Benachteiligung in Chancen umwandeln
Viele dieser Kinder haben aus der Zeit vor der Einrichtung andere Formen der Benachteiligung erlebt. Die Familien, aus denen die Kinder stammen, sind durch multiple Benachteiligungen geprägt: alkohol- oder suchtkranke oder psychisch kranke Eltern, die sich jeden Tag neu erkämpfen und deren Kinder diese Kämpfe im Alltag mittragen. Alleinerziehende, die zugleich mit Arbeitslosigkeit und Armut kämpfen. Familien, die die Prioritäten des eigenen Lebens und die Bedürfnisse der Kinder nicht sortiert bekommen, die sich durch Migration und andere soziale Ausgrenzung an die Ränder der Gesellschaft gedrängt fühlen. Zurück bleiben Kinder, die sich oft abgehängt und isoliert fühlen, die im Bildungsbereich zu den Schwachen gehören. Eine Zunahme von hoch belasteten Kindern und Jugendlichen ist zu erkennen. Wir erleben Kinder, die schon mit drei Jahren in mehreren Lebensräumen - bei verschiedenen Familienangehörigen, bei Pflegefamilien, im Kinderheim, dann zurück zu einem Elternteil - gelebt haben und keine stabilen Bindungen kennen. Wir erleben Achtjährige, die so halt- und regellos sind, dass sie in kurzer Zeit eine ganze Wohngruppe sprengen und eine Spur von Zerstörung hinter sich herziehen. Wir erleben Jugendliche, für die als letzte Chance ein Individualprojekt im Ausland oder eine geschlossene Unterbringung infrage kommt. Worauf ist diese Entwicklung zurückzuführen? Schwierige Frage. In manchen Fällen sind extreme Lebensverhältnisse und Traumatisierungen die Ursache, in anderen Fällen ist die Jugendhilfe selbst, sind zu lang andauernde und zu viele unterschiedliche Hilfeversuche in nicht adäquaten Settings an der Entwicklung der schwierigen Verhaltensweisen beteiligt.
Kinder- und Jugendhilfe hilft
Im Rahmen der ambulanten, teilstationären und stationären Jugendhilfe erhalten diese Kinder und ihre Familien notwendige Unterstützungsleistungen und umfangreiche Förderungen. Die Jugendhilfe in Deutschland ist gut aufgestellt. Viele Kinder profitieren davon, werden therapeutisch und durch umfangreiche Förderungen unterstützt, holen Entwicklungen nach und können schulische Defizite teilweise aufholen. Die Zahlen: Im Jahr 2016 erhalten über eine Million Kinder und Jugendliche Hilfen zur Erziehung. Erziehungsberatung, ambulante Hilfe wie die Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH), stationäre Hilfe wie ein Heim oder Kinderdorf oder eine Pflegefamilie - mit diesen und anderen Hilfeangeboten wird der Versuch unternommen, die Benachteiligung in Chancen umzuwandeln.
Christliche Träger wie die Bethanien Kinderdörfer führen Hilfen zur Erziehung durch als Ausdruck einer werteorientierten Haltung, die dem Wohl von Kindern und Jugendlichen und von Familien Vorrang einräumt. Die christlich orientierte Kinder- und Jugendhilfe ist subsidiär unterwegs und führt einen gesellschaftlichen Auftrag auf der Basis eines christlichen Wertesystems aus.
Mehr Fälle, höhere Kosten
In den vergangenen Jahren ist die Nachfrage nach Hilfen zur Erziehung erheblich gestiegen. Heute werden die Hilfen zur Erziehung jedes Jahr von rund einer Million jungen Menschen genutzt (Anfang der 90er-Jahre waren es 218000). Dies entspricht einem Anteil von ca. sieben Prozent der Jugendlichen unter 21 Jahren. Der 14. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung stellt die These auf, dass die Hilfen zur Erziehung und die gesamte Kinder- und Jugendhilfe "in der Mitte der Gesellschaft" angekommen sind. Das ist aber kein Grund zu feiern. Im Gegenteil, das ist ein guter Grund, sich Sorgen zu machen: "Der Bildungsbericht 2018 verweist erneut darauf, dass gerade Kinder und Jugendliche, die in Alleinerziehendenhaushalten aufwachsen, überproportional häufig von finanziellen, sozialen und bildungsbezogenen Risikolagen betroffen sind." Das Gleiche gilt für arme Familien.
Gesellschaftlicher Auftrag und Nutzen
Hilfen zur Erziehung sind eine sozialstaatliche Antwort darauf, dass viele Familien das Leben zunehmend als unübersichtlich und ausgrenzend empfinden. Familien sind verunsichert in der Gestaltung des Alltags, in der Organisation der Familie und in der Erziehung. Kinder und Jugendliche leiden unter prekären Lebensverhältnissen, Armut, emotionalen und Bildungsbenachteiligungen und Ausgrenzung. Der seit Jahren ungebrochene Anstieg der Fallzahlen zeigt die gesellschaftlichen Brennpunkte, die dort vorhandene Not und den offenbar immer noch steigenden Bedarf unserer Arbeit.
Fachkräfte und Verantwortliche in der Jugendhilfe wissen, wie mühsam es ist und wie viel Einsatz es braucht, um einem Kind, das sich selbst nichts zutraut, Selbstvertrauen zu vermitteln. Wie weit ist der Weg für viele unserer Kinder und Jugendlichen zu dem Gefühl von Anerkennung und Erfolg, zu einem verlässlichen Gefühl von Selbstwirksamkeit, das notwendig ist, um sich als vollwertig und zugehörig wahrzunehmen. Diese Entwicklungen fördern wir, damit junge Menschen sich als Teil unserer Gesellschaft wahrnehmen, in der sie eine Stimme haben, in der sie nicht nur als Konsument willkommen sind, sondern als Mitgestalter des Zusammenlebens von Menschen, die sich gegenseitig unterstützen.
Denn funktionierende vertrauensvolle Beziehungen sind die Grundlage unserer Arbeit und zugleich die Keimzelle gesellschaftlicher Integration. Das Gold unserer Arbeit sind Beziehungen zwischen Fachkräften und den betreuten Kindern und Jugendlichen. Dazu bedarf es Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ihrerseits Vertrauen in die Arbeitsbeziehungen zu ihren Trägern und Arbeitgebern haben. Wie könnten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihren Klienten Vertrauen in Organisationen vermitteln, wenn sie sich selbst in ihrem Arbeitsplatz als ohnmächtig und unbedeutsam erleben? Ohne Vertrauensgrundlage wird es schwierig, Menschen Vertrauen in Systeme und Organisationen zu vermitteln. Das ist ein anspruchsvolles Ziel, weil viele Kinder und Jugendliche aus ihrer biografischen Erfahrung gute Gründe haben, den Motiven und Handlungen von Erwachsenen zu misstrauen. Im Idealfall machen Kinder und Jugendliche die Erfahrung, nicht Opfer von Fremdentscheidungen zu sein, sondern sie erleben in der Jugendhilfe, dass sie selbst wirkmächtige Beteiligte an den Entscheidungen sind, wenn es um sie selbst geht.
Wenn die Prozesse der Bindung und der Beteiligung nicht gelingen, besteht das Risiko, dass sich die Benachteiligung fortsetzt. Dann sind Armut, Bildungsbenachteiligung und das Gefühl des Außenseitertums nicht nur eine Quelle für individuell problematische Entwicklungen, sondern es entstehen auch demokratieferne oder gar -feindliche Einstellungen. Weitere Folgen der prekären Lebenslagen, die nicht verbessert werden: Arbeitslosigkeit, Armut, Gesundheitsstörungen und Sucht, Straffälligkeit, gestörte soziale Bezüge.