"Schlechtes sehen, um Schlimmeres zu verhindern"
Das Kinderheim St. Josef im westfälischen Werne? Wo ist das? Vor Jahren war es hinter einem hohen Wall versteckt und von der Stadt Werne abgeschirmt. Den Haupteingang musste man von einer Nebenstraße und durch einen Nebenweg finden. Heute das krasse Gegenteil: Der Wall ist weggebaggert, das "Bunte Haus" springt von der 100 Meter entfernten Bundesstraße ins Auge, und man betritt es jetzt auch von dieser Seite. Die Jugendhilfe Werne demonstriert schon durch ihren radikalen Um- und Ausbau der Gebäude mit den gelben, blauen und roten Fassadenelementen den inhaltlichen Wandel in der Jugendhilfe.
Geradlinig hat Uwe Schenk mit seinem Team die Angebote umgebaut, manchmal seine Mitarbeiter etwas überfordert mit einem radikalen Ansatz. Ein Treffen unter dem Motto "Kein Kind gehört ins Heim!" endete nach einer Stunde Schweigen mit Abbruch, gibt Schenk zu. Was nichts an seiner Meinung ändert, aber auch nichts daran, dass die Jugendhilfe Werne immer noch 217 Plätze in 30 Gruppen anbieten muss.
"Eigentlich ist das Aufwachsen in der Familie immer besser", ist Schenks Denkansatz und Motivation, eine ganze Palette von Angeboten aufzubauen, die Heimunterbringung möglichst verhindern sollen: Aber manchmal gebe es, zumindest vorübergehend, nun mal keine andere Möglichkeit. Was auch an der immer schwierigeren Anforderungssituation der Eltern und der dadurch bedingten "höheren Problemdichte" liege.
Kitas, Offener Ganztag, Familienanlaufstelle sind präventive Angebote
Deshalb begrüßt er es sehr, dass die Jugendhilfe Werne mittlerweile Träger von acht Kitas ist. Das sind für ihn vorbeugende Angebote. Von Kooperationspartnern komme manchmal der Vorwurf des "defizitären Ansatzes". Aber darum gehe es gerade: "Wir wollen Schlechtes sehen, um Schlimmeres zu verhindern", erklärt Schenk.
Im Vordergrund müssen immer die Bedürfnisse der Kinder stehen und nicht die Interessen von Einrichtungen und Institutionen. Da ist Uwe Schenk kompromisslos und immer bereit, Bestehendes infrage zu stellen. Deswegen ist nicht nur der Kita-Bereich ausgebaut worden, sondern ist die Jugendhilfe Werne ebenso in Offenen Ganztagsschulen über Werne hinaus aktiv, vermittelt und betreut Pflegekinder und hat im "Bunten Haus" das "Familiennetz" mit aufgebaut, eine Anlaufstelle für alle auftauchenden Probleme - "damit man nicht in Hinterhöfen danach suchen muss".
Jüngste Errungenschaft seit dem Sommer ist "Amandi". Das bedeutet: "die, die man lieben soll". Das ist der Infopoint im "Bunten Haus", jederzeit zu erreichen telefonisch oder per Mail. Wobei auch zuvor keine Anfrage ins Leere lief. Die Mitarbeiter am Empfang sind so geschult, dass sie immer jemanden im Haus finden, der eine erste Auskunft geben kann.
Ausgangspunkt war das Kinder- und Jugendhilfegesetz von 1991
Uwe Schenks Sorge ist, dass Angebote oft mittelstandsorientiert sind und bestimmte Bevölkerungsgruppen, vor allem die, die besonders hilfsbedürftig sind, nicht erreicht werden. Gerade sie will er mit "Amandi" ansprechen. Für all diese Facetten der Jugendhilfe bedarf es einer gewissen Größe. Mit an die 300 Vollzeitstellen, die von 500 Mitarbeitern besetzt sind, kann sich die Jugendhilfe Werne sogar eine "eigene kleine Mannschaft" leisten, die Fortbildungen organisiert und Teamberatung anbietet. Immerhin 40 Seiten umfasst das Fortbildungsprogramm für 2018.
Die weit kleineren Anfänge sind auf dem Gelände hinter dem "Bunten Haus" noch erkennbar. Ein "Kinderdorf" wurde Ende der 80er-Jahre rund um einen zentralen Platz gebaut. Hier wohnen nur noch Kinder in zwei Diagnosegruppen, in denen geschaut wird, ob sie in eine Pflegefamilie vermittelt werden können oder zum Beispiel in eine der in Wohngebiete eingestreuten Gruppen in Werne und umliegenden Orten umziehen.
Hinter dem Wall hatte das Kinderheim St. Josef damals wenig mit der Stadt Werne zu tun, das Jugendamt brachte die Kinder ohnehin an anderen Orten unter. "Kamen Herkunftseltern auf das Gelände, gab es Alarm", erinnert sich Schenk, der auf 34 Jahre Berufserfahrung bauen kann. Mit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz begann 1991 die Entwicklung: Sozialpädagogisches Wohnen wurde initiiert, und in den 90er-Jahren war die Jugendhilfe Werne ganz vorne dabei, Kinder in westfälische Pflegefamilien zu vermitteln.
Die Entwicklung muss weitergehen
Der eigentliche Aufbruch ist allerdings mit dem Namen Michael Knäpper verbunden und ursprünglich nur ein "Hilfskonstrukt" gewesen. Die Stadt Werne wollte einen Streetworker einstellen und fand in der Jugendhilfe einen Partner. Mit ihm tauchte die Jugendhilfe Werne tiefer in die Familiensituationen ein. "Man muss nicht Hilfsangebote gestalten, die über die Köpfe der Leute gehen", war für Uwe Schenk die Erkenntnis.
Zufrieden ist er nach all der Entwicklung über so viele Jahre auch im Alter von 60 noch nicht. Gerne würde er mit Jugendhilfe stärker in die Schulen wirken, um die guten Ansätze aus der Kita fortführen zu können. Aber da gehe es mehr um Didaktik und nicht wirklich um Pädagogik, sagt Schenk, der ursprünglich selbst Lehramt studiert hat. Immer wieder müssen auch pragmatische Kompromisse geschlossen werden. Er will keine Kinder unter sechs Jahren in Gruppen aufnehmen, "aber das lässt sich nicht ganz durchhalten".
Schenk ist auch privat engagiert
Er selbst erdet sich in der eigenen Familie. Immer wieder hat er mit seiner Frau als "Bereitschaftspflegefamilie" Pflegekinder aufgenommen. Nach dem Auszug des Sohnes sollte es jetzt mal eine kleine Pause geben. Aber dann kam wieder ein akuter Fall…