Zur Flucht verflucht
Seit Jahren steigt die Zahl der Menschen, die aufgrund von Hunger, Repression, Krieg, Gewalt oder Naturkatastrophen ihr Zuhause verlassen müssen. Waren es vor fünf Jahren noch 65,3 Millionen Geflüchtete, zeigen die aktuellen Zahlen laut dem UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR einen Anstieg auf 79,5 Millionen. Noch nie waren mehr Menschen auf der Flucht als heute. Fast 70 Prozent der weltweit Geflüchteten kommen dabei aus nur fünf Ländern: Syrien (6,6 Mio.), Venezuela (3,7 Mio.), Afghanistan (2,7 Mio.), dem Südsudan (2,2 Mio.) und Myanmar (1,1 Mio.).
Die Gründe sind vielfältig, eine entscheidende Rolle spielt steigende Gewalt: Unsere Welt ist stark geprägt von kriegerischen Auseinandersetzungen. Es gibt mehr Länder mit Konflikten als ohne. Seit Jahren werden regelmäßig über 200 Konflikte weltweit gezählt. In vielen Teilen Afrikas, im Nahen und Mittleren Osten und in den Ländern Afghanistan und Pakistan finden besonders viele Kampfhandlungen statt. Die Anzahl klassischer, zwischen zwei Staaten geführter Kriege ist dabei in den vergangenen Jahren zurückgegangen, deutlich gestiegen dagegen ist die Zahl innerstaatlicher gewalttätiger Konflikte und Bürgerkriege mit vielen Toten.
Zweite zentrale Fluchtursache sind Naturkatastrophen: Änderungen des Klimas und der Umwelt haben Menschen schon immer dazu gezwungen, ihre Lebensregion zu verlassen. Seit den 90er-Jahren hat sich die Zahl der Naturkatastrophen jedoch auf heute durchschnittlich 350 pro Jahr verdoppelt. Unter anderem durch den Ausstoß von Treibhausgasen nimmt die globale Erwärmung ein zuvor nicht da gewesenes Ausmaß an. Dies führt dazu, dass auf allen Kontinenten, insbesondere aber in den Ländern des Globalen Südens, die Lebensgrundlagen ganzer Gemeinschaften durch zunehmende Unwetterkatastrophen und Umweltveränderungen bedroht werden. Dazu zählen Überschwemmungen, Hurrikane und Taifune, der Meeresspiegelanstieg, die Erosion von Küstenstreifen oder die Versalzung von Böden und Grundwasser. Im Jahr 2019 wurden fast 25 Millionen Menschen aufgrund von Extremwetterereignissen zu Binnenvertriebenen. Hinzu kommt die nicht statistisch erfasste Zahl von Menschen, die aufgrund von langsam fortschreitenden Klimaveränderungen wie Dürren ihre Heimat aufgeben mussten.
Neben der Zunahme an Kriegen und Konflikten sowie Klimaveränderungen und Umweltkatastrophen gibt es viele weitere Gründe, warum Menschen auf der Flucht sind. Dazu zählen auch der Handel mit Rohstoffen und Landraub: Der Rohstoffabbau führt oftmals dazu, dass Menschen ihrer Existenzgrundlage beraubt werden oder ihren Lebensraum verlieren. Vielen bleibt nichts anderes, als in die Städte oder in Nachbarländer abzuwandern. Ein weiterer Faktor zwingt Menschen vermehrt zur Flucht: Durch weltweit wachsenden Konsum, Energiehunger und damit wachsenden Flächenverbrauch ist Land zur Handels- und Spekulationsware geworden. Das Phänomen der Landvergabe an Industrieländer, Agrarkonzerne, aber auch an internationale Banken und Investmentfonds ist als "Landgrabbing" bekannt geworden.
Nicht die Europäer tragen die Hauptlast
Wohin aber fliehen die Menschen? In deutschen und europäischen Medien wurde lange (und wird immer noch) von Flüchtlingswellen, -strömen und -fluten gesprochen, die vermeintlich auf Europa und Deutschland zurollen. Doch nicht Europa trägt die Hauptlast der weltweiten Flucht- und Migrationsbewegungen. Laut dem UN-Flüchtlingskommissariat bleiben Menschen auf der Flucht in der Nähe ihrer Heimat: 85 Prozent der Geflüchteten halten sich in den Ländern des Globalen Südens, oft in den direkten Nachbarländern, auf.
Die weitaus größte Zahl an Menschen befindet sich zudem auf der Flucht im eigenen Land und überschreitet dabei keine internationale Grenze: Die Gesamtzahl der Menschen, die laut UNHCR Ende 2019 weltweit als Vertriebene im eigenen Land lebten, wird auf knapp 46 Millionen geschätzt.
Flucht und Vertreibung stellen eine menschliche Katastrophe und eine immense Belastung für arme Staaten dar. In diesem Zusammenhang wird gerade aus der Politik immer wieder der Ruf nach "Fluchtursachenbekämpfung" laut, oftmals ohne jedoch tatsächlich die Ursachen für Migration und Flucht genauer zu analysieren und dagegen vorzugehen. Die politische Agenda scheint oft nicht den Schutz der Menschen auf ihrem Weg und in prekärer Lage in den Vordergrund zu stellen, sondern die Abschottung Europas.
Lebensbedingungen nachhaltig verbessern
Caritas international setzt sich mit ihren erfahrenen Partnern vor Ort für eine Verbesserung der Situation von Geflüchteten und Vertriebenen ein. Wir kennen die Herausforderungen und mögliche Lösungsansätze sehr gut. Humanitäre Hilfe kann jedoch im besten Falle nur die Schutzsuchenden und die aufnehmenden Gemeinden unterstützen und Leiden lindern. Wollen wir jedoch dazu beitragen, dass Menschen ihre Heimat nicht verlassen müssen, dann reichen Maßnahmen dieser Art nicht aus, vielmehr müssen Bedingungen strukturell und nachhaltig verbessert werden. Es braucht ein abgestimmtes, einheitliches Agieren auf Staatenebene, um Aktivitäten zur Unterstützung von Konflikten und Gewalt zu unterbinden, was sich auch auf Rüstungsexporte und insbesondere den Handel mit Kleinwaffen bezieht. Es gilt, friedliche/zivile Maßnahmen zur Konfliktprävention und Friedensförderung umzusetzen, und es müssen mehr finanzielle Mittel dafür bereitgestellt werden. Es braucht ein gemeinsames Engagement und politische Initiativen von allen Akteuren und auf allen Ebenen (international, regional, national und lokal), um die aktuellen globalen Herausforderungen erfolgreich bearbeiten zu können. Dazu gehört auch die Stärkung von Guter Regierungsführung ("Good Governance"), Menschenrechten und fairen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen. Die Menschen benötigen Perspektiven und damit die Hoffnung auf bessere Lebensumstände - sowohl in Deutschland als auch weltweit.