeit im Krisenfall. Der Mangel an Schutzmasken, Kitteln und Desinfektionsmitteln hat die Reaktionsfähigkeit vor Ort deutlich geschwächt. Er kann nur mit einer vonseiten des Landes deutlich unterstützten Vorratshaltung beantwortet werden.

Gezeigt hat sich in der Krise auch, dass das allzu oft allein auf Ehrenamt und humanitärer Hilfe basierende System der Versorgung mit Lebensmitteln und medizinischen Leistungen an seine Grenzen stößt. So waren Tafeln schnell leer. Menschen, die zuvor auf dieses System vertrauen mussten, standen plötzlich vor dem Nichts. Charity greift als Instrument einer starken Sozialpolitik, deren Anliegen es sein muss, die Lebensbedingungen nachhaltig zu verbessern, zu kurz.

Anreiz zum Nachdenken

Nötig ist jetzt eine Debatte darüber, wie Menschen dabei unterstützt werden können, auf der Basis einer rechtlich gewährleisteten Versorgungssicherheit ihren Lebensalltag selbstständig zu gestalten, um nicht dauerhaft auf Almosen angewiesen zu sein.

Die Corona-Pandemie nährt den Wunsch nach schnellen und einfachen Lösungen. Begreifen wir die Krise jedoch auch als Anreiz zum Nachdenken, Klären und Verändern: Was wir mit Blick auf Krankenhäuser und Pflegeheime, aber ebenso für die Armutsbekämpfung benötigen, sind klare Aussagen der Sozialpolitik und nachhaltige Strategien, die letztlich vor allem eines sein müssen: krisenfest.

presse@caritasnet.de

"Die Krise haut uns nicht vom Markt"

Porträt: Michael DoerschMichael Doersch (Dipl.-Ing. für Physikalische Technik/Medizintechnik und MBA) ist seit 2007 Geschäftsführer der CBW.Foto: Hardy Welsch

Caritas in NRW Welche Auswirkungen der Corona-Krise erleben Sie?

Michael Doersch: Wir haben viele Kundenaufträge verloren. Kunden haben zurzeit keinen Bedarf mehr. Wir sind oft nur Teil einer Lieferkette. Wenn diese Kette unterbrochen wird, sind auch wir schnell betroffen. Wenn ein Unternehmen, mit dem wir in einer Geschäftsbeziehung stehen, pleitegeht, ist der Auftrag weg.

Caritas in NRW: Wo haben Sie Aufträge verloren?

Michael Doersch: In der Zulieferung für die Automobilindustrie. Da werden Ketten komplett abreißen, weil Kunden sich umstellen auf alternative Produkte, auf alternative Fertigungsverfahren und damit auf alternative Lieferanten. Gerade im Bereich Automotive sind die Wege zu neuen Aufträgen ziemlich lang. Wir werden drei, vier oder noch mehr Jahre brauchen, um Aufträge neu zu akquirieren und wieder neue Aufgaben für unsere ­Beschäftigten heranzuholen.

Caritas in NRW: Was produziert die CBW für die Automobilindustrie?

Michael Doersch: Ein schönes Beispiel ist der Tankeinfüllstutzen. In Spitzenzeiten haben wir fünf Werkstätten verteilt bis zu 55.000 Stück pro Woche produziert. Je nach Anforderung an den einzelnen Produktionsschritt konnten Menschen mit ganz verschiedenen Behinderungen eingesetzt werden. Es gab für viele Leute sinnvolle Arbeit, die von der Industrie benötigt wurde.

Caritas in NRW: Die CBW ist auch in der Produktion von Medizinprodukten tätig - das Image von Bastelarbeiten stimmt für die Werkstätten schon lange nicht mehr. Wäre die Werkstatt mit Bastelarbeiten weniger anfällig?

Michael Doersch: Ich will die Bastelarbeit grundsätzlich nicht ausschließen. Aber wir nehmen unseren gesetzlichen Auftrag, Teilhabe am Arbeitsleben zu bieten, sehr ernst und genau. Deshalb streben wir unbedingt herausfordernde Arbeiten für unsere Beschäftigten an, wie zum Beispiel die Medizintechnik. Auch in der Schreinerei arbeiten wir grundsätzlich sehr industrienah. Zudem produzieren wir 1500 Ladestationen für Elektromobilität pro Jahr für ein Aachener Unternehmen. Es bleibt auch während und nach der Krise unser Anspruch, unseren Beschäftigten hochqualitative Arbeit anzubieten. Denn es heißt ja: Teil­habe am Arbeitsleben und nicht Teilhabe am Bastelleben.

Ein Reinraum mit Tischen und darauf gestellten Stühlen sowie Regalen  der CBW in WürselenLeer stehender Reinraum für die Produktion von Medizinprodukten bei der CBW in Würselen: Weil für die Produktion von Medizinprodukten die Lieferketten infolge der Corona-Pandemie zusammengebrochen sind, stehen einige Reinräume bei der CBW leer.Foto: CBW

Caritas in NRW: Die Werkstätten für Menschen mit Behinderung mussten in der Krise abrupt schließen. Wie haben Sie die Beschäftigten betreut, wenn sie nicht an ihren Arbeitsstellen waren?

Michael Doersch: Wir haben den gesetzlichen Auftrag, die Menschen mit Behinderung zu begleiten. Und wenn sie nicht bei uns sind, machen wir das unter anderem telefonisch, über Facebook, über Internet, über E-Mail. Das betrifft vor allem die Beschäftigten, die nicht in Wohnheimen leben. Für die gibt es auf elektronischem Wege auch kleine Aufgaben, die gelöst werden müssen. Für die Beschäftigten, die in Wohnheimen leben, haben wir auch knapp 30 Kolleginnen und Kollegen in Tagesschicht in den Wohnheimen beschäftigt. Die unterstützen dort die Wohnanbieter, weil diese in der Regel keine Tagesschicht vorhalten müssen. Zu normalen Zeiten sind die Menschen mit Behinderung ja tagsüber in den Werkstätten, also bei uns.

Für die Beschäftigten, die in der CBW die berufliche Bildung durchlaufen, gab es auch Aufgaben, die wir ihnen in einem kleinen Kartönchen nach Hause schickten. Kürzlich haben wir den Teilnehmern in einer Aktion ein Kresse-Saatbett geschickt. Dazu gab es dann ein Lernvideo, das wir erstellt haben: Wie ziehe ich eine Pflanze heran? Und dazu gab es dann die entsprechenden theoretischen Lerneinheiten.

Caritas in NRW: Stichwort Schutzkleidung: In der Krise haben sie irgendwann umgeschaltet und Leute an die Nähmaschinen gesetzt und Alltagsmasken genäht.

Michael Doersch: Als die Krise kam, haben wir relativ frühzeitig festgestellt, dass wir Schutzkleidung besorgen müssen. Unser Einkäufer hat dann die Fühler ausgestreckt. Es ist ihm zwar gelungen, noch in größeren Mengen Desinfektionsmittel zu bevorraten, aber andere Schutzkleidung wie Masken waren nicht mehr zu bekommen. Und deshalb haben wir dann unsere beiden Nähereien in Weisweiler und in Kohlscheid direkt darauf angesetzt, eine einfache textile Mund-Nasen-Maske zu nähen. Wir haben das Schnittmuster mit dem Gesundheitsamt in Aachen abgestimmt, und seitdem nähen wir etwa 1000 Masken pro Tag. Nach diesem Schnittmuster näht nun übrigens auch der deutsche Sportartikel-Hersteller Trigema Masken.

Eine Beschäftigte der CBW in Würselen, die in ihrem Rollstuhl im Außenbereich an einem Tisch sitzt und an einer Buttonmaschinen kleine Button zur Distanzregelung herstelltCBW-Beschäftigte fertigen kleine Buttons, mit denen das Gegenüber höflich an die Distanzregelung erinnert wird. Sponsoren spendierten Buttonmaschinen und Druckmaterialien.Foto: CBW

Caritas in NRW: Würden Sie sich wünschen, dass sie in Krisenzeiten wie diesen mehr Einflussmöglichkeiten hätten auf den Gang der Politik und die Umsetzung der Verordnungen? Die Altenhilfe beklagte bei der Lockerung der Besuchsregelung zum Muttertag, es sei viel zu kurzfristig informiert worden.

Michael Doersch: Grundsätzlich würde ich sagen: Es kann wieder so laufen. Wir haben intern überlegt, wie die Werkstatt wiedereröffnet werden kann. Wir haben bei unseren Überlegungen sehr rasch festgestellt, dass die Überlegungen beim Landschaftsverband, beim Gesundheitsamt der Städteregion, bei der Bundesagentur für Arbeit und bei den Wohnanbietern ziemlich ähnlich sind. Also wir hatten, ohne uns abzustimmen, relativ schnell einen Konsens in der Frage.

Caritas in NRW: Wie erklären Sie den Beschäftigten Hygienemaßnahmen oder Abstandsregeln? Wie gehen Sie damit um?

Michael Doersch: Das ist die größte Herausforderung: Wir müssen mit manchen umgehen, als wären sie Covid 19 infiziert. Wer Kontakt zu den Kolleginnen und Kollegen hat, muss entsprechend geschützt sein. Unter den Beschäftigten ist es äußerst schwierig, entsprechende Regelungen einzuhalten. Man muss es so deutlich sagen: Wenn die Beschäftigten in normaler Anzahl wieder arbeiten, haben wir hier ein gewisses erhöhtes Restrisiko.

Caritas in NRW: Müssen hauptberufliche Mitarbeiter den Beschäftigten so geschützt begegnen wie eine Krankenschwester auf der Intensivstation mit Corona-Patienten?

Michael Doersch: Ja. Wir haben für unsere Mitarbeiter hinsichtlich des Gesundheitsschutzes eine vom Gesetzgeber geforderte so genannte Gefährdungsbeurteilung zu machen. Ich muss jeden Arbeitsplatz beurteilen. Dazu gehört zum Beispiel auch der Arbeitsplatz des Heilerziehungspflegers im heilpädagogischen Arbeitsbereich. Dieser Mitarbeiter arbeitet tagtäglich mit Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen. Wenn wir bei der Gefährdungsbeurteilung zu dem Ergebnis kommen, dass eine Covid-19-Infektion bei dem Beschäftigten nicht auszuschließen ist, dann sind dem Kollegen nicht nur entsprechende persönliche Schutzausrüstungen an die Hand zu geben, sondern er ist zu verpflichten, diese Schutzausrüstung auch zu benutzen. Das heißt: Er steht dann mit Schürze, Mund-Nasen-Schutz, Augenschutz und zusätzlichem Gesichtsschild da und macht seinen Job.

Ein Button der CBW, mit einem rot umkreisten und durchgestrichenen Handschlag. Am Rand des Buttons steht der Hinweis 'Lächeln statt Händeschütteln' und die URL www.cbw-gmbh.de.Caritas in NRW: Haben Sie schon die Fühler ausgestreckt nach neuen Dingen, die die CBW nach Ende der Pandemie machen könnte?

Michael Doersch: Ja. Wir sind zum einen mit einem Hersteller in China im Gespräch, der FFP-II- und FFP-III-Masken herstellt. Mit ihm werden wir hier für den europäischen Markt Masken prüfen beziehungsweise einzeln verpacken. Die werden dann in Apotheken verkauft. Da kommen in den nächsten drei Wochen 50.000 Stück zur Bearbeitung. Den ersten Probeauftrag - 9000 Stück - haben wir im Haus. Da sind wir dran. Da optimieren wir gerade die einzelnen Produktionsschritte, die erforderlich sind. Ich gehe davon aus, dass in drei Wochen die 50.000 Stück hier eintreffen werden.

Caritas in NRW: Schutzmasken - so ein Geschäft bahnen Sie doch nicht an, ohne sich dabei nichts zu denken.

Michael Doersch: Wenn wir mit solch einem chinesischen Lieferanten unterwegs sind, dann haben wir direkt FFP-II- und FFP-III-Masken im Zugriff. Und wir können darüber auch gewisse vertriebliche Dinge gestalten. Wenn der Hersteller an die Apotheken verkauft, sind wir genauso in der Lieferanten-Kunden-Beziehung, wie jeder andere auch und könnten direkt darauf zugreifen. Wir könnten dort auch direkt FFP-II- und FFP-III-Masken preiswert erwerben, gegebenenfalls auch für andere Caritas-Einrichtungen. Aber da verschließt sich der Lieferant bisher noch, weil er sagt: Ich verkaufe die Maske lieber einzeln für 7,90 Euro pro Stück an die Apotheke.

Caritas in NRW: Sind diese Masken auch Medizinprodukte?

Michael Doersch: Nein, das sind keine Medizinprodukte, das sind zertifizierte Arbeitsschutzprodukte, die natürlich auch im medizinischen Bereich eingesetzt werden können. Die werden also nicht im Reinraum geprüft. Die müssen nur sauber bleiben. Da gibt es keine spezifischen Anforderungen wie im Reinraum, wo es heißt: ISO Kasse 8 oder noch sauberer. Sondern es geht einfach darum, eine Arbeitsatmosphäre frei von Stäuben bereitzustellen.

Caritas in NRW: Glauben Sie, dass sie für eine weitere Infektionswelle besser gerüstet sind?

Michael Doersch: Wenn ich jetzt in Richtung Schutzausrüstung schaue, werden wir uns, wenn die Corona-Welle abflacht und sich die Preise wieder Richtung normales Preisniveau stabilisiert haben, entsprechende Mengen auf Vorrat legen. Ob das dann die richtigen Teile sind, je nachdem, welche Katastrophe auf uns zusteuert, kann ich heute noch nicht sagen. Wenn so eine oder eine ähnliche kommt, wären wir dann aber etwas besser vorbereitet.

Caritas in NRW: Wann kann die CBW wieder normal arbeiten? Haben Sie da irgendeine Vorstellung?

Michael Doersch: Sobald alle Menschen mit Behinderung wieder an Bord sind, denn jeder von uns ist Teil unserer Dienstgemeinschaft. Unsere Arbeitsprozesse sind so ausgelegt, dass wirklich jeder Beschäftigte nach seinen Möglichkeiten und seinen Fähigkeiten beschäftigt ist. Und wenn auch nur einer fehlt, ist irgendeine Dienstleistung nicht vollständig zu erbringen beziehungsweise sie muss dann von anderen aufgefangen werden. Aber vollständig arbeitsfähig sind wir erst eine gewisse Zeit nachdem wieder alle da sind. Denn wenn die Kolleginnen und Kollegen wieder im Haus zurück sind, gibt es zunächst viel Unterstützungs-, viel Aufbauarbeit, viel Beziehungsarbeit zu leisten, bevor wieder an 100 Prozent Arbeitsniveau gedacht werden kann.

Caritas in NRW: Die CBW ist auch ein Wirtschaftsunternehmen, das sich am Markt behaupten muss. Machen Sie sich Sorgen, dass die CBW aus wirtschaftlichen Gründen vom Markt verschwinden könnte?

Michael Doersch: Nein. Es steht in der Bibel, dass nach sieben fetten sieben magere Jahre kommen. Wir hatten in der Vergangenheit sieben oder acht fette Jahre. Davon können wir, so hoffe ich, in den nächsten sieben Jahren zehren. Ich hoffe aber nicht, dass es so lange dauert. Aber die CBW wird nicht vom Markt verschwinden. Wir werden dieses Jahr ein deutlich schlechteres Ergebnis fahren als vergangenes Jahr, möglicherweise sogar ein negatives Ergebnis. Die Krise haut uns aber nicht vom Markt. Auch nicht im nächsten Jahr würde das passieren. Die Situation spornt uns aber an, weiterhin neue Ideen zu entwickeln, um dem vorzubeugen.

Caritas in NRW: Und gab es schon neue Ideen?

Michael Doersch: Wir haben einen kontaktlosen Weihwasserspender gebaut. In den Kirchen sind ja zurzeit die Weihwassergefäße leer. Ich habe nicht die Möglichkeit, beim Betreten der Kirche das Kreuzzeichen mit Weihwasser zu machen. Mit unserem Produkt kann man das. Man hält an einer bestimmten Stelle unter dem Gerät die Hand hin, und man bekommt eine fein dosierte Menge Weihwasser auf die Hand, mit der ich dann das Kreuzzeichen machen kann. Ein Bauteil steht in der St.-Sebastian-Kirche in Würselen zur Probe. Dann wollen wir sehen, wie es ankommt und funktioniert und den Weihwasserspender anbieten.

Caritas in NRW: Wie kamen Sie denn auf diese Idee?

Wir haben einfach einmal überlegt, welche Teile jetzt in einer Situation, in der ich nichts anfassen darf, benötigt werden. Und da haben wir diese Idee gehabt. Wir sind zurzeit mit chinesischen Lieferanten im Gespräch. Auch da ist die Liefersituation nicht einfach. Ich habe gerade einmal fünf Stück dieser Geräte, die wir hier zusammenbauen, im Zugriff. Aber das reicht nicht aus, um die Spender nur im Bistum Aachen an den Markt zu bringen. Die Bauteile sind auch nicht billig. Wir bauen die Spender und haben einen Partner, der uns Steine dazu produziert, je nachdem wie der Kunde das möchte: aus Granit, aus Blaustein oder aus Marmor. Unsere Beschäftigten bzw. wir mit Hauptamtlichen bauen die Bauteile dann zusammen.

Das Interview führte Christian Heidrich.



Caritas Betriebs- und Werkstätten GmbH

Gesellschafter sind der Caritasverband für das Bistum Aachen (Mehrheitsgesellschafter) und der Caritasverband für die Regionen Aachen-Stadt und Aachen-Land.

  • Hauptberufliche Mitarbeitende: zurzeit 280
  • Beschäftigte (mit Behinderung): 1341
  • Werkstätten: acht Werkstätten an sechs Standorten in der StädteRegion Aachen
  • Unterbringung der Beschäftigten: Die Beschäftigten wohnen entweder in Wohnheimen (ca. 400) oder individuell bei den Eltern, im betreuten Wohnen (BeWo) oder allein.

www.cbw-gmbh.de



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Drei spontane Suppenküchen

Einige Mitarbeitende von der Caritas und einer Pfarrgemeinde, die vor einem Gebäudeeingang an einer improvisierten Suppenküche mit einem Tisch, einigen Stühlen und Lebensmitteln stehen.Abstand halten, Mundschutz nutzen, ins Freie gehen: Das Virus diktiert Bedingungen, caritative Hilfe ist aber trotzdem möglich, wenn Caritas-Mitarbeitende und Pfarrgemeinden kreativ anpacken.Foto: Caritas Moers/Xanten

Offensichtlich das richtige Angebot: "Die Leute sind total dankbar", sagt Gemeindecaritas-Mitarbeiterin Sabine Broden, die die Organisation zusammen mit der örtlichen Pfarrgemeinde St. Josef in Moers übernommen hat. Eine Sonderförderung des Landes Nordrhein-Westfalen hatte den Start möglich gemacht, für einige Wochen reichte das Geld. Ende Mai konnten die Essensausgaben wieder schließen, da die bisherigen Angebote wieder öffnen durften.

Auch in Kamp-Lintfort und Rheinberg waren die Pfarrgemeinden mit im Boot, vor allem auch mit Ehrenamtlichen, die jeden Mittag das aus der Großküche des Altenheims St. Hedwig in Kamp-Lintfort angelieferte Essen austeilten. Küchenmeister Stefan Klaassen hatte gerade ­Kapazitäten frei, weil die sonst mitversorgten Ganztagsgrundschulen entfielen. "Das ging natürlich nur als Suppe to go", erklärt Caritas-Vorständin Brunhild Demmer. Die Bedingungen, die das Virus diktierte, wurden auch hier streng eingehalten.

Dankbar für die warme Mahlzeit am Tag waren vor allem Menschen in Wohnungsnot, aber auch psychisch kranke Menschen und die, die aufgrund ihres geringen Einkommens auf die zusätzliche Unterstützung durch die Tafeln angewiesen sind. Wobei es nicht nur um die reine Versorgung mit Essen geht, beobachtete Sabine Broden. Schon allein in Kontakt zu kommen, wenn auch mit Abstand, oder ein Stück Tagesstruktur zurückzugewinnen, seien wichtige Faktoren.

Dank unbürokratischer Verfahren und schneller Bewilligung konnte das Angebot innerhalb von zwei Wochen organisiert und in Kamp-Lintfort und Moers schon vor Ostern gestartet werden. Kurz danach folgte Rheinberg. Um den gebotenen Abstand einhalten zu können, wurde die Essensausgabe auf jeweils zwei Stunden ausgedehnt.

Ab Mitte Mai zeigte sich ein Rückgang der Besucherzahlen, da im Zuge der Lockerungen die bisherigen Angebote wieder nach und nach ihre Hilfe anbieten konnten. Die Tafel in Moers fand neue Räumlichkeiten, die eine coronakonforme Ausgabe ermöglichen, der Cari-Treff wurde ebenfalls wieder geöffnet. Für Sabine Broden war die Schließung der Suppenküchen Ende Mai damit nur konsequent.

Doch es bleibt etwas. Der enge Kontakt zu den Essensgästen und die Möglichkeit, über Gespräche von ihren Sorgen und Bedürfnissen zu erfahren, haben die Pfarrgemeinden auf neue Ideen gebracht, wie Hilfsangebote fortgeführt werden könnten. Und falls es doch eine zweite Welle geben sollte, ist die Caritas gewappnet, die Suppenküchen auch wieder zu öffnen.



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Die Welt im Burn-out

Eine Schaufensterpuppe mit Baseballcap und MundschutzMasken-Pflicht: Ich kann nicht kontrollieren, wie mein Gegenüber mich anschaut. Ich kann nicht zurückspiegeln, was mich gerade bewegt. Das belastet psychisch kranke Menschen.Foto: Achim Pohl

Wer mit einem Gerüst aus hilfreichen Strukturen und Kontakten eine psychosoziale Balance aufgebaut hat, erlebt gerade deren Zusammenbruch. Stützende private Kontakte sind nur noch sehr eingeschränkt möglich, bisher beherrschbare Phobien oder Zwangshandlungen gehen nahtlos in ein Angstgeschehen über, sich etwa beim Einkaufen im Supermarkt oder beim Arzt zu infizieren. In psychiatrischen Krankenhäusern werden geplante und lange vorbereitete Behandlungen abgesagt. Selbsthilfegruppen und psychosoziale Unterstützungsangebote fallen zur Vermeidung von Infektionen aus.

Da gibt es die Angstpatientin, die nicht mehr mit ihrer ehrenamtlichen Begleiterin das Haus verlassen kann, weil diese unter Quarantäne steht. Da wird der stützende Kontakt zur engen Familie unterbrochen, weil man selbst oder das Familienmitglied zu einer Risikogruppe gehört. Umgekehrt wird manch schwierige Beziehung durch Ausgangsregulierung und "Stay Home"-Appelle unerträglich verdichtet: Der erwachsene Sohn mit psychotischen Symptomen, den die Familie bisher unter Vermeidung einer Eskalation trotz bizarrer Verhaltensweisen zu Hause versorgt hat, droht das Familiensystem zu sprengen, weil alle anderen nicht mehr zur Schule, zur Uni oder zur Arbeit gehen und man erstmals 24/7 miteinander auskommen muss.

Und die üblichen Empfehlungen, in solchen Situationen Kontakt zu Arzt, Beratungsstelle, Selbsthilfegruppe, Klinik oder Gesundheitsamt aufzunehmen, funktionieren nicht mehr richtig, weil Erreichbarkeit, Hausbesuche oder Aufnahmemöglichkeiten dieser Stellen zurückgefahren wurden.

Angepasst ans Abstandsgebot

Ärztinnen und Ärzte sprechen inzwischen von einer zweiten, psychiatrischen Epidemie, die der Virenpandemie folgt, weil Erkrankungen sich verschlimmern und nur unzureichend aufgefangen werden können. Die Sozialpsychiatrischen Zentren des Caritasverbandes Köln haben zwar ihre Gruppenangebote eingestellt, halten die Beratungsangebote aber offen, indem telefonisch, online und in Einzelfällen unter Beachtung von Schutzmaßnahmen auch persönlich beraten wird. Die zugehenden Angebote zur Unterstützung zu Hause haben sich ebenfalls dem Abstandsgebot angepasst, bieten gemeinsame Spaziergänge und Telefonate an oder organisieren Einkaufshilfen, um Entlastung und Tagesstruktur zu ermöglichen. So hoffen wir, die Zeit des Physical Distancing durch telefonische, ­digitale oder vorsichtige persönliche Kontakte überbrücken zu helfen.

Robert Schlappal

Web: https://caritas.erzbistum-koeln.de/koeln-cv/menschen_mit_behinderung/sozialpsychiatrisches_zentrum_innenstadt/
Facebook: spz.innenstadt

Hilfe für die Ärmsten der Armen

Schwester Alberta und ein Mitarbeiter des Caritas-Sozialzentrums in Mamonowo packen in einem Raum Lebensmitteltaschen. Die dafür bereitgestellten Lebensmittel stehen auf langen Tischen.Für Bedürftige Familien packt das Team des Caritas-Sozialzentrums in der russischen Exklave Kaliningrad Lebensmitteltaschen.Foto: cpd

Im Sozialzentrum der Caritas in Mamonowo, dem früheren Heiligenbeil, könne den rund 60 Kindern und Jugendlichen aus prekären Verhältnissen wegen Corona zurzeit keine Mahlzeit im Haus angeboten werden, sagte die Direktorin der Caritas Kaliningrad, Jelena Jamkovaja. "Deshalb haben wir die Lebensmitteltaschen voller gemacht und häufiger als früher verteilt." Das sei allerdings teurer, als selbst zu kochen.

"Wir können unsere Kinder jetzt nicht im Haus versammeln, deshalb machen unsere Mitarbeiter Familienbesuche. Sie bringen den Kindern neben Lebensmitteln verschiedene Aufgaben zur geistigen Entwicklung sowie auch Materialien für Handarbeiten", erklärt Jamkovaja. Zugang zum Internet hätten die meisten Kinder nicht. Ihr Team habe die betreuten Familien auch mit Schutzmasken versorgt. Die materielle Lage der zumeist von gering bezahlten Arbeitsgelegenheiten lebenden Familien habe sich bei praktisch allen verschlechtert. "Manche wurden arbeitslos, bei anderen wurde der Arbeitslohn reduziert."

Um weitere Unterstützung für die Caritas Kaliningrad leisten zu können, bittet Dr. Daniel Friedenburg, Referent für die Auslandshilfe des Diözesan-Caritasverbandes Paderborn, um Spenden. "Wir leisten den dortigen Familien unbürokratisch Hilfe. Sie brauchen unsere Unterstützung, um die aktuelle Situation bewältigen zu können."

Schwester Alberta steht zusammen mit einer bedürftigen Familie in einem heruntergekommen Wohnraum, der sich in einem Haus in Mamonowo befindet.Schwester Alberta (l.) und das Team des Caritas-Sozialzentrums bringen in der Corona-Krise in der russischen Exklave Kaliningrad bedürftigen Familien Lebensmittel sowie Lernmaterialien.Foto: cpd

Das Caritas-Sozialzentrum in Mamonowo, dem früheren Heiligenbeil, das in der russischen Exklave Kaliningrad nahe der polnischen Grenze liegt, wurde mit Unterstützung des Diözesan-Caritasverbandes Paderborn vor mehr als 20 Jahren gegründet. Derzeit werden dort rund 60 Mädchen und Jungen aus prekären Familienverhältnissen ambulant betreut. Die Mitarbeiterinnen der Caritas sowie zwei Ordensschwestern unterstützen sie bei den Hausaufgaben, versorgen sie mit Kleidung und Lebensmitteln und bieten psychologische Hilfe an. Im angeschlossenen Kinderheim sind acht Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 14 und 19 Jahren untergebracht.

Entstanden ist die Arbeit für bedürftige Familien nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als Katharinenschwestern aus dem benachbarten polnischen Braunsberg (Braniewo) etwas gegen die Not von Straßenkindern unternahmen, die an der polnisch-russischen Grenze in Abwasserkanälen und in Kartons lebten. Für ihre Arbeit erhält die Caritas Kaliningrad so gut wie keine staatlichen Zuschüsse. Ohne Spenden ist die Caritas in Kaliningrad nicht in der Lage, die laufenden Kosten des Sozialzentrums aufzubringen.



Der Diözesan-Caritas verband Paderborn bittet für Hilfsaktionen im In- und Ausland während der Corona-Krise um Spenden unter:

www.caritas-coronahilfe.de



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"Stolz wie Oskar"

Porträt: Ludger LampingLudger Lamping hat in über 30 Jahren (seit 1988) als Geschäftsführer des IN VIA St. Lioba Berufsförderzentrums rund 3000 junge Menschen qualifiziert. Sein Team erreicht damit eine Vermittlungsquote von 85 Prozent.Foto: Markus Jonas

Die Arbeitslosenquote hatte Mitte der 80er in der alten Bundesrepublik nach Jahren der Vollbeschäftigung Rekordwerte erreicht. Die Jugendarbeitslosigkeit bot Anlass zur Sorge. Vor allem junge Menschen mit persönlichen und sozialen Handicaps drohten auf der Strecke zu bleiben. 32 Jahre später hat sich daran nichts geändert. "Ohne professionelle Unterstützung wird es für viele Betroffene schwer, den Start in die Arbeitswelt zu schaffen", ist sich Ludger Lamping (63) sicher.

Im Frühjahr 2020 ist Lamping in den Ruhestand gegangen - und kann eine beeindruckende Bilanz vorlegen. Mehr als 85 Prozent der Jugendlichen, die jährlich an einer berufsvorbereitenden Maßnahme des Zentrums teilnehmen, werden in ein Ausbildungsverhältnis vermittelt; rund 3000 junge Menschen hat Ludger Lamping seit 1988 mit seinem Team in unterschiedlichen Maßnahmen qualifizieren können. Die Qualifizierung stimmt nicht nur fachlich, sondern vor allem auch menschlich. Statt erhobener Zeigefinger greifen moderne pädagogische Konzepte. "Wir vereinbaren mit jedem Jugendlichen individuelle Entwicklungsziele", betont Lamping. Nur in der Kombination von beruflichem und persönlichem Weiterkommen könne so etwas wie Selbstwirksamkeit geweckt werden. Für Lamping ist dies der Schlüssel, um gerade Jugendliche voranzubringen, die in ihrem bisherigen Leben immer wieder scheiterten, als Versager abgestempelt wurden.

Selbstwirksamkeit erzeugen - dafür geht Lamping auch schon mal ungewöhnliche Wege. So bauten die Jugendlichen des Berufsförderzentrums im Jahr 2017 ein großes Haus- und Wanderboot, mit dem mehrtägige Touren auf Weser und Mittellandkanal möglich sind. Im Teamwork an die eigenen Grenzen gehen und dazu noch das ökologische Bewusstsein schärfen, dies waren Ziele des Projekts. Der positive Effekt ist nicht ausgeblieben. "Stolz wie Oskar" seien die Jugendlichen, wenn bei Bootstouren anerkennende Reaktionen anderer Wassersportler oder Ausflügler kämen.

Lamping ärgert es, dass der Stellenwert der Jugendberufshilfe in der Politik in den letzten Jahren abgenommen hat. Die politisch gewollte Verlagerung von Qualifizierung in die Wirtschaft könne nur teilweise gelingen. "Gerade kleine Betriebe haben gar nicht die Zeit, sich um die persönlichen Probleme von benachteiligten jungen Mitarbeitern zu kümmern." Bei vielen jungen Menschen müssten elementare Haltungen wie solidarisches oder auch ökologisches Handeln besonders gefördert werden.



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Hilf dir selbst

Ein Mann in Arbeitskleidung mit Schutzvisier und Atemmaske steht in den Räumen der Duisburger WerkkisteMangelware Schutzmaterialien: Bei der Suche nach zuverlässigen und bezahlbaren Quellen hat sich die Caritas Dienstleistungs- und Einkaufsgenossenschaft im Erzbistum Paderborn (cdg) bewährt. Zusammen mit dem Diözesan-Caritasverband Paderborn hat die cdg bis Anfang Mai rund eine halbe Million Masken und 80000 Schutzkittel für Altenhilfe-Einrichtungen anschaffen können. Inzwischen scheint die „Materialschlacht“ gewonnen zu sein, auch andere soziale Dienste sind versorgt.Foto: Achim Pohl

Zu Beginn der Corona-Pandemie hatte Christoph Menz vom Diözesan-Caritasverband Paderborn noch die Hoffnung, dass die Versorgung mit Schutzmaterialien in Altenheimen und Pflegediensten halbwegs in geregelte Bahnen gelenkt werden könnte. "Es war in NRW ein Verteilerschlüssel in der Diskussion, der die kommunalen Gesundheitsbehörden verpflichtet hätte, das Material nach einem festen Prioritätenschlüssel für Krankenhäuser, ­Altenheime oder Feuerwehren zu reservieren", sagt Menz, der das Referat Altenhilfe, Hospiz und Sozialstationen leitet. Doch anstelle eines Verteilerschlüssels kam eine andere Vorgabe: Es solle nach Bedarf verteilt werden; jedes kommunale Gesundheitsamt entscheide selbst, wer wie viel bekomme.

Wohin auch immer die knappen Materialien gelenkt wurden, die stationäre und ambulante Altenhilfe standen nicht an erster Stelle. "Die angekündigte Versorgung über Behörden hat nicht funktioniert", kritisiert Christoph Menz. "Die Altenhilfe sah sich schnell ganz am Ende der Versorgungskette." So kam es zu kuriosen Situationen, in denen Zufälle oder persönliche Beziehungen über die Versorgung entschieden, wenn etwa die örtliche freiwillige Feuerwehr den ambulanten Pflegedienst eines Altenheims mit Schutzmasken versorgte, so geschehen im Kreis Höxter.

Verteilung nach Bedarf oder per Zufall

Natürlich gibt es auch Fälle, in denen die Zusammenarbeit mit den Behörden vorbildlich funktioniert hat. In Hövelhof im Kreis Paderborn konnte die Kommune dem dortigen Caritas-Altenzentrum angesichts eines größeren Corona-Ausbruchs sofort das notwendige Schutzmaterial in hoher Stückzahl zur Verfügung stellen. Doch die Regel war das nicht. Laut einer Spontanabfrage des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste bei über 450 Mitgliedseinrichtungen in NRW hatten bis Ende April knapp 50 Prozent der Einrichtungen nur auf Anfrage Schutzmittel über die Kommune erhalten. In Einrichtungen, die von einem Infektionsgeschehen betroffen waren, mangelte es bei weit mehr als der Hälfte der Einrichtungen an entsprechenden Schutzmaterialien wie z. B. Schutzkitteln, Hauben, Brillen und Visieren. Und in etwa 40 Prozent der Einrichtungen waren die notwendigen FFP2-Masken nicht in ausreichender Menge vorhanden.

Der Pandemiefall war nicht vorgesehen

Die große Masse der Einrichtungen, insbesondere Heime ohne Infektionsgeschehen, musste also von Anfang an selbst aktiv werden und eigene Lieferanten kontaktieren, etwa die im Jahr 2018 als erste Caritas-Genossenschaft in Deutschland gegründete Caritas Dienstleistungs- und Einkaufsgenossenschaft im Erzbistum Paderborn (cdg). Die cdg hat bis Anfang Mai fast eine halbe Million Schutzmasken, darunter die Hälfte nach FFP2-Standard, an über 100 Kunden überwiegend aus dem Altenhilfe-Bereich liefern können. Chef-Einkäufer Markus Grams kann inzwischen auf einen kleinen Kreis zuverlässiger Lieferanten bauen, gleichzeitig wächst sein "Spam-Ordner" für dubiose Angebote. "Fast täglich melden sich Anbieter, deren Lieferversprechen wir für unrealistisch halten." Schwieriger noch als Masken sind Schutzkittel zu besorgen. Auch hier bewährt sich der genossenschaftliche Einkaufsverbund: 80 000 Schutzkittel hat die cdg bislang den Altenhilfe-Einrichtungen anbieten können.

Der Mangel an Centartikeln, wie es die notwendigen FFP2-Masken eigentlich sind, sorgte für öffentliche Empörung. Ein bis ins Detail geregeltes deutsches Gesundheits- und Altenhilfe-System wurde offenbar auf dem falschen Fuß erwischt. Auf das Ausmaß des Bedarfs und der Anforderungen waren Altenheime und Pflegedienste - trotz anderer öffentlicher Erwartungen - nicht vorbereitet. Konnten sie auch nicht sein. Die für den Betrieb stationärer Einrichtungen geltenden rechtlichen Grundlagen regeln, so Christoph Menz, den Infektionsnotfall so, dass lediglich eine bestimmte Grundausstattung an Schutzmaterial vorgehalten werden muss. Kommt es beispielsweise zu einer Grippevirus- oder Norovirus-Infektion unter Bewohnern, solle, so der Plan, eine "Versorgungskette" ausgelöst werden. "Eine Bevorratung für den Pandemiefall ist nicht vorgesehen und auch nicht möglich."

Auch im ambulanten Bereich ist laut SGB V (§ 132) nur eine Notfall-Ausstattung mit Schutzmaterial vorgesehen: "Die Pflegekräfte halten bei ihren Pflegeeinsätzen einen Pflegekoffer bereit, der für den Notfall mindestens folgende Materialien bzw. Arbeitsmittel enthält: Blutzuckermessgerät, Fieberthermometer, sterile Pinzetten, Scheren, Händedesinfektionsmittel, sterile und unsterile Handschuhe sowie ein Blutdruckmessgerät. (…) Sofern eine Versorgung mit Verband- oder Hilfsmitteln erforderlich erscheint, informiert der ambulante Pflegedienst den behandelnden Arzt und die Krankenkasse."

Verantwortung bleibt bei den Einrichtungen

Der Mangel an Schutzmitteln steht in Kontrast zum hohen Stellenwert, den der Umgang mit Hygiene und ansteckenden Krankheiten sowohl in der "alten" als auch in der neuen, generalistischen Pflegeausbildung genießt. So sehen die Generalistik-Rahmenlehrpläne schon gleich zu Beginn der Ausbildung vor, Kompetenzen bei Hygieneanforderungen zu erwerben und Grundregeln der Infektionsprävention zu beherrschen. Diese Kompetenzen werden im dritten Ausbildungsjahr intensiviert. Dann geht es u. a. darum, das Hygienehandeln in den jeweiligen Versorgungsbereichen mithilfe der dort vorliegenden Hygienepläne zu organisieren. Schon in der früher getrennten Altenpflegeausbildung nahm das Lernfeld Hygiene breiten Raum ein und war mit 30 Unterrichtsstunden veranschlagt.

Auch nach dem Abflauen des Infektionsgeschehens in NRW und den danach erfolgten Lockerungen der Besuchsverbote in stationären Einrichtungen wird das Thema Schutzmittel aktuell bleiben. Denn bei der von vielen Experten erwarteten zweiten Corona-Welle wird die Altenhilfe wiederum im Fokus stehen. Werden dann die Dienste ausreichend mit Materialien versorgt sein? Die dem NRW-Gesundheitsministerium am 24. April vorgelegten "Handlungsempfehlungen zum Schutz vor Infektion und vor sozialer Isolation von Menschen mit Pflegebedürftigkeit und Teilhabebeeinträchtigungen in einer Exit-Strategie in interdisziplinärer Expertise" lassen jedenfalls nichts Gutes ahnen. Obwohl das Expertengremium feststellt, dass, abweichend von den Empfehlungen und Hinweisen in vielen Einrichtungen, die Ausstattung mit Desinfektionsmitteln, Schutzkleidung etc. limitiert war und ist, soll auch in Zukunft die Verantwortung für deren Anschaffung bei den Einrichtungen liegen. "Bestehende Defizite bezüglich persönlicher Schutzausrüstungen", so die Empfehlung, "müssen so rasch als möglich ausgeglichen werden. Sie sind im Verantwortungsbereich der Einrichtungen." Immerhin sei "für faktische Knappheit [sic!] zu prüfen, ob eine überinstitutionelle Stelle dies kompensieren muss".

www.cdg.de

Von Corona und Verordnungen befallen

Ein Spielplatz mit einer großen Holzbrücke, dessen Eingang mit einer Absperrschranke abgesperrt ist. Auf dem Foto ist auch das Hinweisschild des Spielplatzes zu sehen.Spielplätze waren in NRW vom 17. März bis Anfang Mai gesperrt. Ende Mai waren noch 14 Erlasse, sechs Allgemeinverfügungen und fünf Verordnungen der Landesregierung aktuell gültig.Foto: Achim Pohl

Das Virus erzwang eine Notbremsung: Innerhalb weniger Tage und manchmal nur Stunden schlossen Beratungsstellen und Einrichtungen der Caritas ihre Türen für Ratsuchende und Besucher, die Mitarbeitenden wurden großenteils ins Homeoffice geschickt.

Es blieben die Not und der Hilfebedarf. Und mancherorts wuchsen sie noch, in Altenheimen vor allem, wenn das Virus dort unter Bewohnern und Mitarbeitenden wütete. Von jetzt auf gleich mussten neue Wege gefunden werden, um weiter mit Klienten in Kontakt zu bleiben. Schüler in den stationären Jugendhilfeeinrichtungen mussten plötzlich auch morgens betreut werden, weil die Schule ja dicht war. Beschäftigte in Behindertenwerkstätten sogar den ganzen Tag, weil die Werkstätten auch schließen mussten.

Entscheidungen fielen kurzfristig, "auf Sicht", in einer Situation, in der nicht nur das Coronavirus "neuartig" war. Bundes- und Landesregierung wie untergeordnete Behörden schickten fast täglich neue und manchmal innerhalb weniger Stunden wieder geänderte Regelungen und dazu als Anlagen Hygienepläne und immer wieder angepasste Bußgeldkataloge.

Dass das häufig nicht zusammenpasste und Leitungen von Einrichtungen und Diensten eher verwirrte, als Orientierung zu bieten, verwundert nicht. Manchmal war die Liste der FAQ länger als der Gesetzestext. Hilfreich wäre gewesen, wenn "alle Ministerien die Expertise unserer Praktiker eingeholt hätten", sagt Anne Eckert, Referatsleiterin Altenhilfe und ambulante Dienste im Diözesan-Caritasverband Münster.

Ein Beispiel für die Kluft zwischen gutem Willen und praktischer Umsetzbarkeit ist die Corona-Aufnahmeverordnung, die Mitte März für viel Aufregung in den Altenheimen sorgte. Sie verfügte für den Fall eines Infektionsfalles, dass Einrichtungen in drei Bereiche für Nicht-Infizierte, Verdachtsfälle und Infizierte aufgeteilt werden müssen, räumlich getrennt mit Schleusen und eigenen Mitarbeiter-Teams. Bei einem Grippefall hätte noch ein vierter Bereich hinzukommen müssen. In kleineren Einrichtungen sei das nicht möglich, erklärt Eckert, sowohl von den Räumlichkeiten wie auch von der Kapazität der Mitarbeitenden. Bei einzelnen Infizierten wäre eine Einzelzimmer-Quarantäne die einfachere und machbare Lösung gewesen.

Laute Proteste halfen nicht. Erst Mitte April lief die Verordnung aus, und nachfolgende Regelungen ließen auf sich warten. Bis dann neue Regelungen tatsächlich das praktisch Mögliche berücksichtigten. Die Ruhe währte allerdings nicht lange, denn nach Wochen der immer wieder verfeinerten Restriktionen verkündete Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) die schlagartige Öffnung der Altenheime für Besucher zum Muttertag, einem Sonntag. In der Verordnung selbst war sogar schon der Samstag davor genannt. Was die Heime am Dienstagnachmittag per Pressekonferenz des Ministers und über Facebook erfahren hatten, setzten sie unter großen Anstrengungen so weit wie möglich bis zum Wochenende um.

Bis zum Redaktionsschluss Mitte Mai hatte sich die Verordnungslage wieder etwas beruhigt. Was nicht heißt, dass schon alles gut geregelt war. In großer Sorge blieben die Altenheime, weil die Öffnung auch die Vorgabe enthielt, dass Angehörige wieder mit den Bewohnern Spaziergänge außerhalb des Geländes unternehmen durften. Einerseits würden Bußgelder angedroht bei Nichteinhaltung der strengen Hygieneregelungen, andererseits entfalle jegliche Kontrolle über Kontakte bei diesen Ausflügen, kritisierte Andreas Plietker, Leiter des Hauses St. Benedikt in Recke.

Wie viele seiner Kollegen fühlt er sich Mitte Mai in der Zwickmühle. Im Geflecht von Verordnungen, Regelungen und Erlassen tragen die Altenheim-Leiter die Verantwortung. Sie dürfen die Bewohner einerseits nicht in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken, müssen aber andererseits strenge Hygienevorschriften einhalten, um Ansteckungen zu verhindern. "Rechtlich befinden sie sich auf schwankendem Boden", befindet Klaus Schoch, Justiziar des Diözesan-Caritasverbandes Münster. Auflösen lässt sich das Dilemma für sie nicht.

Trotz allem: Im Ergebnis ist es gemeinsam gelungen, relativ und im Vergleich gut durch die Krise zu kommen - pragmatisch von Tag zu Tag. Andreas Plietker hat da auch Lob für die Politik: "Jetzt gab es einmal Entscheidungen ohne Lobbyisteneinfluss." Und natürlich müsse man Politik und Ministerien zugutehalten, dass die Lage völlig neu gewesen sei.



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"Die Frauen stürzen geradezu ab"

So gut es gerade geht, versuchen die Sozialarbeiterinnen der Kommunikations- und Beratungsstelle für Prostituierte und Frauen in prekären Lebenslagen (KOBER), die Versorgung dieser Frauen aufrechtzuerhalten. Zwischen 150 und 170 Personen haben normalerweise Kontakt zum "Café Come In" in der Nordstadt, wo es neben Beratung auch Mahlzeiten und Lebensmittel gibt, dazu kostenloses Präventionsmaterial, Schließfächer, Duschen, Waschmaschinen und Trockner.

Verwahrlost und am Ende

Aufgrund des Kontaktverbotes können Hilfesuchende die Einrichtung nur noch einzeln aufsuchen. Der körperliche Zustand der drogenabhängigen Frauen verschlechtere sich dramatisch, berichtet KOBER-Leiterin Tamara Degenhardt. Die Frauen konsumierten aus Geldmangel zurzeit alles, was die Sucht befriedigen könne, darunter auch hochriskante Suchtmittel oder Medikamente. Viele schleppten sich verwahrlost und körperlich am Ende in das Café. "Wir sind manchmal kurz davor, den Notarzt zu rufen", so Tamara Degenhardt. "Die Frauen stürzen geradezu ab."

Logo der KOBER Dortmund, einer Kommunikations- und Beratungsstelle für Prostituierte und Frauen in prekären LebenslagenZu den betroffenen Frauen gehört auch Melanie (Name geändert). Die 21-Jährige ist aufgrund der Drogensucht ihrer Mutter seit ihrer Geburt geistig beeinträchtigt und auf dem Entwicklungsstand einer 13-Jährigen. Sie ist obdachlos, schläft auf der Straße oder in leer stehenden Wohnungen. Die einzige Chance, an Geld zu kommen, ist die Prostitution. Im Januar hatte Melanie ein Kind zur Welt gebracht - auf einer Toilette. Das Neugeborene wurde sofort vom Jugendamt in Obhut genommen; alle Versuche der KOBER-Sozialarbeiterinnen, Besuchskontakte zwischen Mutter und Kind herzustellen, sind aufgrund der Corona-Krise auf Eis gelegt. Ebenfalls die mühsamen Versuche, Melanie von einer Zukunft in eine Mutter-Kind-Einrichtung zu überzeugen. Noch schafft es das KOBER-Team, Kontakte zu halten und ein Mindestmaß an Versorgung zu bieten. Zwischenzeitlich eingestellt werden mussten dagegen aufsuchende Angebote wie das LOLA-Projekt, bei dem es darum geht, Sexarbeiterinnen den Zugang zu Hilfe und Beratung zu ermöglichen. Der Schwerpunkt von KOBER liegt dabei zusätzlich auf Frauen aus Südosteuropa, die unter Zwangsstrukturen in der Sexarbeit tätig sind.

www.kober-do.de



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"Schön, dass ihr mich nicht vergessen habt"

Eine Streetworkerin übergibt in Gelsenkirchen-Horst einer Klientin ein kleines Hilfspaket, was sie aus ihrem Auto herausholtIm Lockdown versuchten die Streetworkerinnen, ihre Klientinnen und Klienten mit kleinen Hilfspaketen und Informationen mobil zu versorgen, weil die etablierten Treffs und Beratungsstellen schließen mussten.Foto: Achim Pohl

Caritas in NRW Was war an Ihrer Arbeit anders seit dem Kontaktverbot? Sie haben ja mit Menschen zu tun, die unter ganz besonderen Problemen leiden.

Jennifer Ruhnau: Für uns war das zentrale Datum der 13. März, an dem Ministerpräsident Armin Laschet das Versammlungsverbot angeordnet hat, das wir grundsätzlich befürworten. Aber unsere Arbeitswoche startete drei Tage später, und wir haben uns gefragt, was das konkret für die von uns betreuten Menschen bedeutet. Viele von ihnen sind substituiert, nehmen also verordnete Ersatzsubstanzen. Rund um die Vergabestellen, die über das ganze Gelsenkirchener Stadtgebiet verteilt sind, haben sich im Laufe der Jahre Treffpunkte gebildet. Bei uns gibt es keine große Drogenszene, sondern eher kleinere Treffs von fünf bis 20 Personen.

Unser Team vom "Arzt Mobil" hat in dieser Situation entschieden, Hotspots, also größere Ansammlungen, nach Bedarf anzufahren. Dabei war klar: Unter den Bedingungen des Abstandsgebotes müssen auch wir unsere ­Arbeit verändern. Wir wollten den Menschen Orientierung in der Unsicherheit geben und weiterhin zum Beispiel Spritzen und Nadeln für den sauberen und risiko­armen Konsum austeilen. Die sonst üblichen Mengenbeschränkungen haben wir aufgehoben, um Begegnungen und Nähe zu reduzieren. Wir haben Hilfspakete für unsere Klienten gepackt für jeweils eine Woche: Safer-Use-Materialien, Spritzen, Nadeln, Alkoholtupfer, Ascorbinsäure, Pfännchen, Filter für ca. fünf Wochen.

Außerdem haben wir über einen Messenger kommuniziert, um den direkten Kontakt zu vermeiden. Teilweise haben wir uns damit beholfen, Telefonnummern auszutauschen, um im Notfall schnell Kontakt aufnehmen zu können oder über Broadcast und Facebook Infos weiterzugeben.

Ebenso haben wir eine leicht verständliche Information zum Thema Corona und Verhaltensregeln erstellt: Was ist Corona? Wie geschieht eine Infektion? Was sind Risikofaktoren? Zum Beispiel Kippen sammeln oder gemeinsam aus einer Flasche trinken. Und wie wichtig ist - natürlich nach wie vor - Safer Use von Spritzen und Nadeln? Diese Informationen waren bedeutsam, weil unsere Klienten natürlich zur Risikogruppe gehören. Viele von ihnen sind an COPD erkrankt oder haben andere Vorerkrankungen.

Auch haben wir Lebensmittellieferungen übernommen, zum Teil auch das Einkaufen für unsere Klienten und unseren Verfügungsbetrag von 100 Euro, der jährlich von der Stadt Gelsenkirchen für das Projekt "Streetwork" zur Verfügung gestellt wird, für Einkäufe und Lebensmittelgutscheine genutzt.

Prinzipiell haben wir unsere Arbeit eigentlich von Tag zu Tag umgestellt und neu organisiert.

Caritas in NRW: Wie hat sich die Corona-Krise auf das Zusammenleben in der Stadt und die Zusammenarbeit mit anderen Akteuren in Gelsenkirchen ausgewirkt?

Jennifer Ruhnau: Angesichts der Schließung von Teestuben hat die Stadt auf unsere Empfehlung hin entschieden, zumindest die Notschlafstellen auch tagsüber offen zu halten: Damit war ein Mindestmaß an Begegnung ermöglicht oder auch eine Duschmöglichkeit geschaffen. Mit dem Kommunalen Ordnungsdienst (KOD) konnten wir vereinbaren, dass wir die Hotspots anfahren und Aufklärungsarbeit leisten: beispielsweise zum Versammlungsverbot, zur Höhe der entsprechenden Bußgelder und ab wann Verstöße als Straftatbestand gewertet werden.

Viele in unserer Stadt haben zusammengearbeitet und daran mitgewirkt, dass die Menschen auch weiterhin möglichst gut begleitet wurden. Gut war, dass die Tafeln in Gelsenkirchen ihr Angebot aufrechterhalten haben. Über die Aids-Hilfe konnten wir Gelder beantragen für Lebensmittel und Hygieneartikel. Auch der Verein "Warm durch die Nacht" hat weitergearbeitet. Die Ehrenamtlichen haben Lebensmittel verteilt, den Kontakt aufrechterhalten und Hilfen in der Not geleistet.

Auch die Betreuung von Wohnungslosen fällt in unser Arbeitsgebiet. Diese Menschen waren durch die plötzliche Schließung von Läden und den deutlich eingeschränkteren Publikumsverkehr irritiert, zumal vielen von ihnen der Zugang zu Medien und Informationen fehlt. Wir haben Einzelne noch öfter besucht und konnten so Ängste zerstreuen und über die Situation aufklären.

Gelegentlich mussten wir auch beruhigend auf die "normale Bevölkerung" eingehen, die oft kein Verständnis dafür hat, dass Wohnungslose und Abhängige sich weiterhin treffen und versammeln.

Porträt: Jennifer Ruhnau mit einer SchutzmaskeJennifer Ruhnau, gelernte Erzieherin und Sozialarbeiterin, ist seit 2013 im Projekt „Streetwork“ beschäftigt, einem Kooperationsprojekt des Caritasverbandes für die Stadt Gelsenkirchen und des Arzt Mobil Gelsenkirchen. Hier arbeitet sie in einem sechsköpfigen Team, bestehend aus fünf Sozialarbeiterinnen (drei Streetworkerinnen und zwei Mitarbeiterinnen für die psychosoziale Beratung substituierter Menschen) und einer Ärztin.Foto: Achim Pohl

Caritas in NRW: Was bedeuten die Corona-Krise und die damit eingeschränkten Möglichkeiten, sich zu versammeln, zu betteln, sich mit Substanzen zu versorgen, für Ihre Klientinnen und Klienten?

Jennifer Ruhnau: Ein Problem für unsere Klientinnen und Klienten war, dass viele Hilfe-Einrichtungen zunächst geschlossen hatten, Lebensmittel in vielen Läden ausverkauft waren und auch die Mittagstische ihr Angebot eingestellt hatten. Viele Drogenabhängige leben von existenzsichernden Leistungen, das sind um die 400 Euro im Monat. Aber der Stoff ist teuer, deshalb gehen einige der Prostitution nach, andere helfen sich, indem sie betteln oder Pfandflaschen sammeln. Doch Betteln unter Corona-Bedingungen ist schwer, weil einfach weniger Menschen unterwegs sind. Und durch den Wegfall der Großveranstaltungen - z. B. der Spiele der Bundesliga - gab es auch viel weniger Möglichkeiten, Pfandflaschen zu sammeln. Geholfen hat, dass die Medien ausgewogen über die Situation Wohnungsloser berichtet haben, sodass doch eine Reihe von Menschen gespendet haben.

Eine große Sorge der Abhängigen war gerade zu Anfang die Unsicherheit, ob eine Substitution weiterhin möglich sein würde, ob Busse und Bahnen überhaupt fahren würden, um die Vergabestellen zu erreichen. Substitution heißt auch, jeden Tag in der Schlange zu stehen, unter Corona-Bedingungen ist dies noch zeitaufwendiger. Da kam es auch zu Aggression und Gewalt, weil einige durch diese Situation überfordert waren. Inzwischen hat sich auch bei den von uns betreuten Menschen (aber auch bei uns) eine gewisse Krisenroutine entwickelt.

Caritas in NRW: Wie wird Ihre Präsenz als Streetworkerinnen zurzeit von Ihren Klientinnen und Klienten ­geschätzt? Ist das anders als sonst?

Jennifer Ruhnau: Wir merken deutlich, dass die Menschen einen hohen Gesprächsbedarf haben, dass sie sich freuen, wenn sie uns sehen; und auch die Situation bei den Ärzten hat sich inzwischen etwas entspannt. Besonders berührt hat mich die Aussage eines Abhängigen, der sagte: "Schön, dass ihr mich nicht vergessen habt." Die Menschen schätzen unsere Besuche.

Die Fragen stellte Christoph Grätz.

www.arztmobil-gelsenkirchen.de



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Distanz hautnah

Zwei Frauen mit Schutzmasken stehen in einer Parkanlage vor einer Bank und blicken eine weitere Frau an, die ihnen mit Abstand gegenüber stehtGruppentreffen mit Bewohnerinnen des Frauenhauses müssen im Hof stattfinden. Abstand halten funktioniert hier einfacher als in engen Räumen. Aber wie wird das im Winter sein?Foto: Achim Pohl

Caritas in NRW Wie hat die Corona-Krise das Frauenhaus Bochum betroffen?

Ulrike Langer: Wir haben mehr zu tun, allerdings nicht aufgrund von mehr Anfragen, sondern weil sich die Arbeit verändert hat. Wir müssen für und mit unseren Frauen Kontakt zu den unterschiedlichsten Behörden halten. Dieser muss jetzt anders gestaltet werden. Jede Behörde und nach unserem Eindruck häufig auch jede Mitarbeiterin geht mit unseren Anfragen unterschiedlich um. Von keiner Rückmeldung bis zu sehr schnellen Antworten. Dies betrifft auch die rechtliche Situation, denn die von den Behörden geforderte Mitwirkung ist unter Corona-Bedingungen gar nicht möglich. Vieles läuft jetzt digital, sodass die Frauen noch weniger alleine übernehmen können. Sie verfügen meist nicht über die technischen Möglichkeiten oder die richtigen Ansprechpartner. Ein Beispiel: Wenn eine Frau sich beim Bürgerbüro ummelden muss, konnte sie dazu nicht mehr einfach ins Rathaus gehen, sondern wir mussten per Mail Kontakt aufnehmen und klären, wie eine An- oder Ummeldung möglich war. Auch das Thema Homeschooling ist bei uns gerade ganz groß. Unsere Mitarbeiterinnen haben bis zum Schulstart unsere Schulkinder dabei begleitet, da die Mütter häufig nicht dazu in der Lage waren.

Caritas in NRW: Wie gehen die Mitarbeiterinnen mit dem Abstandsgebot um. Wie Schutz gewähren, helfen, reden, da sein und unterstützen auf Abstand?

Ulrike Langer: Unser Schutz besteht in der Hauptsache aus Mundschutz und Desinfektionsmittel. Ärgerlich war, dass bei der Verteilung der Schutzmaterialien nicht an uns gedacht wurde. Unsere Gruppentreffen mit den Bewohnerinnen finden zurzeit draußen im Hof statt. Die Beratungsgespräche finden weiterhin auf relativ engem Raum statt. Mittlerweile haben wir auch eine Plexiglaswand. Alle Frauen und Kinder haben von uns Mundschutze erhalten, die sie im Kontakt mit uns auch immer aufsetzen müssen. Es kommt aber natürlich weiterhin zu engem Kontakt, bei dem wir den Mindestabstand nicht einhalten (können): wenn wir einen Brief gemeinsam durchlesen und besprechen, wenn wir Handy-Nachrichten von Ex-Männern, Wohnungsgesellschaften lesen oder auch einfach nur Kugelschreiber hin- und herreichen.

Porträt: Ulrike Langer in einer Beratungssituation. Auf dem Tisch steht eine Plexiglasscheibe, vor ihr liegt zudem eine aufgeschlagene Akte.Ulrike Langer ist Dipl.-Sozialarbeiterin, seit 2009 Leiterin des Frauenhauses des Caritasverbandes für Bochum und Wattenscheid.Foto: Achim Pohl

Caritas in NRW: Was sind die besonderen Probleme der ­Menschen unter Corona-Bedingungen, denen Sie Schutz und Hilfe anbieten?

Ulrike Langer: Unsere Frauen sind wie wir alle auch davon betroffen, dass sie ihre sozialen Kontakte nicht pflegen sollen. Das fällt auch ihnen schwer, denn es ist einfach entlastend, sich mal mit einer Freundin oder Verwandten im Park zu treffen oder ein Eis essen zu gehen. Es ist schwer, sich um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern, da alles anders laufen muss. Vieles läuft über das Internet. Wenn eine Frau keinen eigenen Zugang hat, ist sie noch mehr als sonst von uns abhängig. Und natürlich ist es im Moment noch schwieriger, eine Wohnung zu finden, geschweige denn Möbel dafür zu organisieren. Bis zum Schulstart kam noch hinzu, dass die Kinder die ganze Zeit im Haus waren und beschäftigt werden wollten, eine Herausforderung nicht nur für die Mütter, auch für uns!

Wir freuen uns darüber, dass das Bundesfamilienministerium und die Landesministerin die Frauenhäuser jetzt auch im Blick haben und Unterstützung zugesagt haben, etwa bei der technischen Ausstattung. Wir erfahren zurzeit viel gesellschaftliche Solidarität. Menschen nähen für uns Mundschutzmasken oder spenden Geld, um in dieser Situation zu helfen.

Die Fragen stellte Christoph Grätz.

Der Sinn von Corona

Porträt: Dr. Boris KrauseDr. Boris Krause, Theologischer Referent beim Caritasverband für die Diözese Münster

Und was machen wir jetzt damit? Ich rede von der unliebsamen Bekanntschaft mit dem Coronavirus. Wer hätte denn zum Jahreswechsel bei knallenden Sektkorken und warmen Wünschen für 2020 gedacht, dass wenige Monate später Händeschütteln ein No-Go ist, dass man eine Maske tragen muss, um beim Bäcker Brötchen kaufen zu können, oder dass die Kinder länger Oma und Opa nicht treffen dürfen? Mit dieser extremen Erfahrung müssen wir doch irgendetwas anfangen. Was ist der Sinn dahinter?

Die Natur schweigt. Das Virus kennt keinen Sinn. Es macht, was es macht. Der Sinn ist "unser" Problem. Er ist nichts Feststehendes, was irgendwo in einem himmlischen Wahrheitsuniversum existierte. Vielmehr sind wir es, die Sinn produzieren und ihn den erlebten Dingen quasi anheften. Offenbar können Menschen nicht anders. Wir müssen derartig einschneidende Ereignisse auf uns selbst beziehen und mit Deutung versehen.

Nicht Sinnsuche, sondern Sinngebung ist also die Aufgabe. Und es ist offensichtlich zunächst eine subjektive Sache, nichts Objektives. Das beruhigt, wenn man etwa mit einer so kuriosen Idee konfrontiert wird, Corona sei etwa Strafe für etwas, verabreicht durch eine höhere Macht - Sinnproduktion bietet natürlich auch Raum für Unsinn. Darum finde ich, dass persönliche Denkergüsse nicht immer sofort anderen Menschen auf den Bauch gebunden werden müssen. Sinnproduktion ist durchaus ein Unternehmen mit Verantwortung.

Ich bin übrigens kürzlich der Empfehlung einer Freundin gefolgt und habe mir den Seuchen-Thriller von 2011 "Contagion" angeschaut. Er ist frappierend nah dran an der aktuellen Corona-Situation. Ich hoffte, neue Sinneinsichten zu gewinnen. Der Film zeigt - Achtung: Spoiler -, wie bedrohlich die Situation ist, und er endet mit der Klärung, wie es dazu kommen konnte. Sinnproduktion? Nicht wirklich. Am Ende ist das Virus besiegt, und zwar aus einem Grund: Alle tun, was zu tun ist, Menschen aus Pflege, Medizin, Wissenschaft, Polizei und viele mehr. Damit gebe ich mich zufrieden.

Boris Krause



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"Wir brauchen mehr Planbarkeit und Beständigkeit"

Porträt: Bettina Beusing, die vor einer Wand mit Efeu stehtBettina Beusing ist Leiterin des Fachbereichs Beratung, Arbeit und Sozialraum beim Caritasverband Bottrop, zu dem auch der Fachdienst für Integration und Migration gehört. Zusammen mit ihrem Team aus zehn Mitarbeitenden kümmert sie sich um die Belange von Zugewanderten.Foto: Caritas Bottrop

Caritas in NRW Was sind die wichtigsten Anliegen der Menschen, die Sie beraten?

Bettina Beusing: Die Themen und Fragestellungen sind so vielfältig wie die Menschen, die zu uns kommen. Bei neu eingereisten Zugewanderten geht es in der Anfangsphase häufig um die Kernthemen Aufenthalt, Wohnen, Existenzsicherung und Sprachförderung. Anschließend sind Integrationsthemen wie Beschäftigung, (Aus-)Bildung, Schule, Berufsanerkennung und die soziale Integration ins Umfeld für viele Menschen wichtig. Tiefer gehender Spracherwerb, Schul- und Kindergartenbesuch der Kinder und bei den Geflüchteten Aufenthaltsverfestigung und Familiennachzug sind ebenfalls Themen, zu denen wir viel beraten.

Caritas in NRW: Die Caritas Bottrop betreibt einen Jugend­migrationsdienst. Was ist aus den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (umF) von 2015 geworden, die inzwischen fünf Jahre älter sind?

Bettina Beusing: Neben den normalen Themen eines jeden jungen Menschen spielen die Themen Qualifizierung (Schule, Ausbildung, Studium), Arbeit und Zukunftsplanung bei ihnen eine größere Rolle. Bis zur Volljährigkeit sind sie über die Jugendhilfe aufgefangen und aufenthaltsrechtlich sicher. Mit der Volljährigkeit ändert sich dies. Aufenthalt, Auszug aus der Wohngruppe, eigenverantwortliches Kümmern, Ausbildung und Arbeit bekommen eine gravierende Rolle - bei vielen umF hängt davon eine Bleibeperspektive in Deutschland ab. Das stellt viele vor große Herausforderungen, und das Angebot des Jugendmi­grationsdienstes wird besonders wichtig. Hinzu kommt das Thema Familie. Häufig sind die Jugendlichen von ihren Familien "auf den Weg" nach Deutschland gebracht worden. Die Familien sind ein hohes Risiko eingegangen, emotional wie finanziell. Oft ist damit die Hoffnung verbunden, dass der umF von Deutschland aus die Familie im Herkunftsland unterstützt oder auch ggf. nachholt. Diesen Druck tragen die jungen Menschen bei allen Entscheidungen immer mit.

Caritas in NRW: Fünf Jahre nach dem "Wir schaffen das!" - ist die Integration der zu uns Geflüchteten gelungen?

Bettina Beusing: In den letzten Jahren ist viel passiert - sowohl rechtlich, bei den Förderprogrammen als auch in der Willkommenskultur. Es gab viel Positives, aber auch einiges Schweres, womit die Geflüchteten und auch die Helfersysteme wie wir klarkommen mussten. Definitiv gab es viel Veränderung, Arbeit und Bewegung.

Ich sehe Integration als einen Prozess. Im Sport kann man ihn mit einem Langstrecken- oder Marathonlauf vergleichen. Und meiner Einschätzung nach ist das "Wir schaffen das!" das Ziel, auf das die Geflüchteten wie auch wir als aufnehmende Gesellschaft uns hinbewegen.

Caritas in NRW: Was wünschen Sie sich von der Politik?

Bettina Beusing: Wichtig ist festzuhalten, dass der Beratungsbedarf bei allen Zuwanderergruppen nach wie vor hoch ist. Auch nach einer Aufenthaltssicherung gibt es viele Fragen und neue Herausforderungen auf dem Weg der Integration. Der qualifizierten Beratung kommt eine so große Bedeutung zu. Der Großteil der Menschen, die in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen sind, wird auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten mit uns leben. Es ist wichtig, aus Versäumnissen der Vergangenheit zu lernen und ihnen gute Start- und Integrationsbedingungen zu geben. Sprache und eine gute Arbeit schaffen Perspektiven für die Menschen. Ihnen kommt eine Schlüsselrolle zu. Passgenaue und zeitnahe Unterstützungsangebote für die Zuwanderer sind sehr wichtig. Ich wünsche mir auch eine gleiche Sicht auf die Gruppe der Zuwanderer und keine Clusterung zwischen den jeweiligen Flüchtlingsgruppen und im Verhältnis zu den sonstigen Zuwanderern. Als Leitung von Beratungsdiensten wünsche ich mir natürlich eine höhere Planbarkeit und Beständigkeit von Förderungen. Es ist sehr schwierig, mit stets kurzen Befristungen von Beratungsangeboten zu arbeiten und nicht zu wissen, ob wir die Dienste aufrechterhalten und Kolleginnen und Kollegen im nächsten Jahr noch beschäftigen können. Mehr Sicherheit und politische Zusagen wären für alle Seiten sehr hilfreich.

Fragen von Christoph Grätz

www.caritas-bottrop.de




Nicht nochmal bei null anfangen

Javad Akbari zeigt seinem Sohn Shahab ein fünf Jahre altes Foto, dass in der Zeitschrift 'Caritas in NRW' 1/2016 veröffentlicht wurde"Flüchtlinge integrieren" war Schwerpunkt-Thema von "caritas in NRW" vor 5 Jahren.Foto: Christoph Grätz

Zwischen den beiden Fotos liegen fünf Jahre, zwei Ausbildungen, die Geburt eines Kindes und der Versuch der Integration in Deutschland. 2015 gelangt die junge Familie Akbari, Aida, Javad und der einjährige Shahab, nach Deutschland. Aus dem Iran geflohen, gestrandet in Essen, beginnt die kleine Familie mit afghanischen Wurzeln mit den ersten Schritten in ein neues Leben. Sie finden schließlich eine Wohnung, beginnen Berufsausbildungen und schließen erste Freundschaften, Shahab geht in die Kita, das zweite Kind wird geboren.

Die Akbaris sind dankbar für die Unterstützung, die sie erfahren, dankbar auch für die Worte Angela Merkels: "Wir schaffen das!"

Wie weit dieses Versprechen für sie trägt, ist heute, 2020, allerdings ungewiss. Ihr Aufenthaltsstatus ist noch ungeklärt. Ihr größter Wunsch: ein Leben ohne Angst. Endlich ankommen, zu Hause sein und nicht noch mal bei null anfangen.

Ein junges Flüchtlingspaar steht zusammen auf einem Flur. Der Mann hält einen Jungen in seinem Arm.Javad und Aida mit Shahab aus AfghanistanAchim Pohl

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Viele Menschen guten Willens …

Der Imbisswagen der Aktion 'Eat & Greet', der auf der Kölner Domplatte steht. In dem Wagen arbeiten zwei Mitarbeitende, die eine Frau und einen Mann bedienen.Integration geht bekanntlich durch den Magen: Bei der Aktion „Eat & Greet“ kochten 2018 Einheimische und Zugewanderte gemeinsam auf Straßen- und Pfarrfesten im Erzbistum Köln. Dazu wurde ein Oldtimer-Bus gechartert und vor dem Dom der Öffentlichkeit präsentiert.Foto: DiCV Köln

Schon immer hat das Schicksal nach Deutschland Geflüchteter die Menschen hierzulande berührt und zu Engagement bewogen. Natürlich gab es auch immer Protest und Kritik an der Aufnahme, doch tatsächlich überwog die Hilfsbereitschaft, auch wenn dies medial nicht immer so transportiert wurde. Dies galt in den 1970er-Jahren für politisch Verfolgte aus Chile genauso wie für Bürgerkriegsgeschädigte aus Bosnien in den 1990ern. Doch nie waren die Menschen in Deutschland so berührt und gleichzeitig so offen für Neuankömmlinge aus ihren zum Teil kriegsverwüsteten Heimatländern wie im Jahr 2015. Damals traf Deutschland die humanitäre Entscheidung zur Aufnahme - auch deswegen, weil fast alle Nachbarländer dazu nicht in der Lage oder bereit waren.

Wachsender Rechtfertigungsdruck

Bereits im November 2014 hatte Kölns Erzbischof Kardinal Woelki in einem Brief an alle Gemeinden dafür geworben, sich weiterhin und intensiv für die Aufnahme von Geflüchteten einzusetzen: "Ich bin sehr zuversichtlich, dass Kirche vor Ort im Erzbistum Köln wirkungsvoll zu einer Willkommenskultur für Flüchtlinge als neue Nachbarn beitragen kann." Im Rahmen der damals neu gegründeten "Aktion Neue Nachbarn" wurden zahlreiche Unterstützungsbausteine für haupt- und ehrenamtliches Engagement in der Integrationsarbeit ausgebaut und neu geschaffen. Dies geschah und geschieht auch heute noch in enger Vernetzung mit den professionellen Angeboten der Caritas im Migrations- und Engagementbereich. Dies hat elementar dazu beigetragen, dass Menschen sich in ihrem Interesse für ein Engagement ernst genommen und unterstützt fühlen konnten.

Nach den Jahren 2014 und 2015, in denen ungemein viele Bürgerinnen und Bürger etwas dazu beitragen wollten, den neu Ankommenden ein Gefühl des Willkommen-Seins zu geben, hat sich das ehrenamtliche Engagement in der Flüchtlingshilfe auf hohem Niveau stabilisiert: Zählte man beispielsweise im Erzbistum Köln 2015 noch rund 20000 Ehrenamtliche, die sich - mehr oder weniger fest angebunden an kirchliche Unterstützungsangebote - engagiert haben, so sind aktuell immer noch 10000 Menschen in der Flüchtlingshilfe aktiv.

Eine Frau und drei Kinder gucken lächelnd von einem Balkon in Jordanien in die KameraFoto: Gleißner

Es ist nicht überraschend, dass - nach der ersten Euphorie des Mittuns - viele im Laufe der Zeit nicht mehr im gleichen Maße helfen wollten oder konnten. Einige sind im eigenen Bekannten- und Familienkreis unter Rechtfertigungsdruck für ihr Tun geraten, haben sich zurückgezogen. Und wie in jedem Agieren in menschlichen Zusammenhängen gab und gibt es Enttäuschungen, wenn die gesteckten Ziele nicht erreicht werden.

Darüber hinaus haben sich die Aufgaben geändert. Waren 2015 noch kurzfristige Unterstützung und Hilfen gefragt wie etwa die Organisation und Durchführung von Willkommenscafés, ist für echte Integration kontinuierliche und oft auch zeitintensive Unterstützung gefragt, so zum Beispiel in Patenprojekten. Andere Gruppen sind aufgrund der populistischen Anfeindungen stärker und größer geworden und haben sich gesagt: Jetzt erst recht!

Zunehmend engagieren sich Geflüchtete selbst

Begegnungsorte wie Willkommenscafés oder Einladungen der neuen Nachbarn etwa zu Veranstaltungen in Pfarrgemeinden waren neutrale Anlaufstellen und ermöglichten erste Begegnungen. Von Anfang an nahmen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte und Sprachkompetenz aus Fluchtländern eine wichtige Mittlerfunktion für die Gründung der neuen Nachbarschaften wahr. Und zunehmend beobachten wir, dass sich in den stabilen Unterstützungsgruppen Geflüchtete selbst engagieren: Sie können auf Augenhöhe mit den neu ankommenden Menschen sprechen und sind wichtige Personen für den Erstkontakt und Lotsen beim Zurechtfinden in der neuen Umgebung. Viele möchten zudem wertvolle Unterstützungsangebote, von denen sie selbst profitiert haben, weitergeben.

Ein blau-weißes Boot voller Flüchtlinge, dass auf dem Mittelmeer schwimmtFoto: MOAS

Die Aktion Neue Nachbarn beispielsweise ist in ihrer Unterstützung auch deshalb so erfolgreich und dafür anerkannt, weil hier kirchliche Akteure ihre wichtige Arbeit gut in der Zivilgesellschaft vernetzen können. Die Aktion Neue Nachbarn macht keine Vorgaben, wie vor Ort Integration aussehen müsste. Viele Menschen guten Willens sind es, die - durchaus mit professioneller Unterstützung aus den Fachdiensten der Caritas - diese Idee der Integration selbst mit Leben füllen.

Das Netzwerk ehrenamtlich Engagierter mit hauptberuflichen Ansprechpersonen - es hat sich als Erfolgsmodell für die Integrationsbegleitung erwiesen: Flächendeckend in jedem Stadt- und Kreisdekanat arbeiten Integrationsbeauftragte der Aktion Neue Nachbarn. Das Modell hat sich in der aktuellen Corona-Krise bewährt, als die Integrationsbeauftragten quasi über Nacht die Vernetzung der Nachbarschaftshilfe übernahmen oder unterstützten.

Und noch etwas sollte nicht unterschätzt werden: Engagierte, die sich für die zugewanderten Menschen interessieren, haben über deren Einzelschicksale auch die Zusammenhänge von Fluchtursachen und deren globaler Verantwortlichkeit kennengelernt. Oder sie engagieren sich im Wissen um die globalen Missstände. Oft sind sie auch politisch wach und äußern sich entsprechend. So fordern sie Kirche heraus, Stellung zu beziehen.

Andersherum bestärken politische Statements und etwa das öffentliche Engagement von Kardinal Woelki und anderen Bischöfen zu Themen wie Bekämpfung von Fluchtursachen, sicheren Zugangswegen, Integrationsförderung und Familienzusammenführung Engagierte innerkirchlich und gesellschaftlich.

 

Logo der Aktion 'Neue Nachbarn' des Erzbistums Köln mit einem Herz in dem eine Tür aufgeht

Facebook: www.facebook.com/groups/NeueNachbarnNetzwerk
Web: www.aktion-neue-nachbarn.de



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Aus Yarmouk zum Dorfleben am Desenberg

Aeham Ahmad sitzt auf der Straße zwischen den Trümmern der zerstörten syrischen Stadt Yarmouk an einem Klavier und spielt draufDer Pianist aus den Trümmern: Das Foto des später ums Leben gekommenen Fotografen Niraz Saied wurde auf der ganzen Welt als Zeichen gegen die Sinnlosigkeit des Krieges verstanden.Foto: Niraz Saied

Auf Papas Schoß lässt es sich prima singen: Leise, aber für seine fünf Jahre erstaunlich textsicher hebt der kleine Kinan an: "Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten …" Das alte deutsche Volkslied über die Gedankenfreiheit, gegen Unterdrückung und Despoten-Willkür erklingt in der Stube des alten Wohnhauses. Papa Aeham begleitet derweil auf dem Klavier, seine Finger scheinen über den Tasten zu schweben, gleiten irgendwann ab in sanfte Molltöne und jazzige Improvisationen.

2014 ging sein Foto aus dem belagerten Yarmouk, dem Palästinenser-Viertel von Damaskus, um die Welt. Doch auch der "Pianist aus den Trümmern" musste bald aus dem syrischen Bürgerkrieg fliehen. In Deutschland wohnte Aeham mit Frau Tahani, den Kindern Ahmad und Kinan sowie mit seiner Mutter und seinem blinden Vater zunächst in Wiesbaden. Irgendwann kam der Wunsch nach einem eigenen Haus, das sich in der hessischen Landeshauptstadt jedoch als unbezahlbar erwies. Selbst für einen Pianisten, der fast täglich auf Bühnen im In- und Ausland steht, aber eben auch eine große Verwandtschaft inner- und außerhalb Syriens mitversorgen muss. 2019 kam dann der Tipp von Freunden aus dem Kreis Höxter, sich dort mal nach Wohnraum umzusehen. Der Leerstand dort ist in vielen Dörfern gravierend, und so kam auch Familie Ahmad zu einem eigenen Haus zum Schnäppchenpreis. "In Wiesbaden hätte ich dafür nicht mal eine Einzimmerwohnung kaufen können."

Aeham bereut die Entscheidung nicht. Nein, abgeschnitten von der Welt sei die Familie nicht, die neben der Dorfkirche von Daseburg am Fuß des Desenbergs in der Warburger Börde wohnt. Die Internet-Verbindung funktioniert, die Bahnanschlüsse in Warburg oder auch in Kassel sind schnell zu erreichen. Das Beste sei aber das Dorfleben selbst, das die inzwischen um Töchterchen Sarah vergrößerte Familie genießt. "Im Anfang dachte ich, es wird schwierig. Meine Frau trägt schließlich Kopftuch." Aber die Menschen in dem 1400- Einwohner-Dorf seien total entspannt. Die Kinder könnten unbeschwert draußen spielen, über Kita und Schule entstünden Kontakte ebenso wie über die Musik. In der Dorf­kirche gab es bereits ein Benefizkonzert, bei dem auch Aehams blinder Vater mit seiner Geige mitwirkte. Gerade für Vater Ahmad sei die Integration eine Herausforderung. "Er hört zum ersten Mal Vögel singen, die es in Syrien nicht gibt, hört fremde Motorgeräusche auf der Straße." Aeham beschreibt ihm die Natur, die Landschaft und vor allem den Desenberg, der sich als Vulkankegel, wie aus einem Fantasy-Film entsprungen, aus der ansonsten flachen Bördelandschaft erhebt.

Vater Ahmad (68) sorgte in Syrien trotz seiner Behinderung als Schreiner für das Überleben der Familie. Als Multitalent brachte er sich in Damaskus das Klavierstimmen bei und förderte mit allen Mitteln die musikalische Ausbildung seines Sohnes an Musikschule und Konservatorium. Dass Aeham dabei auch in der klassischen europäischen Musik ausgebildet wurde, war Vater Ahmad, dessen Familie 1948 aus Israel geflüchtet war, ein besonderes Anliegen. "Aeham, du sollst eine Sprache lernen, die jeder versteht", sagte der Vater seinem Sohn, wenn der sich darüber beschwerte, dass er ausgerechnet Mozart auf dem Klavier erlernen sollte, einen Musiker, der in einem palästinensischen Flüchtlingsviertel nach Aehams Meinung nun wirklich niemand kenne. Vater Ahmad duldete keine Widerrede; der Junge sollte international aufwachsen.

Mehr Flexibilität ist nötig

Aeham hat inzwischen zusammen mit Christen, Juden oder Hindus gemeinsam musiziert. "Musik wirkt wie eine Brücke", sagt er. Großartig findet er deshalb das vom Diözesan-Caritasverband Paderborn geförderte Projekt einer Musikschule in Damaskus, in der christliche und muslimische Kinder gemeinsam Instrumente erlernen. Während des Krieges im belagerten und hungernden Yarmouk hat Aeham erfahren, dass Musik noch eine andere Bedeutung hat: Sie hilft beim psychischen Überleben. Vor allem die Kinder drängten ihn, immer wieder gemeinsam auf der Straße zu singen und zu spielen. Ein zwölfjähriges Mädchen bezahlte das mit dem Leben, als ein Scharfschütze die Gruppe unter Feuer nahm. Auch der Fotograf des berühmten Bildes lebt nicht mehr, er starb in einem Gefängnis des Regimes.

Aeham Ahmad sitzt in seiner Wohnung an einem Klavier, spielt und blickt dabei lächelnd in die Kamera. Sein Sohn sitzt dabei auf seinem Schoß.Fühlt sich wohl in Warburg-Daseburg: Aeham Ahmad mit seinem zweiten Sohn KinanFoto: Jürgen Sauer

Auch Aeham hätte seine Liebe für die Musik beinahe mit dem Leben bezahlt: 2015 hatten die Islamisten des IS die Kontrolle über Yarmouk übernommen. Als er eines Tages mit seinem Vater das Klavier über die Straße schob, wurde er von einem IS-Kämpfer angehalten. Hätte nicht sein Vater gelogen und behauptet, sein Sohn sei nur der Helfer zum Klavierschieben, wäre Aeham heute nicht mehr am Leben. Mit jungen Musikern machte der IS kurzen Prozess, mit alten Männern hatte man Erbarmen. So wurde "nur" sein Klavier mit Benzin übergossen und angezündet. In dem Augenblick wusste Aeham, dass er fliehen musste. Ein erster Versuch mit Frau und Kindern endete für alle im Gefängnis von Homs, das sie zum Glück nach nur wenigen Tagen verlassen konnten. Den zweiten Versuch wagte Aeham allein: Über die Türkei, die griechische Insel Lesbos und die Balkanroute gelangte er im Herbst 2015 nach Deutschland - das Land seiner Hoffnung, von dem in jenen Monaten Bilder um die Welt gingen mit der für junge Syrer wie Aeham unglaublichen Botschaft: Refugees welcome!

Taugt Musik auch für die Integration von Flüchtlingen? Für Aeham lässt sich dies nicht pauschal beantworten. Denn Integration hängt für ihn in erster Linie von individueller menschlicher Begegnung ab. Konkret: Ob Flüchtlinge auf Menschen träfen, die ihnen auf einem Stück ihres Weges zur Seite ständen, sei Voraussetzung dafür, ob Integration gelinge oder nicht. In seinem Fall sind es sogar sehr viele Menschen, die sich ehrenamtlich für ihn einsetzen, die geduldig erklären, was Behörden von ihm wollen, die darauf achten, dass die finanziellen Dinge geregelt sind. Aber er kennt auch viele Flüchtlinge, die nicht so viel Glück hatten. Menschen, die schwer traumatisiert sind, weil sie auf ihrer Flucht mit ansehen mussten, wie drei ihrer vier Kinder in der Ägäis ertrunken sind. "Solche Menschen brauchen nicht allein einen Sprachkurs."

Nein, das sture Abarbeiten von amtlich vorgesehenen Integrationsangeboten ist für ihn nicht hilfreich. Ebenso wenig wie Sprachkurse, die rein gar nichts mit dem Alltag zu tun haben. Sinnvoller sei es, Flüchtlinge von vornherein arbeiten zu lassen und während dieser Arbeit ein auf die Tätigkeit bezogenes Sprachtraining zu ermöglichen. Auch die Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen sollte flexibler geregelt werden. Wer in Syrien Elektriker gelernt hat, sollte hier auch problemlos arbeiten dürfen. "Strom ist Strom, ob in Deutschland oder Syrien." Flexibilität ist für ihn, der das Improvisieren und Zusammenführen von Stilrichtungen in der Musik liebt, der Königsweg. Selbst so bekannte Melodien wie "Die Gedanken sind frei" klingen dann plötzlich total interessant.



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Vier Wände in der Fremde

Eine Flüchtlingsunterkunft (ehemalig Ecco-Hotel) der Caritas in Dinslaken in der Außenansicht. Vor dem Gebäude parken zwei Transporter der Caritas-Flüchtlingshilfe.Weil das ehemalige Hotel leer stand, konnte die Caritas Dinslaken es als Flüchtlingsunterkunft anmieten. Dort leben aktuell 62 Menschen, die alle hoffen, bald auf dem Wohnungsmarkt etwas Bezahlbares zu finden.Foto: Tobias Krause

Eine Frau trug ihre Kleidung, Sandalen an den Füßen und einen kleinen Beutel mit Lebensmitteln bei sich - das war alles, was sie noch hatte", erinnert sich Caritasdirektor Michael van Meerbeck an eine Nacht im Herbst 2015, als Reisebusse mit geflüchteten Menschen auf den Hof des Caritasverbandes für die Dekanate Dinslaken und Wesel fuhren. Engagiert waren Mitarbeitende und Ehrenamtliche zur Stelle, um Betten aufzubauen, Versorgung und Notbetreuung sicherzustellen. In vier Übergangswohnheimen beherbergte die Caritas am Niederrhein zeitweise bis zu 2000 geflüchtete Frauen, Männer und Kinder.

Eine Fluchtgeschichte ist mit dem Überschreiten einer Ländergrenze nicht abgeschlossen. In Deutschland angekommen, folgt eine Odyssee durch Übergangswohnheime. Von der Zentralen Unterbringungseinrichtung (ZUE) werden Geflüchtete prozentual einzelnen Kommunen zugewiesen. In einer neuen Stadt beziehen sie ein weiteres Mal ein Zimmer auf Zeit. "Auf dem Weg geflüchteter Menschen liegen viele Stationen", weiß Sabine Walczak. Die Sozialarbeiterin ist Ansprechpartnerin für Menschen mit Fluchthintergrund in den Kommunalen Unterbringungseinrichtungen der Caritas für die Dekanate Dinslaken und Wesel.

Hürden bei der Wohnungssuche

Im ehemaligen "ECCO-Hotel", einer leer stehenden Hotel-Anlage in Schermbeck, leben aktuell 62 Frauen, Männer und Kinder, betreut von der Caritas. Die meisten kamen aus dem Irak, Syrien, Afghanistan und Guinea nach Deutschland. Aktuell, so die Sozialarbeiterin, flüchten viele aus der Türkei. Und auch wenn das Thema Flucht in den Medien an Aufmerksamkeit verloren habe, betont Guido Busch, Fachbereichsleiter für Existenzhilfen: "Es kommen immer noch Menschen zu uns - und das ist auch gut so." In vielen Herkunftsländern der "Besucher", wie die Bewohner der Übergangsunterkünfte genannt werden, herrschten unmenschliche Bedingungen, gibt Busch zu bedenken.

Im März dieses Jahres haben Caritas-Einrichtungen in Schermbeck 40 weitere Geflüchtete aufgenommen. Auch Fatima* (45) hat mit Tochter Nadia* (11) ein 18-Quadratmeter-Zimmer im "ECCO-Hotel" bezogen - ein lang ersehntes Wiedersehen mit ihrem Mann Ahmed* (51), der ein Jahr zuvor geflohen war. Der Familienvater war in der Türkei Universitätsprofessor, bis die Regierung der Hochschule vorwarf, die Gülen-Bewegung zu unterstützen. Die Universität musste schließen, Angestellte wurden arbeitslos ohne berufliche und soziale Perspektive. Fatima berichtet, die Familie habe Haus und Wohnung verkauft, um finanziell zu überleben. Als Ahmed und seine Kollegen 2019 zu Haftstrafen verurteilt wurden, war der Entschluss zur Flucht getroffen. "Jetzt sind wir sehr froh, in Deutschland zu sein", sagt Fatima. Auch die Perspektive, die Flüchtlingsunterkunft bald verlassen zu können, trägt dazu bei. In naher Zukunft kann die Familie voraussichtlich eine 2,5-Zimmer-Wohnung in Schermbeck beziehen.

Guido Busch (Fachbereichsleiter), Michael van Meerbeck (Caritasdirektor) und Sabine Walczak (Sozialarbeiterin) stehen mit Abstand in einem großen Raum der Geschäftsstelle der Caritas Dinslaken-WeselSie unterstützen geflüchtete Menschen – von einem ersten Bett in der Notunterkunft bis zur Schlüsselübergabe der eigenen Wohnung: Guido Busch (Fachbereichsleiter), Michael van Meerbeck (Caritasdirektor) und Sabine Walczak (Sozialarbeiterin) der Caritas (v. l.) für die Dekanate Dinslaken und Wesel.Foto: Juliane Büker

"Das ist nicht die super Lösung", kommentiert Sozialarbeiterin Sabine Walczak die Größe der Wohnung, "aber es hilft der Familie, nach einer aufreibenden Zeit zur Ruhe zu kommen." Aus ihrer Erfahrung heraus ist die erste eigene Wohnung nach einer Übergangsunterkunft eine weitere Station auf dem Weg des Ankommens in einem neuen Land - von hier sei es oft leichter, eine Arbeitsstelle und dann auch eine angemessenere Wohnung zu finden.

Die Caritas unterstützt Besucher ihrer Übergangsunterkünfte darin auszuziehen. Oft wird beispielsweise eine finanzielle Grundversorgung durch Arbeitslosengeld II beantragt, Wohnkosten inbegriffen. Eine geeignete Wohnung zu finden, ist dann schon schwieriger. Regelmäßig sichtet Sozialarbeiterin Sabine Walczak den Wohnungsmarkt. Insgesamt habe sie gute Erfahrungen mit Vermietern gemacht. "Nur manchmal heißt es auch: ‚Wir wollen keine arbeitslosen Mieter - oder keine alleinstehenden Männer.‘ Dann ist das Bauchgefühl klar - da will jemand keine geflüchteten Mieter."

Sind Geflüchtete zudem an Wohnsitzauflagen gebunden, die gesetzlich vorschreiben, mindestens drei Jahre an dem Ort der Zuweisung bleiben zu müssen, wird die Wohnungssuche in Städten mit knappem Wohnraum nicht leichter. Von den 40 Neuankömmlingen, die im März nach Schermbeck kamen, sind 38 an diese Auflage gebunden.

Auch das knappe Angebot an sozialem Wohnraum ist für geflüchtete Menschen häufig schwer zugänglich. Berechtigt, eine Sozialwohnung anzumieten, seien Niedrigverdienende, erklärt die Sozialarbeiterin. Die notwendige Bescheinigung darüber, den Wohnberechtigungsschein, erhalten aber nur diejenigen, bei denen geklärt ist, dass sie wenigstens ein Jahr in Deutschland bleiben dürfen.

Porträt: Sabine Walczak, die an einem Holztisch vor einigen Unterlagen sitzt. Im Hintergrund ist ein Caritas-Logo an der Wand zu sehen.Ein wahrer Türöffner: Die Sozialarbeiterin Sabine Walczak sichtet regelmäßig das örtliche Wohnungsangebot und tritt mit Vermietern in Kontakt. 25 Wohnungszusagen für Geflüchtete konnte sie so schon gewinnen.Foto: Juliane Büker

Was über die Hürden bei der Wohnungssuche helfen könne, sei, als Caritas präsent zu sein. "Ich biete Vermietern an, sich bei Schwierigkeiten an uns zu wenden", sagt Walczak. 25 Wohnungen hat sie in den letzten dreieinhalb Jahren für Geflüchtete gewinnen können.

Die Botschaft "Wir kümmern uns" hat Substanz. Damit der Übergang in die eigenen vier Wände gelingt, bietet die Caritas aufsuchende Hilfen an: ein Betreuungsangebot für Geflüchtete, die in eigenen Wohnungen leben - über eine Zeit im Flüchtlingsheim hinaus. "Es reicht nicht aus, den Mietvertrag zu unterschreiben und den Umzug zu begleiten - danach fangen neue Probleme an", weiß Guido Busch. Wie kaufe ich günstig ein? Wie entsorge ich meinen Müll? Welches Ticket brauche ich im Bus? Und was mache ich mit der Post von den Stadtwerken? Fragen, die in einem unbekannten Land vermutlich nur wenige Neuzugezogene beantworten können, deren Klärung einen großen Teil zu einem guten Mietverhältnis, Ankommen und Auskennen beiträgt.

Ahmed und Fatima können ihr baldiges Glück der eigenen Wohnung noch gar nicht richtig glauben und danken ihrem "Engel Sabine". Die Zeit der Flucht sei wie ein "schlechter Traum". Doch das Fußfassen in Deutschland nimmt Form an. Ahmed hat Kontakt zu Universitäten aufgenommen und einzelne Lehraufträge in Aussicht. Nur eine Sorge bleibt: Zwei erwachsene Töchter der Familie sind noch in der Türkei - und ihre Zukunft ist ungewiss. "Dass unsere Familie wieder zusammen ist", ist der größte Wunsch der geflüchteten Eltern.

www.caritas-wesel.de



* Name geändert

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Zur Flucht verflucht

Ein Flüchtlingslager in Igawa im Norden Kamerums: Im Hintergrund ist eine große Menschenmenge zu sehen, im Vordergrund sind diverse Schuhe aufgehäuft. Dazwischen sind Drahtzäune und eine Baum zu sehenFoto: Corrado Disegna – Caritas international

Seit Jahren steigt die Zahl der Menschen, die aufgrund von Hunger, Repression, Krieg, Gewalt oder Naturkatastrophen ihr Zuhause verlassen müssen. Waren es vor fünf Jahren noch 65,3 Millionen Geflüchtete, zeigen die aktuellen Zahlen laut dem UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR einen Anstieg auf 79,5 Millionen. Noch nie waren mehr Menschen auf der Flucht als heute. Fast 70 Prozent der weltweit Geflüchteten kommen dabei aus nur fünf Ländern: Syrien (6,6 Mio.), Venezuela (3,7 Mio.), Afghanistan (2,7 Mio.), dem Südsudan (2,2 Mio.) und Myanmar (1,1 Mio.).

Die Gründe sind vielfältig, eine entscheidende Rolle spielt steigende Gewalt: Unsere Welt ist stark geprägt von kriegerischen Auseinandersetzungen. Es gibt mehr Länder mit Konflikten als ohne. Seit Jahren werden regelmäßig über 200 Konflikte weltweit gezählt. In vielen Teilen Afrikas, im Nahen und Mittleren Osten und in den Ländern Afghanistan und Pakistan finden besonders viele Kampfhandlungen statt. Die Anzahl klassischer, zwischen zwei Staaten geführter Kriege ist dabei in den vergangenen Jahren zurückgegangen, deutlich gestiegen dagegen ist die Zahl innerstaatlicher gewalttätiger Konflikte und Bürgerkriege mit vielen Toten.

Zweite zentrale Fluchtursache sind Naturkatastrophen: Änderungen des Klimas und der Umwelt haben Menschen schon immer dazu gezwungen, ihre Lebensregion zu verlassen. Seit den 90er-Jahren hat sich die Zahl der Naturkatastrophen jedoch auf heute durchschnittlich 350 pro Jahr verdoppelt. Unter anderem durch den Ausstoß von Treibhausgasen nimmt die globale Erwärmung ein zuvor nicht da gewesenes Ausmaß an. Dies führt dazu, dass auf allen Kontinenten, insbesondere aber in den Ländern des Globalen Südens, die Lebensgrundlagen ganzer Gemeinschaften durch zunehmende Unwetterkatastrophen und Umweltveränderungen bedroht werden. Dazu zählen Überschwemmungen, Hurrikane und Taifune, der Meeresspiegelanstieg, die Erosion von Küstenstreifen oder die Versalzung von Böden und Grundwasser. Im Jahr 2019 wurden fast 25 Millionen Menschen aufgrund von Extremwetterereignissen zu Binnenvertriebenen. Hinzu kommt die nicht statistisch erfasste Zahl von Menschen, die aufgrund von langsam fortschreitenden Klimaveränderungen wie Dürren ihre Heimat aufgeben mussten.

Neben der Zunahme an Kriegen und Konflikten sowie Klimaveränderungen und Umweltkatastrophen gibt es viele weitere Gründe, warum Menschen auf der Flucht sind. Dazu zählen auch der Handel mit Rohstoffen und Landraub: Der Rohstoffabbau führt oftmals dazu, dass Menschen ihrer Existenzgrundlage beraubt werden oder ihren Lebensraum verlieren. Vielen bleibt nichts anderes, als in die Städte oder in Nachbarländer abzuwandern. Ein weiterer Faktor zwingt Menschen vermehrt zur Flucht: Durch weltweit wachsenden Konsum, Energiehunger und damit wachsenden Flächenverbrauch ist Land zur Handels- und Spekulationsware geworden. Das Phänomen der Landvergabe an Industrieländer, Agrarkonzerne, aber auch an internationale Banken und Investmentfonds ist als "Landgrabbing" bekannt geworden.

Ein geflüchteter Senior, der im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos stehtKein Mensch entschließt sich leichtfertig zur Flucht. Immer sind es schwerwiegende Gründe, wenn jemand seine Heimat, seine Familie, seinen Beruf verlässt. Die Hoffnung auf Frieden und bessere Lebensumstände treibt die Menschen an.Foto: Alea Horst – Caritas Österreich

Nicht die Europäer tragen die Hauptlast

Wohin aber fliehen die Menschen? In deutschen und europäischen Medien wurde lange (und wird immer noch) von Flüchtlingswellen, -strömen und -fluten gesprochen, die vermeintlich auf Europa und Deutschland zurollen. Doch nicht Europa trägt die Hauptlast der weltweiten Flucht- und Migrationsbewegungen. Laut dem UN-Flüchtlingskommissariat bleiben Menschen auf der Flucht in der Nähe ihrer Heimat: 85 Prozent der Geflüchteten halten sich in den Ländern des Globalen Südens, oft in den direkten Nachbarländern, auf.

Die weitaus größte Zahl an Menschen befindet sich zudem auf der Flucht im eigenen Land und überschreitet dabei keine internationale Grenze: Die Gesamtzahl der Menschen, die laut UNHCR Ende 2019 weltweit als Vertriebene im eigenen Land lebten, wird auf knapp 46 Millionen geschätzt.

Flucht und Vertreibung stellen eine menschliche Katastrophe und eine immense Belastung für arme Staaten dar. In diesem Zusammenhang wird gerade aus der Politik immer wieder der Ruf nach "Fluchtursachenbekämpfung" laut, oftmals ohne jedoch tatsächlich die Ursachen für Migration und Flucht genauer zu analysieren und dagegen vorzugehen. Die politische Agenda scheint oft nicht den Schutz der Menschen auf ihrem Weg und in prekärer Lage in den Vordergrund zu stellen, sondern die Abschottung Europas.

Lebensbedingungen nachhaltig verbessern

Caritas international setzt sich mit ihren erfahrenen Partnern vor Ort für eine Verbesserung der Situation von Geflüchteten und Vertriebenen ein. Wir kennen die Herausforderungen und mögliche Lösungsansätze sehr gut. Humanitäre Hilfe kann jedoch im besten Falle nur die Schutzsuchenden und die aufnehmenden Gemeinden unterstützen und Leiden lindern. Wollen wir jedoch dazu beitragen, dass Menschen ihre Heimat nicht verlassen müssen, dann reichen Maßnahmen dieser Art nicht aus, vielmehr müssen Bedingungen strukturell und nachhaltig verbessert werden. Es braucht ein abgestimmtes, einheitliches Agieren auf Staatenebene, um Aktivitäten zur Unterstützung von Konflikten und Gewalt zu unterbinden, was sich auch auf Rüstungsexporte und insbesondere den Handel mit Kleinwaffen bezieht. Es gilt, friedliche/zivile Maßnahmen zur Konfliktprävention und Friedensförderung umzusetzen, und es müssen mehr finanzielle Mittel dafür bereitgestellt werden. Es braucht ein gemeinsames Engagement und politische Initiativen von allen Akteuren und auf allen Ebenen (international, regional, national und lokal), um die aktuellen globalen Herausforderungen erfolgreich bearbeiten zu können. Dazu gehört auch die Stärkung von Guter Regierungsführung ("Good Governance"), Menschenrechten und fairen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen. Die Menschen benötigen Perspektiven und damit die Hoffnung auf bessere Lebensumstände - sowohl in Deutschland als auch weltweit.



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Vorstellungspitch

Porträt: Dr. Boris KrauseDr Boris Krause, Theologischer Referent beim Caritasverband für die Diözese Münster

Ich bin kein Fan von klassischen Vorstellungsrunden in Gruppen, bei denen jede anwesende Person reihum ihren Namen, ihre berufliche Funktion und den Funktionsort nennt. Es sind viele Informationen im Umlauf, wenig davon bleibt hängen, und es verstreicht viel Zeit. Vor allem aber erfährt man gar nicht so viel über die Personen, die da im Raum sitzen.

Gewiss sind Namensrunden bei manchen Anlässen durchaus angebracht und sinnvoll. Doch ich habe mir schon öfters ausgemalt, wie es wäre, wenn Michaela M. die Runde anfängt, aber nicht mitteilt, dass sie Leiterin des Verbands XY ist, oder Andreas S. nicht sagt, dass er Pflegefachkraft in der Einrichtung YZ ist, sondern dass alle den sogenannten "Vorstellungspitch" verwenden.

Was ist der "Vorstellungspitch"? Im Grunde ist es ein Satz, der Auskunft über die mit jedem Job verbundene "höhere" Aufgabe gibt - oder wenn man so will: den "tieferen" Sinn der eigenen Tätigkeit. Und der ist ganz persönlich und individuell.

Mit dem Vorstellungspitch sagt etwa der Kollege vom Empfang der Beratungsstelle nicht "Ich bin Servicekraft", sondern "Ich bringe Menschen zusammen". Oder etwa die Kita-Mitarbeiterin teilt nicht mehr einfach nur mit "Ich bin Erzieherin in Kita St. …", sondern zum Beispiel "Ich baue mit am Fundament einer Gesellschaft mutiger Menschen".

Die Krankenpflegerin stellt sich nicht als "Pflegefachkraft in der Stati-­on XY" vor, sondern könnte die Worte verwenden: "Ich verleihe tagtäglich der Würde verletzlicher Menschen Ausdruck."

Klar, es löste Irritation aus, wenn man sich im Alltag tatsächlich so vorstellen würde. Und in Gremienrunden wäre es maximal seltsam, Menschen darum zu bitten.

Doch als Gedankenexperiment kann es persönlich durchaus erhellend sein, sich mit dem Vorstellungspitch auseinanderzusetzen. Denn er gibt nicht nur anderen Auskunft über mich, sondern er verschafft mir selbst mehr Klarheit über mein eigenes persönliches Leitbild.

Darum herzliche Einladung zum Nachdenken: Was wäre dein Vorstellungspitch?



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"Integration ist nicht einfach"

Samer Qarqash sitzt an seinem Arbeitsplatz vor einem Laptop und guckt eine Klientin mit Schutzmaske an, die ihm gegenüber sitztSamer Qarqash, der im November 2014 selbst als Flüchtling aus Syrien nach Deutschland kam, arbeitet als Verfahrensberater in der Erstaufnahmeeinrichtung in Mönchengladbach. Er ist beim SKM in Rheydt angestellt.Foto: Joanna Faltien

Caritas in NRW Herr Qarqash, sie kommen aus Syrien. Warum sind sie geflohen?

Samer Qarqash: Leider ist in meinem Heimatland Krieg. Es gibt große Konflikte zwischen unterschiedlichen Seiten. Ich habe in meiner Heimat nach meinem Studium der Geschichte und Zivilisations- und Kunstgeschichte an der Universität als Dozent für Zivilisationsgeschichte und Kunstgeschichte gearbeitet und war zudem noch bei den Vereinten Nationen als Sozialarbeiter tätig. Dort war ich Berater für palästinensische Flüchtlinge. Denn mein Land hat viele Erfahrungen mit Flüchtlingen: aus dem Irak, aus dem Libanon, aus Palästina. Durch diese Tätigkeit bei den Vereinten Nationen war aber das Leben meiner Familie in Gefahr. Mir und meiner Familie wurde mit Entführung gedroht.

Caritas in NRW: Also haben Sie sich entschlossen, Syrien zu verlassen.

Samer Qarqash: Ich bin zunächst alleine in die Türkei geflüchtet. Später ist meine Frau mit unserem Sohn und unserer Tochter auch in die Türkei geflüchtet. Von dort kamen sie dann, als ich schon in Deutschland war, als Familiennachzug hierher. Ich habe einen entsprechenden Antrag gestellt. Meine Frau wurde dann in der Türkei von Angehörigen der Deutschen Botschaft befragt, erhielt ein Visum und kam mit den Kindern mit dem Flugzeug nach Deutschland. Sie kamen ein Jahr später als ich nach Deutschland, also im November 2015.

Caritas in NRW: Über welche Route sind Sie nach Deutschland gekommen?

Samer Qarqash: Ich bin von der Türkei mit einem Boot übers Meer nach Italien gekommen. Das Boot war etwa 35 Meter lang und hatte etwa 250 Personen an Bord. Ich habe zuerst versucht, das Flugzeug zu nehmen, aber das hat nicht geklappt. Also waren wir zehn Tage auf dem Meer unterwegs.

Caritas in NRW: Und die Angst war ihr ständiger Begleiter.

Samer Qarqash: Natürlich. Ich habe gedacht, dass ich das nicht überleben würde.

Caritas in NRW: Wie verändern Erfahrungen, die Sie während der Flucht gemacht haben, einen Menschen?

Samer Qarqash: So generell lässt sich das nach meinen Erfahrungen, die ich in der Beratungsarbeit mache, nicht beantworten. Es gibt Menschen, die mit Gefahren umgehen. Und dann gibt es Menschen, die sind regelrecht geschockt.

Caritas in NRW: Und wie haben Sie diese Überfahrt übers Meer verkraftet?

Samer Qarqash: Es war eine Katastrophe. Zehn Tage auf dem Meer in diesem Boot zu sein, auf dem viele Frauen waren und auch Kinder, die geschriene haben, war sehr hart. Aber es gab keinen Weg zurück. Wenn ich heute am Meer bin denke ich immer an meine Flucht. Das geht nicht weg.

Zufahrtsstraße zur EAE Mönchengladbach mit einigen Verkehrsschildern und einer Schranke. Auf der Straße fährt ein weißer Lieferwagen, auf dem Bürgersteig geht ein Geflüchteter mit zwei Kindern.Zufahrtsstraße zur Erstaufnahmeeinrichtung in MönchengladbachFoto: Christian Heidrich

Caritas in NRW: War Ihnen bewusst, dass Sie sich in Lebensgefahr begeben würden, als sie in der Türkei in dieses Boot gestiegen sind?

Samer Qarqash: Nein. Die Leute, die in der Türkei die Überfahrt nach Italien organisiert haben, sind Menschenhändler. Sie sind Lügner. Zu mir haben Sie gesagt, dass auf dem Meer ein großes Schiff liegen würde und die Überfahrt nach Italien nicht gefährlich sei. Aber die Passagiere müssten mit kleinen Booten zu dem Schiff gebracht werden. Ich habe nicht gewusst, was mich tatsächlich erwarten würde und dass es so gefährlich werden würde.

Caritas in NRW: Hatten Sie auf dem Boot zu essen?

Samer Qarqash: Wir hatten wenig zu essen. Für jede Person gab es pro Tag ein Fladenbrot, eine Dose Fisch und ein Glas Wasser.

Caritas in NRW: Sind auf der Flucht in diesem Boot bei diesen Bedingungen Menschen gestorben?

Samer Qarqash: Zum Glück nicht. Wir hatten einen Mann an Bord, der Diabetiker war. Das war extrem schwierig, aber er hatte großes Glück, dass er diese Strapazen überlebt hat.

Caritas in NRW: Von Italien kamen Sie dann wie nach Deutschland?

Samer Qarqash: Mit dem Auto, wir waren zu Dritt.

Caritas in NRW: Waren Sie in Deutschland sofort in Mönchengladbach, wo sie jetzt leben?

Samer Qarqash: Nein, ich kam zuerst in die Erstaufnahmeeinrichtung nach Dortmund, kurz EAE genannt. Von dort kam ich in eine Flüchtlingsunterkunft nach Essen, wo ich zwei Wochen blieb. Dann ging es für mich weiter nach Niedersachsen, nach Osnabrück. Dort bin ich sechs Monate geblieben und habe dort auf den Bescheid vom BAMF gewartet. Als der da war, habe ich Kontakt aufgenommen mit einem Onkel von mir in Kempen am Niederrhein. Er war dort Arzt, ist mittlerweile aber verstorben. Er lebte schon 30 Jahre in Deutschland. Und sein Sohn, also mein Cousin, wohnt in Mönchengladbach. So kam ich hierhin. Ich hatte Glück.



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"Integration ist nicht einfach" (Teil 3)

Samer Qarqash sitzt mit Schutzmaske und einem aufgeschlagenen Buch zum Ausländerecht in einem Büro an einem Schreibtisch und guckt einen Klienten mit Schutzmaske an, der ihm gegenüber sitztBeratung unter Corona-Bedingungen: Samer Qarqash trifft sich mit einem Ratsuchenden beim SKM in Rheydt. Zwischen den beiden steht eine Plexiglasscheibe.Foto: DiCV Aachen

Caritas in NRW: Wenn Sie Flüchtlingen erzählen, dass Sie selbst in der gleichen Situation wie sie gewesen sind, erleben Sie dann bei den Flüchtlingen Erleichterung?

Samer Qarqash: Viele sagen: ‚Ja, echt? Dann wissen Sie ja, was auf der Flucht passiert.‘ Und ich ermutige sie, zu sprechen und erkläre Ihnen dann, was wir auf Grundlage der Gesetze für sie in Deutschland tun können.

Caritas in NRW: Sie sind selbst Muslim und arbeiten bei einem katholischen Verband. War Ihnen das bewusst, als Sie hier angefangen haben?

Samer Qarqash: Ich habe als Muslim keine Probleme mit anderen Religionen und mit anderen Nationalitäten. In Syrien gibt es viele Religionen: Juden, Christen, Muslime, Yazidis, Drusen. Es gibt auch Atheisten. Ebenso gibt es dort viele Nationalitäten: Araber, Kurden, Armenier, Circassianer, Turkmenen, Assyrer und so weiter. Wir haben in einer Gemeinschaft gelebt. Deshalb habe ich damit keine Probleme.

Caritas in NRW: Wie gehen Sie mit Menschen um, die von der Flucht schwer traumatisiert sind?

Samer Qarqash: Viele Menschen haben das Gefühl, in großer Gefahr zu sein. Sie entwickeln Furcht, was zu Persönlichkeitsstörungen oder Schlafstörungen führen kann. Sie sind nicht mehr ausgeglichen, können nicht arbeiten, entwickeln gar Depressionen. Auch Suizide kommen dann leider vor. Ich hatte einen Klienten, der versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Beim SKM haben wir zum Glück das Psychosoziale Zentrum. Für Flüchtlinge, die derart schwer belastet sind, machen wir dort einen Termin aus, um ihnen gezielt helfen zu können. Solche Probleme treten meiner Erfahrung nach vor allem bei älteren Personen auf. Ich kannte einen Flüchtling, der 55 Jahre alt war. Er kam aus Syrien hierher, konnte kein Deutsch, musste aber arbeiten. Er hat sich hier nicht zurechtgefunden und ist in eine Depression gerutscht.

Caritas in NRW: Sicher ist es gut, wenn man mit den Menschen in Ihrer Muttersprache sprechen kann. Sie werden nicht alle Sprachen können, die im EAE vorkommen. Wie händeln sie das?

Samer Qarqash: Beim SKM gibt es Dolmetscher, die uns dann zur Seite stehen. In der Corona-Pandemie machen wir es so, dass wir den Dolmetscher per Telefon hinzuschalten. Wir schalten dann den Lautsprecher an und wir können ihn hören.

Caritas in NRW: Menschen kommen hier in einen für sie fremden Kulturkreis. Das ist eine große Herausforderung.

Samer Qarqash: Integration ist nicht einfach. Denn es gibt hier viele Kulturen. Es gibt nicht immer gute soziale Kontakte zwischen Deutschen und Geflüchteten und zwischen Geflüchteten oder Migranten unterschiedlicher Herkunft. Es gibt zum Beispiel keine Kontakte zwischen Arabern und Polen. Das ist ein Problem. Wir sind hier aber in Deutschland, sitzen alle in einem Boot, und Menschen unterschiedlicher Herkunft müssen sich begegnen. Zwar gibt es zahlreiche Programme, aber es sind zu wenige.

Die Zufahrt zur Erstaufnahmeeinrichtung Mönchengladbach aus der FerneZufahrt zur EAE MönchengladbachFoto: Christian Heidrich

Caritas in NRW: Was macht es schwer, sich in Deutschland zurechtzufinden?

Samer Qarqash: Wenn man nach Deutschland flüchtet, weiß man nicht, was hier wirklich los ist. Es gibt in vielerlei Hinsicht ein völlig anderes System als in vielen der Herkunftsländer der Flüchtlinge. Ein Beispiel sind Steuern. Ein anderes sind Briefe. In manchen Ländern gibt es keine Briefe, da läuft alles über Mail. In Deutschland kommt ein Bescheid vom Jobcenter zum Beispiel mit der Post. Wenn man das nicht weiß, den Brief nicht öffnet oder ihn öffnet, aber den Inhalt nicht versteht und nichts tut und daher Fristen verstreichen lässt, bekommt man möglicherweise Strafen.

Caritas in NRW: Sind wir ein Volk, das Menschen wirklich willkommen heißt? Machen wir es den Flüchtlingen zu schwer?

Samer Qarqash: Nordrhein-Westfalen nicht. Aber in einigen östlichen Bundesländern ist das anders, wie ich gehört habe. Ein Bekannter von mir, der mich in Mönchengladbach besuchte, hat mir gesagt: "Die Kassiererinnen beim Aldi sind Flüchtlingen gegenüber viel freundlicher als in den neuen Ländern." Ich denke: Zu wenige Deutsche kümmern sich in ihrem täglichen Leben um Flüchtlinge. 2013, 2014 war das Engagement sehr groß, aber das wurde immer weniger. Und das halte ich für ein Problem, weil es das gegenseitige Kennenlernen, das für die Integration so wichtig ist, unnötig erschwert. Und es fehlt oft das Verständnis für die psychische Situation vieler Geflüchteter.

Caritas in NRW: Wie meinen Sie das?

Samer Qarqash: Nehmen wir einmal einen Geflüchteten, der weiß, dass seine Familie in der Heimat im Krieg lebt. Wie soll dieser Flüchtling hier gut Deutsch lernen? Der hat doch seine Gedanken ganz woanders. Er hat Stress, weil er weiß, dass es seiner Frau, seinen Kindern dort im Krieg nicht gut geht. Und wenn dann noch hinzukommt, dass die Familie untereinander keinen Kontakt hat, weil es die Situation einfach nicht zulässt, wird die ganze Sache noch schlimmer. Oder nehmen wir einmal einen Flüchtling, 55 Jahre alt. Er hat Mühe, Deutsch zu lernen. Er kann nicht studieren. Und das Jobcenter sagt den Flüchtlingen: Ihr müsst arbeiten. Aber wie?



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"Integration ist nicht einfach" (Teil 4)

Samer Qarqash sitzt an seinem Arbeitsplatz vor einem Laptop und guckt in die Kamera. Ihm gegenüber sitzt eine Klientin mit Schutzmaske.Samer Qarqash, Verfahrensberater in der Erstaufnahmeeinrichtung in MönchengladbachFoto: Joanna Faltien

Caritas in NRW: Was würden Sie als Lösung vorschlagen?

Samer Qarqash: Es wäre schön, wenn es eine besondere Planung für diese Gruppe der älteren Geflüchteten gäbe. Zum Beispiel im Deutschkurs. Zurzeit ist es so: 20-Jährige lernen mit 55-Jährigen. Die jungen Leute lernen schnell, ältere langsamer. Das ist ein Problem. Es wäre gut, wenn es Kurse für ältere Menschen gäbe. Nicht anders ist es mit Frauen. Wenn eine Familie zwei Kinder hat und sie auf Kita oder Schule wartet, dauert das manchmal. Wo bleiben die Kinder? Zu Hause. Es sind dann die Frauen, die sich kümmern. Auch auf die Situation solcher Frauen müssten die Planungen reagieren.

Caritas in NRW: Was können Sie Geflüchteten nach Ihren Erfahrungen an Ratschlägen geben,
damit sie sich gut integrieren können?

Samer Qarqash: Sie sollen die Sprache, die Gesetze und das System kennenlernen. Die Menschen in Deutschland sollen keinen Stress bekommen, weil es hier Flüchtlinge gibt. In Deutschland gibt es keine Risiken wie in den Herkunftsländern der Flüchtlinge. Und ich kann ihnen nur raten, Geduld und Entschlossenheit zu haben. Das ist aber nicht einfach. Denn manche Geflüchtete warten zehn Monate bis ein Jahr auf einen Bescheid vom BAMF. So lange müssen sie in der EAE bleiben und dürfen das Gelände nicht länger als 24 Stunden verlassen. Das ist eine große Belastung. Ich kann nur immer wieder an die Geduld der Menschen appellieren. Das Wichtigste ist, dass sie hier in Sicherheit sind, nicht im Krieg und nicht von Menschenhändlern abhängig sind. Geflüchtete sollten auch die deutsche Kultur kennenlernen. Hier ist es üblich, sich mit Handschlag zu begrüßen, anderswo nicht. Hier grüßt der Mann eine Frau, dies ist beispielsweise in anderen Kulturen nicht möglich. Solche Dinge lernen Geflüchtete in Integrationskursen. Diese müssen sie belegen, wenn sie einen positiven Bescheid vom BAMF erhalten. Viele möchten aber keine Integrationskurse machen, die würden stattdessen lieber arbeiten. Ich halte das aus meiner Erfahrung für falsch. Erst die Sprache lernen und sich integrieren, dann arbeiten.

Caritas in NRW: Kinder haben es da sicher einfacher.

Samer Qarqash: Ich sehe das an unseren Kindern. Unser Sohn ist sieben Jahre alt und besucht die Grundschule. Unsere Tochter ist zwölf Jahre alt, sie geht auf die Gesamtschule. Da ist Integration kein Problem. In der Schule lernen sie alles und kommen gut zurecht.

Caritas in NRW: Sie kennen auch den berühmten Satz der Bundeskanzlerin: "Wir schaffen das!"
Der kam ja sehr spontan. Nehmen wir einmal an, Frau Merkel wäre zu Ihnen gekommen und hätte Sie gefragt, ob sie diesen Satz sagen soll. Was hätten Sie geantwortet?

Samer Qarqash: Ich hätte ihr gesagt: "Ja, den Satz sollten Sie sagen." Ich meine, dass die Integration von Flüchtlingen Beharrlichkeit braucht. Ich persönlich habe einen Job bekommen und auch eine unbefristete Niederlassungs­erlaubnis. Ich werde in wenigen Monaten die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen. Und daher sage ich ergänzend zum Satz der Bundeskanzlerin noch einen anderen Satz dazu: Wir müssen am Ball bleiben. Wenn wir es wirklich wollen, schaffen wir das.

Das Interview führte Christian Heidrich.



Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) Mönchengladbach

Das Land Nordrhein-Westfalen betreibt auf dem Gelände des früheren Joint Headquaters in Mönchengladbach-Rheindahlen, das von 1954 bis 2013 als Hauptquartier verschiedener Verbände der britischen Streitkräfte und der NATO diente, seit Mitte 2016 eine Erstaufnahmeeinrichtung, kurz EAE genannt. Zuständig für die Einrichtung ist die Bezirksregierung in Düsseldorf. Sie hat die gemeinnützige Malteser Werke GmbH mit der Versorgung der Asylsuchenden in der EAE beauftragt. Die Verfahrensberatung der Geflüchteten übernehmen sechs Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des SKM in Rheydt. Zurzeit (Juli 2020) leben in der Einrichtung rund 600 Personen aus rund 50 Nationen



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"Integration ist nicht einfach" (Teil 2)

Samer Qarqash sitzt an seinem Arbeitsplatz vor einem Laptop und guckt in die Kamera. Ihm gegenüber sitzt eine Klientin mit Schutzmaske.Samer Qarqash, Verfahrensberater in der Erstaufnahmeeinrichtung in MönchengladbachFoto: Joanna Faltien

Caritas in NRW: Sie sprechen ein gutes Deutsch.

Samer Qarqash: Das habe ich hier gelernt. Als ich im Flüchtlingsheim war, habe ich begonnen, mir Deutsch selbst beizubringen. Neben dieser Flüchtlingsunterkunft war eine Kirche, und die Gemeinde bot einen Deutschkurs für Flüchtlinge an. Als ich schließlich nach Mönchengladbach kam, hat mir das Jobcenter einen Deutschkurs gegeben, und ich habe die Abschlüsse B1 und B2 geschafft.

Caritas in NRW: Was war für Sie das Schwierigste, um in Deutschland zurecht zu kommen?

Samer Qarqash: Eindeutig die Sprache. Deutsch ist ganz schön schwierig, ich glaube, es ist die schwierigste europäische Sprache. Vor allem von der Grammatik her. Aber man muss es versuchen. Die Sprachkenntnisse sind wie eine Tür. Und ich kann aus eigener Erfahrung sagen: Hinter dieser Tür gibt es viele Chancen. Spricht man gut Deutsch, kann man durch diese Tür gehen.

Caritas in NRW: Sie erzählten eben von ihrem Onkel, der 30 Jahre in Deutschland lebte. Hatten Sie, als Sie noch in Syrien waren, Kontakt zu ihm?

Samer Qarqash: Mein Onkel kam einmal im Jahr in seine Heimat zum Urlaub. Da haben wir uns gesehen.

Caritas in NRW: Hatten Sie aus Gesprächen mit ihm eine Vorstellung, wie es in Deutschland sein würde?

Samer Qarqash: Er sagte mir, hier gebe es viele Möglichkeiten. Nun muss man wissen: Mein Onkel war Arzt. Er ging morgens in seine Praxis und fuhr abends nach Hause. Er hatte keine Erfahrung damit, wie es mit Flüchtlingen hier in Deutschland läuft. Und er hat mir gesagt, in Deutschland gehe es einfach, ich solle ruhig kommen. Als ich dann hier alles mit eigenen Augen gesehen habe, habe ich schnell festgestellt: Es ist nicht einfach.

Caritas in NRW: Was ist denn nicht einfach?

Samer Qarqash: Ich nenne mal einige Beispiele: Es gibt viel Bürokratie. Alles dauert ein bisschen. Mitarbeiter vom BAMF und anderen Behörden haben mir immer wieder gesagt: Geduld, Geduld. Das System hier in Deutschland ist ein völlig anderes als das in meiner Heimat. Das muss man erst verstehen. Genauso wie die Sprache. Und dann muss man sich mit den Gesetzen vertraut machen. Auch die Anerkennung von Abschlüssen ist nicht einfach. Ich hatte zum Beispiel keine Chance, mit meinem Geschichtsstudium eine Arbeit zu finden. Als mich mein Berater im Jobcenter fragte, was ich denn gelernt hätte und er hörte, ich hätte Geschichte studiert, hat er nur gelacht. Mit dieser Ausbildung hätte ich keine Chance, sagte er. Wenn ich jünger gewesen wäre, hätte ich weiter studieren können, aber jetzt war das nicht möglich. Bafög ist meist nur für Personen unter 30 Jahren erhältlich.

Caritas in NRW: Nun sind Sie beim SKM in Rheydt beschäftigt, dem die Bezirksregierung Düsseldorf die Verfahrensberatung in der Erstaufnahmeeinrichtung Mönchengladbach übertragen hat. Wie kamen Sie zum SKM?

Samer Qarqash: Das war ganz einfach. Ich habe hier als Freiwilliger gearbeitet. Ich habe gefragt, ob ich ehrenamtlich tätig sein könne, weil ich meine Sprachkenntnisse verbessern wolle. Also habe ich hier ehrenamtlich Flüchtlinge bei Behördengängen, Arztterminen oder Ähnlichem begleitet. Ich habe mir vorher die Worte angeeignet, die für den jeweiligen Termin wichtig waren, und habe dann bei den Terminen für die Flüchtlinge übersetzt. Zudem habe ich beim SKM für Deutsche, die Arabisch lernen wollten, als Arabisch-Lehrer gearbeitet. Das hat mir sehr geholfen, viele Kontakte zu Deutschen zu bekommen, von denen ich bis heute profitiere.

Am 1. Januar 2019 wurde in der Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) eine Stelle als Verfahrensberater ausgeschrieben. Ich habe mich beworben und diese Stelle bekommen. Ich habe Unterstützung von meinem Chef und meinen Kollegen erhalten, es war wirklich großartig. Ich arbeite nun seit 1. März 2019 in der EAE Mönchengladbach als Verfahrensberater. Diese Arbeit macht mir große Freude. Ich bin sehr glücklich, dass ich Flüchtlingen helfen kann. Das ist mein Traum. Es ist das, was ich auch schon bei den Vereinten Nationen gemacht habe.

Ein gelbes Hinweisschild, was einer Straße in der nähe der Erstaufnahmeeinrichtung in Mönchengladbach steht. Aus der Ferne ist die Zufahrtsstraße der Einrichtung zu sehen.Foto: Christian Heidrich

Caritas in NRW: Was tut ein Verfahrensberater?

Samer Qarqash: Wir sind für die Flüchtlinge da und begleiten sie durch das gesamte Verfahren im Zusammenhang mit ihrer Anerkennung als Flüchtlinge. Wir bereiten die Flüchtlinge auf die Anhörung vor. Wir erklären ihnen, wie sie ihr Leiden und die besonderen Umstände, unter denen sie gelitten haben, mitteilen können und wie sie bei der Anhörung von diesen Aussagen profitieren können, damit Flüchtlinge eine positive Entscheidung vom BAMF erhalten. Zurzeit haben wir das Problem mit Flüchtlingen, die nach dem Dublin-Abkommen in einem anderen EU-Staat zuerst registriert worden sind und dann nach Deutschland gekommen sind. Sie bekommen negative Bescheide. Wir sprechen darüber, was sie in der Anhörung sagen können, und geben unsere Erfahrungen, die wir gemacht haben, weiter. Wir erklären ihnen die gesetzlichen Vorschriften. Wir stehen im Kontakt mit dem BAMF, mit der Bezirksregierung, wenn es zum Beispiel um den Transfer aus der EAE in eine Flüchtlingsunterkunft geht.

Caritas in NRW: Wie oft bieten Sie Beratung an?

Samer Qarqash: Wegen der Corona-Pandemie sind wir zurzeit nur an drei Tagen in der Woche persönlich in der EAE erreichbar, normalerweise täglich. Aber wir sind ansonsten immer telefonisch erreichbar. Das haben wir in mehrsprachigen Aushängen bekannt gemacht. Und das funktioniert. Die Leute rufen uns an, wenn sie Fragen haben.

Caritas in NRW: Sie werden, wenn Sie mit den Geflüchteten sprechen, viele schwere Schicksale erzählt bekommen. Wie gehen Sie damit um?

Samer Qarqash: Wenn ich die schrecklichen Dinge höre, die Flüchtlingen widerfahren sind, bin ich nicht geschockt. Zum einen, weil ich selber auf der Flucht war, zum anderen, weil ich in meiner Aufgabe als Berater viele solcher Geschichten gehört habe.

Caritas in NRW: Mit welchen Themen kommen Geflüchtete zu Ihnen?

Samer Qarqash: Es gibt viele verschiedene Themen. Flüchtlinge haben Angst, über das Thema Religion zu sprechen. Ein Beispiel: Ägyptische Christen, sie sind Kopten, haben manchmal Probleme mit einigen islamischen Extremisten, wie sie sagen. Deshalb haben die Kopten hier in Deutschland zum Beispiel Angst, mit einem Muslim, egal ob er ein Flüchtling oder ein Verfahrensberater ist, über religiöse Angelegenheiten zu sprechen. Diese Angst gilt auch gegenüber allen, die beschnitten wurden, und gegenüber Homosexuellen.

Caritas in NRW: Was machen Sie dann?

Samer Qarqash: Ich sage zu meinen Klienten: ‚Schaut mal, wir sind in Deutschland. Es ist ein freier, demokratischer Rechtsstaat. Hier könnt ihr frei reden.‘ Zum Christen sage ich: ‚Bist du Christ, kein Problem, ich helfe dir.‘ Und so baue ich langsam Vertrauen auf, und irgendwann beginnt dieser Christ zu erzählen über das, was ihm in Ägypten widerfahren ist. Ich sage zu meinen Klienten: ‚Ich verstehe Sie, denn ich war auch Flüchtling.‘ Ich baue ihnen eine Brücke.



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Der Gutmensch läuft Marathon

Schule/Kinder, Jugendliche

Ein Icon, was einen weißen 'Daumen hoch' auf hellgrünem Untergrund zeigtKinder und Jugendliche haben größtenteils den Weg in die Schule und die Gesellschaft gefunden.

Ein Icon, was einen weißen 'Daumen runter' auf rotem Untergrund zeigtIn NRW sind Kinder und Jugendliche, die in Landesunterkünften leben, von der Schulpflicht ausgenommen. Das verstößt gegen das Kinderrecht auf Bildung (Kinderrechtskonvention). Bis zu sechs Monate leben sie an diesem nicht kindgerechten Ort und verlieren zugleich nach einer oft langen Fluchtgeschichte noch mehr den Anschluss. Auch bei einer Rückkehr in das Herkunftsland fehlen wichtiger Schulstoff und -erlebnisse.

Ein Icon, was einen weißen Wecker mit Ausrufezeichen auf auberginefarbenden Untergrund zeigtKindern von Asylsuchenden muss ein uneingeschränkter Zugang zu Bildung und Teilhabe in NRW ermöglicht werden.



Arbeitsmarkt

Ein Icon, was einen weißen 'Daumen hoch' auf hellgrünem Untergrund zeigtCirca 60 Prozent der seit 2015 nach Deutschland Geflüchteten sind erwerbstätig (Stand Februar 2020). Zudem gehen mehr Personen einer Fachkrafttätigkeit nach als früher. Dieser Erfolg bei der Integration in den Arbeitsmarkt ging im Vergleich zu früheren Gruppen Geflüchteter schneller.

Ein Icon, was einen weißen 'Daumen hoch' auf hellgrünem Untergrund zeigtDas Land NRW hat mit der Initiative "Durchstarten in Ausbildung und Arbeit" die Gruppe der geduldeten jungen Menschen in den Blick genommen und möchte somit möglichst vielen Personen den Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen.

Ein Icon, was einen weißen 'Daumen runter' auf rotem Untergrund zeigtDie Erwerbstätigkeit von geflüchteten und mittlerweile arbeitsberechtigten Frauen seit 2015 ist noch auf einem sehr niedrigen Niveau, da passgenaue Arbeitsmarktinstrumente fehlen.

Ein Icon, was einen weißen 'Daumen runter' auf rotem Untergrund zeigtDie Arbeitslosigkeit unter Geflüchteten ist coronabedingt stärker als im Durchschnitt der Gesamtbeschäftigten gestiegen - was der vorherigen positiven Entwicklung entgegenwirkt. Gründe hierfür sind, dass Menschen mit Fluchthintergrund häufiger in der Gastronomie oder über Leiharbeit angestellt waren. Ebenso spielten die oftmals kürzere Betriebsangehörigkeit und Beschäftigung in kleineren Unternehmen ohne große Rücklagen eine Rolle.

Ein Icon, was einen weißen Wecker mit Ausrufezeichen auf auberginefarbenden Untergrund zeigtEs müssen bedarfsorientiertere und flexiblere Arbeitsmarktinstrumente auch für Frauen mit anerkanntem Schutzstatus geschaffen werden.



Kooperation des Hauptamtes und des Ehrenamtes

Ein Icon, was einen weißen 'Daumen hoch' auf hellgrünem Untergrund zeigtIm Jahr 2015 wurden viele Ehrenamtsinitiativen aus dem Nichts aktiv. Es hat sich gezeigt, dass in Deutschland eine solidaritätsbewusste Zivilgesellschaft existiert. In der hauptamtlichen Arbeit mit Asyl- und Schutzsuchenden ist die Kooperation mit dem Ehrenamt sehr wertvoll und notwendig. Ohne das ehrenamtliche Engagement der vielen wäre die Notversorgung der Menschen vor allem 2015 und 2016 nicht möglich gewesen.

Ein Icon, was einen weißen 'Daumen runter' auf rotem Untergrund zeigtSowohl Hauptamtliche als auch Ehrenamtliche wurden in der Öffentlichkeit durch die Polarisierung der Debatte um Asyl- und Fluchtmigration kritisiert, beleidigt und bedroht.

Ein Icon, was einen weißen Wecker mit Ausrufezeichen auf auberginefarbenden Untergrund zeigtDie Sprache in der Gesellschaft und vor allem auch in der Politik sollte sich versachlichen. "Asyltourismus", "Mutter aller Probleme" etc. sollten sich als Begrifflichkeiten nicht etablieren. Hier ist mehr Reflexion angebracht. Eine jede und ein jeder kann hier einen Beitrag zu einer weniger polarisierenden Sprache leisten.



Landesunterkünfte

Ein Icon, was einen weißen 'Daumen hoch' auf hellgrünem Untergrund zeigtMittlerweile ist die Zahl der neu nach NRW einreisenden Asyl- und Schutzsuchenden stark gesunken, sodass das Land NRW auch einige der Zentralen Unterbringungseinrichtungen (ZUE) geschlossen hat.

Ein Icon, was einen weißen 'Daumen runter' auf rotem Untergrund zeigt2018 wurde in NRW der sogenannte Asylstufenplan erlassen, unter anderem mit der Begründung, dass die nordrhein-westfälischen Kommunen entlastet werden sollen.

Dieser Plan sieht vor, dass Menschen im sogenannten "beschleunigten Verfahren" teilweise für unbefristete Zeit in den Zentralen Unterbringungseinrichtungen in NRW festgehalten werden dürfen.

Ein Icon, was einen weißen 'Daumen runter' auf rotem Untergrund zeigtEs besteht die Gefahr, dass diese Menschen nach sehr langer Aufenthaltszeit ohne Arbeit, Schule und sinnvolle Freizeitbeschäftigung später eine umso größere Belastung für die Kommunen werden.

Ein Icon, was einen weißen Wecker mit Ausrufezeichen auf auberginefarbenden Untergrund zeigtAufnahmeeinrichtungen des Landes dürfen nicht primär als Orte der Ablehnung, Abschreckung und Ausweisung konzipiert werden. Menschen dürfen nicht aufgrund eines vermeintlich "sicheren Herkunftslandes" vorsortiert werden. Die Maßnahmen des Asylstufenplans sollten daher zurückgenommen werden.

Ein Icon, was einen weißen Wecker mit Ausrufezeichen auf auberginefarbenden Untergrund zeigtEine gute Integration sollte auch den Menschen ermöglicht werden, die nach Deutschland kommen, um hier Asyl und Schutz zu suchen. Daher sollten die Menschen dezentral und kommunal untergebracht werden, idealerweise sofort.



Integrationspolitische Infrastruktur in NRW

Ein Icon, was einen weißen 'Daumen hoch' auf hellgrünem Untergrund zeigtNRW hält eine bundesweit einmalige Integrationsinfrastruktur vor, die auf drei Säulen ruht:

  • Kommunale Integrationszentren (KIs)
  • bei den Wohlfahrtsverbänden angesiedelte Integrationsagenturen (IAs)
  • Migranten­selbstorganisationen (MSOs)

Dadurch sind die Chancen für Migranten, Unterstützung im Integrationsprozess zu erhalten, sehr groß. Laut Integrationsmonitor ist das Integrationsklima in NRW am besten.

Ein Icon, was einen weißen 'Daumen hoch' auf hellgrünem Untergrund zeigt2018 gründete das Land NRW einen Integrationsbeirat. Eine der Aufgaben des Beirats war die Erarbeitung der Integrationsstrategie 2030.

Ein Icon, was einen weißen 'Daumen runter' auf rotem Untergrund zeigtSowohl Integrationsbeirat als auch Integrationsstrategie sind willkommene Schritte für NRWs Zukunft. Allerdings fehlen hier noch verbindlichere Zusagen für die Caritas und die Freie Wohlfahrt insgesamt. Insbesondere die Einführung des sogenannten "Kommunalen Integrationsmanagements" (KIM) im Jahr 2020 lässt aktuell noch viele Fragen offen. So sollen viele Stellen in den Kommunen geschaffen werden, die sich um die Integration im Sozialraum kümmern sollen und zudem auch Fallberatung anbieten sollen. Dies bedeutet im ersten Schritt eine Doppelstruktur zu den etablierten Strukturen der Freien Wohlfahrt mit ihren Migrationsfachdiensten, und es bedarf noch vieler Abstimmungsschritte auf allen Ebenen.

Ein Icon, was einen weißen Wecker mit Ausrufezeichen auf auberginefarbenden Untergrund zeigtDer in NRW etablierte Dreiklang in der integrationspolitischen Infrastruktur sollte beibehalten werden. Hierbei ist jedoch auf eine partnerschaftliche Kooperation auf Augenhöhe zu achten. Personelle Überhänge in den Kommunen und Doppelstrukturen sollten eher abgebaut als vergrößert werden. Hier gilt es besonders, das Prinzip der Subsidiarität zu beachten.



Ausgrenzung und Abwertung

Ein Icon, was einen weißen 'Daumen hoch' auf hellgrünem Untergrund zeigt2015 wurde auf Bundesebene das Programm "Demokratie leben!" eingeführt, um gegen Rechtsextremismus und Diskriminierung mithilfe der Zivilgesellschaft vorzugehen. Die Mittel wurden bis 2024 verlängert.

Ein Icon, was einen weißen 'Daumen hoch' auf hellgrünem Untergrund zeigtAuf Landesebene wurden die Servicestellen Antidiskriminierungsarbeit (ADA) zunächst 2017 und erneut 2020 ausgebaut.

Ein Icon, was einen weißen 'Daumen runter' auf rotem Untergrund zeigtDie auch in Deutschland stärker präsente "Black Lives Matter"-Bewegung macht deutlich, dass auch abseits von Anschlägen noch Alltagsrassismus, Ungerechtigkeiten und Machtungleichheiten in Deutschland existieren und nicht ausreichend angegangen werden.

Ein Icon, was einen weißen Wecker mit Ausrufezeichen auf auberginefarbenden Untergrund zeigtVielfaltskompetenz als verpflichtendes Schulfach, eine gesetzliche Bestimmung zur Berücksichtigung der ethnischen Vielfalt bei staatlichen Fördergeldern jedweder Art, erheblicher Ausbau von Sprachangeboten, zugeschnitten auf verschiedene Bildungsstufen, kommunales Wahlrecht für alle Zugewanderten in Abhängigkeit von ihrer Lebenszeit hier.

Ein Icon, was einen weißen Wecker mit Ausrufezeichen auf auberginefarbenden Untergrund zeigtKlare rechtliche Verfolgung und Bestrafung von Rassismus und Diskriminierung, Anerkennung von Mehrsprachigkeit und individuelle Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Familien mit Flucht- und Migrationsgeschichte.



Eine Übersicht, zusammengestellt von den Referent*innen Integration & Migration der Diözesan-Caritasverbände in NRW

Legende

Ein Icon, was einen weißen 'Daumen hoch' auf hellgrünem Untergrund zeigtWas ist gut gelaufen?

Ein Icon, was einen weißen 'Daumen runter' auf rotem Untergrund zeigtWas nicht so gut?

Ein Icon, was einen weißen Wecker mit Ausrufezeichen auf auberginefarbenden Untergrund zeigtForderungen der Caritas



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Eigentlich nur noch Europäer

Porträt: Marijan RenicMarijan Renic (53) hat Diplom-Pädagogik studiert und arbeitet seit 1996 bei der Caritas. Seit 2007 leitet er die Integrationsagentur bei der Caritas Borken.Foto: Harald Westbeld

Renic ist der Netzwerker in Sachen Migration im Verband, hat das "Interkulturelle Netzwerk Westmünsterland" mitgegründet, in dem sich im Kreis Borken Wohlfahrtsverbände und Kommunen zusammengeschlossen haben. Den Überblick behalten und die passenden Akteure zusammenbringen, um Probleme zu lösen, ist auch die Aufgabe der Integrationsagentur.

Der Weg dorthin war eigentlich vorgezeichnet. Mit vier Jahren zog Renic mit seiner Familie aus Nordkroatien nach Lengerich, wo die Großeltern seit 1938 ein Lederwarengeschäft hatten. Katholiken hatten es im kommunistischen Jugoslawien schwer, durften aber anders als die Menschen in den osteuropäischen Nachbarländern immer ausreisen. Viele nutzten die Gelegenheit, um sich als Gastarbeiter in Deutschland niederzulassen.

Der Großvater war der "Ankerpunkt" in der kroatischen Gemeinde. Zu ihm kamen sie mit ihren Anliegen und zu Marijan Renic, als er noch Schüler war. "Da wurde das Interesse geweckt", sagt er. Professionell setzte er seine Beratungstätigkeit nach dem Studium der Diplom-Pädagogik ab Mitte der 90er-Jahre bei der Caritas in Borken fort, damals noch angestellt beim Diözesan-Caritasverband Münster. "Anfangs wurde alles, was ausländisch aussah, zu uns geschickt."

Mit der wachsenden Erkenntnis, wie Integration besser gelingen kann, ist das längst Vergangenheit. Heute wird "anlassbezogen" gearbeitet, Migrationsberatung also nur, wenn der Migrationshintergrund ursächlich für das Problem ist. Bei Schulden wird nicht unterschieden zwischen in- und ausländisch, da ist die Schuldnerberatung zuständig.

Von der Einzelberatung hat sich Marijan Renic allerdings schon 2007 verabschiedet, als der damalige Integrationsminister Armin Laschet die "Integrationsagenturen" ins Leben rief. Die Einzelberatung findet er nach wie vor wichtig, aber "wenn ein Problem zehnmal auftaucht, ist es ein strukturelles Problem". Dann ist er gefragt, nach Lösungen zu suchen. Beispielsweise erhielten Schüler mit Migrationshintergrund nach wie vor im Vergleich häufiger eine Hauptschulempfehlung und hätten es schwerer auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Da sind dicke Bretter zu bohren.

Die Begeisterung für seine Aufgabe steckt offensichtlich an. Renics älteste von vier Töchtern hat schon ein Praktikum bei ihm gemacht und überlegt, nach dem Abitur in den sozialen Bereich einzusteigen.



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Von Eritrea in die Gärten Mettmanns

Porträt: Kidane NegashFoto: Markus Harmann

Die Heckenschere heult immer wieder auf. Geübt führt Kidane Negash das an einem anderthalb Meter langen Stil befestigte Gerät an den oberen Ästen entlang, um sie zu stutzen. Es macht ihm sichtlich Spaß - und er ist schnell. "Mach mal ’ne Pause", ruft Michael Vogelsang, sein Chef.

Seit fünf Monaten verbringt der 27-jährige Mann aus Eritrea seine Tage in den Gärten und Parks in Mettmann und Umgebung. Für seinen Arbeitgeber, den Garten- und Landschaftsbaubetrieb von Michael Vogelsang, kürzt er Zweige, mäht Rasen, legt Wege an oder pflanzt Sträucher. "Was man eben so macht als angehender Landschaftsgärtner", sagt Vogelsang.

Mit Kidane Negash habe er seit Langem endlich mal wieder einen jungen Mitarbeiter, der "die nötige Lust und Disziplin" mitbringe, sagt Vogelsang. "Es ist alles andere als leicht, gute Arbeitskräfte zu finden." Er zahlt dem jungen Geflüchteten deshalb auch einen Gesellenlohn, obwohl Kidane Negash ungelernt ist. Wenn alles gut geht, wird Negash in einigen Wochen in seinem Betrieb eine Ausbildung beginnen. "Man merkt, dass er auch in Eritrea schon mit Maschinen gearbeitet hat, er ist sehr geschickt darin", so Vogelsang.

Kidane Negash hat es geschafft - nach fast fünf Jahren. Er hat eine Arbeit und verdient Geld, lebt in einer eigenen Wohnung, sein Deutsch wird von Tag zu Tag besser. Ein Ziel aber bleibt: Er möchte seine Frau Semert nachholen, die noch in einem Flüchtlingslager in Uganda lebt. "Ich vermisse sie sehr", sagt der junge Mann. Damals war er zusammen mit ihr in Eritrea, einer Diktatur am Horn von Afrika, aufgebrochen.

Kidane Negash steht mit einem Hochentaster lächelnd in einem GartenFoto: Markus Harmann

Wie Kidane Negash haben es viele andere Männer und Frauen, die in den vergangenen fünf Jahren nach Deutschland gekommen sind, überraschend schnell auf den deutschen Arbeitsmarkt geschafft. Nach einem Bericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat rund jeder zweite Geflüchtete fünf Jahre nach seiner Ankunft in Deutschland einen Arbeitsplatz. Dabei gibt es ein starkes Gefälle zwischen Männern und Frauen. Sind nach fünf Jahren 57 Prozent der Männer erwerbstätig, liegt der Anteil der Frauen nur bei 29 Prozent.

"Du hast es geschafft"

Insgesamt aber überrascht der hohe Anteil von Arbeitsaufnahmen die Experten, denn das gleiche Institut stellte Anfang dieses Jahres auch fest, dass das deutsche Integrationsgesetz eine Anstellung eher erschwert als fördert - das liegt zum Beispiel an Wohnsitzauflagen und Beschäftigungsverboten. Die Wahrscheinlichkeit, einer bezahlten Arbeit nachzugehen, liegt für Geflüchtete, deren Aufenthalt staatlicherseits eingeschränkt ist, um gut sechs Prozentpunkte unter der jener Migranten, die keine Auflagen haben, hat das IAB festgestellt.

Starthilfe in solchen Fällen gibt die Caritas in Mettmann, die seit 2016 am EU-geförderten Projekt Chance+ teilnimmt. Ziel des Projekts ist es, Geflüchtete in Arbeit zu vermitteln. Das gelang in den vergangenen vier Jahren insgesamt 58-mal. "Wir haben 45 Personen in Voll- oder Teilzeitbeschäftigungen und 13 Personen in Minijobs vermittelt - eine Erfolgsquote von über 30 Prozent, das ist schon ziemlich gut", sagt Martin Sahler von der Caritas Mettmann.

Auch Kidane Negash gehört zu den Vermittelten. Es sei letztlich nicht schwierig gewesen: "Ein Betrieb, der sucht, und ein junger Mann, der gern arbeiten möchte - das passte von Anfang an", so Sahler.

Negash‘ Chef Michael Vogelsang hat es trotz Corona mit vollen Auftragsbüchern zu tun. "Wir kommen kaum noch hinterher", sagt er. Für einen privaten Plausch bleibe gerade wenig Zeit. Er weiß nicht allzu viel aus dem Leben von Kidane Negash, er möchte ihn aber auch nicht immer fragen, ihn nicht bedrängen. "Wenn er selbst erzählen möchte, dann höre ich zu", sagt Vogelsang, der sich anfangs fragte, warum so viele Menschen ihre Heimat verlassen und eine lebensgefährliche Flucht auf sich nehmen. "Ich dachte vor einigen Jahren noch, es sei besser, den Leuten in ihrer Heimat zu helfen." Inzwischen hat er, wie er selbst sagt, einen "unwahrscheinlichen Respekt" vor dem Mut vieler Geflüchteter. "Man kann sich hier wahrscheinlich gar nicht vorstellen, wie schlimm es in Ländern wie Eritrea ist."

Kidane Negash steht neben seinem Chef Michael Vogelsang und lässt sich einen Hochentaster erklärenKidane Negash mit seinem Chef Michael Vogelsang. Der ist so zufrieden mit dem ungelernten Geflüchteten, dass er ihm sogar einen Gesellenlohn zahlt.Foto: Markus Harmann

Vor mehr als fünf Jahren floh Kidane vor dem Militärdienst, der für alle jungen Männer in Eritrea verpflichtend ist. Seine Eltern, die einen landwirtschaftlichen Betrieb haben, und seine fünf Geschwister ließ er zurück. Auf der Ladefläche eines Pick-ups, eingeklemmt zwischen jungen Männern, Kindern und Schwangeren, die vor Schmerz schrien, ging es durch den Sudan an die libysche Grenze.

In Libyen stockte die Flucht. Für mehrere Wochen war er eingesperrt in einem der berüchtigten Flüchtlings­lager unweit der Mittelmeerküste. Als er das Lager schließ­lich verließ, war er bereits sechs Monate auf der Flucht. 2000 Euro zahlte er für die Überfahrt mit einem Schlepperboot nach Lampedusa.

Seiner Ehefrau möchte er die lebensgefährliche Bootsfahrt über das Mittelmeer ersparen. Einen Großteil des Gehalts legt er deshalb zurück - für eine legale und hoffentlich ungefährliche Ausreise. Ob es klappt, weiß er nicht. Sie telefonieren regelmäßig über WhatsApp oder Facetime. So hält Kidane Negash auch Kontakt zu seinen Eltern in Eritrea.

Als er ihnen vor Kurzem von seiner Arbeit berichtete, waren sie stolz, erzählt der junge Mann. "Du hast es geschafft - haben sie zu mir gesagt."

Michael Vogelsang, seit über 20 Jahren selbstständig, sagt, Kidane Negash sei noch nicht ein einziges Mal zu spät zur Arbeit gekommen. Dabei hat er nicht mal ein Auto und muss fast jeden Tag zu einem anderen Ort kommen - je nachdem, wo die Kunden wohnen. "Er ist sehr ehrgeizig. Und er möchte arbeiten, so einfach ist das."



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Geflüchtete und Integration

Ein Schaubild, was die Anzahl an Geflüchteten in NRW (2015-2019) und den Anteil, derer die davon DE verlassen haben, zeigt. Auch wird die Zahl von haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitenden verglichen.

Für eine größere Ansicht bitte auf die Grafik klicken!



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Der Marathonlauf geht weiter

Porträt: Heinz-Josef KessmannHeinz-Josef Kessmann

Mittlerweile - gerade auch in den Zeiten von Corona - ist das Flüchtlingsthema aus den Schlagzeilen der Presse und der öffentlichen Aufmerksamkeit verschwunden, aber der Marathonlauf ist sicherlich noch nicht beendet.

Der große Zustrom an Flüchtlingen in den Jahren 2015 und 2016 hat in unserer Gesellschaft Spuren hinterlassen. Während in den ersten Wochen und Monaten noch die Bilder des Willkommens und das "Wir schaffen das!" der Bundeskanzlerin dominierten, ist die Tendenz der politischen Diskussion in der Folge doch wesentlich restriktiver geworden. Dieser Trend ist dann auch in der Bundesgesetzgebung zu Flüchtlingsfragen erkennbar (zum Beispiel zeitweise Aussetzung des Familiennachzugs, Definition von "sicheren Herkunftsstaaten", Verschärfung der Abschiebe­regelungen etc.). Besonders deutlich wurde diese veränderte gesellschaftliche Bewertung des Themas durch das Erstarken populistischer und nationalistischer Positionen und die Wahlerfolge der AfD bei vielen Landtagswahlen und der Bundestagswahl 2017.

Eine ähnliche gesellschaftliche und politische Entwicklung ist auch in den anderen EU-Staaten feststellbar und hat dazu geführt, dass es nach wie vor keine abgestimmte EU-Flüchtlingspolitik gibt. Dieses Versagen der EU und ihrer Mitgliedstaaten führt zu unmenschlichen Zuständen zum Beispiel in den griechischen Flüchtlingslagern und verlängert den unhaltbaren Zustand, dass weiterhin Tausende von Flüchtlingen im Mittelmeer ertrinken. Die verabredete Aufnahme von 1600 Kindern aus griechischen Flüchtlingslagern ist nicht mehr als ein erster Schritt und auf keinen Fall ein Beleg für ein Umdenken der EU.

Schauen wir auf die Situation in Deutschland zurück, so ist die Entwicklung vor allem durch den deutlichen Rückgang der Zahlen der Asylbewerber in den Jahren nach 2015 gekennzeichnet. Dieser Rückgang ist sicherlich nicht das Ergebnis einer deutlich verbesserten Situation in den Herkunftsländern der Flüchtlinge, sondern resultiert aus dem Abkommen der EU mit der Türkei und der nun eher auf Abschreckung ausgerichteten restriktiveren Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik Deutschland.

Ein Rückblick auf die letzten fünf Jahre Flüchtlingspolitik kann aber auch auf erste schmale Integrationserfolge verweisen: Nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung gehen ca. 50 Prozent der Geflüchteten nach fünf Jahren einer Erwerbstätigkeit nach. Auch hat sich für viele Flüchtlinge - trotz der schwierigen Situation am Wohnungsmarkt - die Wohnungssituation deutlich verbessert. Aber - der Marathon geht weiter. Gerade im Bereich des Wohnens wird deutlich, dass nach wie vor viele Geflüchtete in Sammelunterkünften untergebracht sind - mit all den besonderen Gefährdungen, die in den Corona-Zeiten deutlich geworden sind.

Auch für die Caritas waren diese fünf Jahre eine sehr anstrengende und lehrreiche Zeit. An vielen Stellen haben nicht nur die Flüchtlings- und Integrationsdienste, sondern auch andere Arbeitsfelder der Caritas einen wichtigen Dienst geleistet, angefangen von der unmittelbaren Soforthilfe in den Jahren 2015 und 2016 bis zu den vielfältigen integrationsunterstützenden Angeboten, die sich in den letzten Jahren entwickelt haben. Dieses Engagement der Caritas ist von der Gesellschaft, aber auch im politischen Raum sehr anerkennend und dankbar wahrgenommen worden und hat vielfältige Unterstützung gefunden. Wir können auf dieses Engagement durchaus stolz sein, weil es zu einer positiven Wahrnehmung von Kirche und Caritas in diesem Feld beigetragen hat. Besonders möchte ich dabei auch die vielfältigen ehrenamtlichen Aktivitäten und Initiativen benennen, die häufig zu einem neuen konstruktiven Miteinander von Ehrenamtlichen in den Pfarrgemeinden und der Caritas geführt haben.

Der Marathon ist noch nicht zu Ende, aber vielleicht kann das Engagement der Caritas hinweisen auf den Weg zu einer bunten, vielfältigen, offenen, toleranten und gastfreundlichen Gesellschaft, die - so wie 2015 - unser Ziel bleiben sollte.



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