Die Zahlen steigen
Caritas in NRW: Familien verändern sich. Inwieweit sind solche Veränderungen mitverantwortlich dafür, dass Hilfen zur Erziehung notwendig werden?
Sebastian Heyn: Wir merken schon, dass in einigen Familien Erziehungskompetenzen abnehmen. Rückhalte in Familien fehlen zunehmend. Wir bemerken, dass auch psychische Erkrankungen tendenziell zunehmen, was ebenfalls zur Überforderung in der Erziehung führen kann. Wenn diese Phänomene dann noch einhergehen mit Alkohol- oder Drogenmissbrauch, werden die Kolleginnen und Kollegen der sozialen Dienste vor große Herausforderungen gestellt.
Caritas in NRW: Die Kosten für die Hilfen zur Erziehung machen in den kommunalen Haushalten einen großen Batzen aus. Gilt das auch für die StädteRegion?
Sebastian Heyn: Eindeutig ja. Hilfen zur Erziehung und Kindertagesbetreuung sind zwei wesentliche Felder im Haushalt des Jugendamtes.
Caritas in NRW: Die Anzahl der Hilfen zur Erziehung in den Kommunen bewegt sich auf einem hohen Niveau - auch in Ihrem Zuständigkeitsbereich?
Sebastian Heyn: Schaut man in die Bundes- und Landesstatistiken, sind weit mehr als eine Million Kinder in Deutschland in irgendeiner Form in Hilfen zur Erziehung involviert. Hilfen zur Erziehung stehen in einem engen Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Entwicklungen, die wir haben. Das bedingt sich gegenseitig. Die Zahlen sind auch bei uns auf einem hohen Niveau, wobei wir in unserem Jugendamtsbezirk Kommunen mit unterschiedlichen Bedarfslagen haben. Die Unterstützungsangebote in Baesweiler sind andere als die, die wir in der Nordeifel vorhalten müssen. Ich leite seit einem Jahr das Jugendamt. Bis 2016/2017 ist die Zahl der Hilfen zur Erziehung stetig angestiegen. Ich sehe, dass die Tendenz immer noch ansteigend ist, aber nicht mehr so stark wie in den Jahren davor.
Caritas in NRW: Haben Sie für den geringeren Anstieg eine Erklärung?
Sebastian Heyn: Wir versuchen, eine gute Präventionsarbeit zu leisten. Wir halten so viele Kita-Plätze wie möglich vor und erweitern diese stetig. Wir erfüllen den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz und können individuelle Bedarfslagen von Familien bedienen. Wir haben eine gute Vernetzung mit unseren Kooperationspartnern. Dabei spielt auch der präventive Gedanke eine Rolle. Wir können frühzeitig, wenn Bedarfe in Familien notwendig sind, unterstützen, weil wir unsere Leistung auch gemeinsam mit den freien Trägern vorhalten.
Caritas in NRW: Warum setzt das Jugendamt der StädteRegion so auf Prävention?
Sebastian Heyn: Eine Hilfe zur Erziehung ist ja immer auch ein Eingriff ins familiäre System. Wir versuchen, so viel wie notwendig und so wenig wie möglich in familiäre Systeme einzugreifen. Dafür müssen wir aber im Vorfeld von Hilfen zur Erziehung schon intensiv mit Familien zusammenarbeiten und sie entsprechend beraten. Das sind vertrauensbildende Maßnahmen. Unterstützung wird von Familien nur angenommen, wenn eine Vertrauensbasis besteht.
Caritas in NRW: Also ist vorbeugen besser als heilen?
Sebastian Heyn: Für uns ist es wichtig, dass wir in allererster Linie informieren können über die Angebote, die es gibt. Das Jugendamt und seine Netzwerkpartner müssen ihre Angebote so zugänglich machen, dass Familien darauf aufmerksam werden und diese auch im Bedarfsfall in Anspruch nehmen. In der Öffentlichkeit aber hat ein Jugendamt oftmals einen schwierigen Stand. Das erschwert in vielen Fällen den Kontaktaufbau zu solchen Familien, bei denen wir denken, sie könnten dringend eine Unterstützung benötigen. Wir müssen also Hemmschwellen abbauen. Unsere Maßnahmen und unsere Unterstützungsleistungen können auch nur so weit erfolgreich sein, wie Familien in der Lage sind, sie anzunehmen.
Caritas in NRW: Sie sagten es zu Anfang schon: Hilfen zur Erziehung sind ein großer Posten bei den jährlichen Aufwendungen des Jugendamtes. Müssen Sie bei der Aufstellung Ihres Haushaltes sehr mit dem Kämmerer oder dem Finanzdezernenten kämpfen?
Sebastian Heyn: In der StädteRegion ist allen sehr wohl bewusst, was wir als Jugendamt leisten und wie wichtig die Aufgabe ist. Es geht um unsere Familien und um unsere Kinder. Wir müssen uns aber auch bewusst darüber sein, dass wir hier öffentliche Mittel verwalten. Auf der einen Seite müssen wir mit diesen Geldern verantwortungsvoll umgehen. Auf der anderen Seite geht es um Unterstützungsleistungen für Familien und Kinder. Und da ist es wichtig, dass sie die richtigen Unterstützungsangebote bekommen. Unsere Aufgaben sind umlagefinanziert. Es besteht - und das ist für uns wichtig - eine hohe Akzeptanz für uns als Jugendamt in den Kommunen, für die wir tätig sind.
Caritas in NRW: Auch in der Politik?
Sebastian Heyn: Der zuständige Kinder- und Jugendhilfeausschuss der StädteRegion ist sehr aktiv und sehr gut informiert. Wir pflegen eine enge Zusammenarbeit mit dem Ausschuss. Wenn die wissen, dass wir die richtigen Dinge tun, stehen sie auch hinter uns, unterstützen unsere Maßnahmen und geben uns auch Impulse. An dieser Stelle ist Transparenz ganz wichtig.
Caritas in NRW: Gibt es eine Maxime, nach der das Jugendamt handelt?
Sebastian Heyn: Effektivität und Effizienz, also die richtigen Dinge tun und die Dinge richtig tun, sind unsere Leitlinien. Das heißt zum Beispiel, frühzeitig mit Familien gemeinsam zu überlegen, welche Maßnahme die richtige ist. Es ist oft besser, am Anfang eine lange Anamnesephase unter Einbeziehung der Familie und ihres Umfeldes zu haben. Zu meinen, eine stationäre Maßnahme ist vielleicht etwas teurer, also installiert man lieber eine kostengünstigere ambulante Maßnahme mit dem Wissen, dass es nicht die richtige ist, kann nicht zielführend sein. Daher ist es für uns wichtig, Hilfen so passgenau wie möglich zu gestalten. Auch wenn die richtige Maßnahme kostenintensiver ist, muss sie gewährt werden. Daran führt kein Weg vorbei. Wir können nicht aus einem Kostengrund sagen, wir setzen die falsche Maßnahme ein und gefährden damit Familiensysteme.
Caritas in NRW: Dann würde ja auch die Soße teurer als der Braten.
Sebastian Heyn: Die Wahrscheinlichkeit ist zumindest hoch. Man nennt das Treppeneffekt. Man probiert immer die nächstintensivere Maßnahme. Und dann muss man natürlich auch fragen, inwieweit dann ein Familiensystem oder ein Kind oder Jugendlicher überhaupt noch in der Lage ist, sich nach der zweiten, dritten Maßnahme noch einmal auf eine neue Maßnahme einzulassen. Wir sind der Überzeugung: von vornherein schauen, was richtig ist. Bei der Abwägung zwischen ambulanten und stationären Hilfen muss man sehr sensibel vorgehen. Wenn klar ist, dass ein Kind nicht in der Familie leben kann, muss von vornherein überlegt werden, eine stationäre Maßnahme in Erwägung zu ziehen. Aber wir versuchen trotzdem, unter familienerhaltenden Aspekten mit ambulanten Maßnahmen zu unterstützen, wenn es dadurch möglich ist, dass Kinder in der Familie bleiben können.
Caritas in NRW: Bei allen Abwägungen, die zu treffen sind, kommt es natürlich auf Fachlichkeit an. Pädagogische Konzepte verändern sich. Wie stellen Sie sicher, dass die zuständigen Stellen fachlich auf dem aktuellen Stand bleiben?
Sebastian Heyn: Wir stehen in der gesamten Städteregion in einem kontinuierlichen Austausch mit allen Jugendämtern und haben verschiedene gemeinsame Arbeitskreise und Steuerungsgruppen. Den Mitarbeitenden steht ein umfangreiches Fortbildungsangebot zur Verfügung. Zudem stehen wir in engem Kontakt mit unserem Landesjugendamt, dem LVR. Es muss eine Verzahnung zwischen Theorie, Wissenschaft und Praxis erfolgen.
Caritas in NRW: Muss das Jugendamt nicht herhalten für eine verfehlte Politik in anderen Bereichen?
Sebastian Heyn: Das Jugendamt sitzt an einer Schnittstelle von diversen Verzahnungen zu anderen Systemen. Familien, die von materieller und sozialer Armut betroffen sind und dann auch noch ein niedriges Bildungsniveau haben, benötigen häufiger Unterstützungsangebote als andere. Wenn sie dann keinen familiären Background haben, der Unterstützung bietet, ist es einfach schwierig. Wir haben auch mit Menschen zu tun, die durch bestimmte Raster gefallen sind. Dann ist es aber wichtig, dass alle relevanten Stellen kooperieren, damit diese Menschen noch Entwicklungsperspektiven und Chancen haben.
Caritas in NRW: Wie organisiert man es, dass alle zusammenarbeiten? Das scheint mir eine große Herausforderung zu sein.
Sebastian Heyn: Es ist ganz wichtig, dass es entsprechende Netzwerke gibt. Seit dem Jahr 2012 gibt es das Bundeskinderschutzgesetz. Dadurch wurden die Netzwerkstrukturen der Frühen Hilfen gestärkt. Diese Netzwerkpartner treffen sich regelmäßig. In diesem Rahmen kann überprüft werden, welche Angebote es noch nicht gibt, welche notwendig sind, welche weitergeführt oder neu geschaffen werden sollen. Es gibt über Jahre gewachsene und gut funktionierende Strukturen unter Einbeziehung von Kinderärzten, Schulen, Kindergärten, Jobcenter, Trägern, Verbänden, Vereinen.
Das Interview führte Christian Heidrich.
sebastian.heyn@staedteregion-aachen.de