Sozial braucht digital!?
Deutscher Caritasverband, Fotograf: Darius Ramazani
Digitalisierung ist als Thema - manche sagen "endlich!" - auch in der Caritas angekommen. Wer jahrelang glaubte, es handle sich um ein Nischenthema für die Spezialisten der Kommunikationsabteilungen und der Öffentlichkeitsarbeit, muss lernen, dass Digitalisierung Auswirkungen auf ausnahmslos jeden Bereich auch der sozialen Arbeit haben wird. In der April-Ausgabe 2018 von "caritas in NRW" wurden vor allem technische Hilfsmittel und Hardware-Devices vorgestellt, die in der sozialen Arbeit zur Anwendung kommen.
Digitalisierung umfasst aber auch:
- softwaregestützte Analysemethoden
- künstliche Intelligenz
- vernetztes Arbeiten
- neue und neuartige Gestaltung und Strukturierung von Marktprozessen und Kundenbeziehungen
Digitalisierung ermöglicht es beispielsweise, Prozesse einfacher zu machen, sie werden effizienter und besser, auch korrekter. Wir können Antworten auf Fragen bekommen, die wir vorher nicht stellen konnten, weil wir jetzt Daten haben. Wir können dezentraler arbeiten. Neue Geschäftsmodelle werden entstehen und den Sozialmarkt und seine Beziehungen zwischen Klienten und Leistungserbringern durcheinanderwirbeln.
Der "Rohstoff" für optimierte Arbeitsprozesse in einer digitalisierten Welt sind Daten. Verknüpft man genügend "gute" (d. h. geprüfte und standardisierte) Daten mit entsprechenden Operatoren, erhält man im besten Fall Werkzeuge zur Analyse und Prognose, die andere Entscheidungen ermöglichen als bisher. Diese "Werkzeuge" werden kommen, und sie werden den Alltag auch in der sozialen Arbeit massiv umkrempeln, wenn sie das viel gerühmte "Bauchgefühl", in dem sich Erfahrungswissen und Einfühlungsvermögen vermengen, ergänzen oder auch ersetzen. Mit allen Problemen, die daraus ebenfalls entstehen können und die zu diskutieren sind.
Technik verbessert die Steuerung
Einige Beispiele: Der Arbeitsmarktservice (AMS) in Österreich, vergleichbar der deutschen Bundesagentur für Arbeit, hat angekündigt, einen Algorithmus einzusetzen, um die Chancen von Arbeitslosen auf einen neuen Job zu bewerten. Solche Prognosen für die Wirksamkeit von Maßnahmen sollen die größtmögliche Effizienz der vorhandenen Fördermittel garantieren. Ein Knackpunkt bei einem solchen "Scoring-System": Frauen erhalten bei Bewertungen einen Abzug, nur weil sie Frau sind. Wenn sie dazu noch eine Betreuungsaufgabe haben (Kinder, pflegebedürftige Angehörige …), ist der Abzug dreimal so hoch. Nicht-EU-Bürger werden niedriger bewertet, Langzeitarbeitslose ebenso. Die Verantwortlichen sagen, sie nutzten die künstliche Intelligenz, um die Realität abzubilden. Die Probleme liegen auf der Hand: Existierende vorurteilsbehaftete Strukturen werden normativ verfestigt und prägen die Zukunft.
In den USA soll ein Algorithmus das Rückfallrisiko von verurteilten Straftätern berechnen. Die Prognosen der Software beeinflussen die Festsetzung der Kautions- und Strafhöhe oder die Entscheidung, ob eine Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird. Auch hier prägen im konkreten Fall Vorurteile die Ergebnisse: Bei Schwarzen warnt die Software zu oft und bei Weißen zu wenig vor einem Rückfall. Bei Weißen werden spätere Vergehen sogar doppelt so oft nicht vorhergesagt.
Beide Beispiele machen deutlich, dass softwaregestützte Analysemethoden neue Entscheidungen erfordern: Was zählt mehr: das Interesse der Allgemeinheit an ressourcenoptimiertem Einsatz von Finanzmitteln oder das Interesse des Einzelnen an einer vorurteilslosen Behandlung? Die Diskussion über diese und ähnliche Fragen erfordert zweierlei: eine umfassende Kenntnis der neuen technischen Möglichkeiten (und deswegen der Imperativ "Sozial braucht digital!") und ethische Kriterien, die die Auswirkungen abzuschätzen und zu bewerten helfen.
Technik ersetzt den Menschen
"Weil mehr Zeit bleibt, wenn man die Arbeit mit einer App teilt" - so eine der Botschaften aus der aktuellen Kampagne der deutschen Caritas. Dazu das Bild eines Pflegenden mit einem technischen Gerät in der Hand am Bett einer Patientin. Die Visualisierung des Themas "Sozial braucht digital" wirkt fröhlich. Die technischen Möglichkeiten sind immens: Neuartige Sensorik verhindert in stationären Altenheimen das unbemerkte Weglaufen von verwirrten Bewohnerinnen und Bewohnern. Andere Sensoren erkennen Stürze, können sie unterscheiden von Bücken oder Hinknien. Technisches "Spielzeug", kleine Roboter mit menschenähnlichen Zügen, simuliert Beziehungen. Digital programmierte Technik überwacht Körperzustände, Roboter regen an zur Flüssigkeitsaufnahme. Wenn das alles zum Einsatz kommt (und funktioniert), dann, so die Hoffnung, bleibt mehr Zeit für den Menschen, für das wirklich Menschliche. Doch all diese neuen Errungenschaften müssen finanziert werden, Pflegekräfte müssen ihre Bedienung erlernen, ethische Fragen sind zu diskutieren und zu bewerten (s. o.).
Chatbots, die längst das Einkaufen in Online-Shops erleichtern, werden über kurz oder lang auch in die Online-Beratung einziehen - und zumindest einen Teil der Kommunikation übernehmen (können). Noch fünf Jahre - so schätzen Forscher -, dann beherrscht KI emotionale Kommunikation. Doch was bedeutet das für die Beziehung zwischen Klient und Sozialarbeiterin? Was ist, wenn sich Klienten beim Bot besser aufgenommen und beraten fühlen als beim Menschen? Was ist, wenn ihnen der Unterschied gar nicht mehr bewusst wird - oder falls doch: egal ist? Was sich möglicherweise als Rezept gegen den Fachkräftemangel durchsetzen wird, wird auch die Kostenträger begeistern.
Die Gewinner der Plattform-Ökonomie
Immer mehr Menschen fühlen sich wohl mit Alexa, Siri oder Cortana, erteilen ihnen Befehle, hören auf ihre (Kauf-) Empfehlung, holen ihren Rat ein. Wenn der Kunde sagt: "Alexa, ich brauche einen Pflegedienst in Bochum" - wen nennt Alexa dann? Die AWO? Ein polnisches Start-up? Die Diakonie? Einen anderen Privaten? Oder empfiehlt Alexa als kostengünstige Alternative ein Gesamtpaket, das zufällig vom Pflege-Amazon angeboten wird? Das zudem noch rabattiert wird, weil es modular aufgebaut ist und damit auch einen Platz in der Reha-Klinik für den Neffen aus Kiel umfasst?
Was bedeutet es für Träger caritativer Arbeit, wenn potenzielle Kunden oder Klienten den Zugang zu sozialen Diensten auf einmal über eine Plattform suchen? Muss die Caritas demnächst ihre Sozialdienste und -angebote auf Plattformen einstellen, weil sie dort von einer relevanten und steigenden Anzahl von Nutzern gesucht werden? Muss die Sozialstation der Caritas dann an das Pflege-Amazon "Einstellgebühren" zahlen und Provisionen leisten, wenn sie kostendeckend Umsatz machen will? Die Diskussion innerhalb der Caritas steht erst am Anfang.
NRW-Digitalstrategie
Der ressortübergreifend entstandene Entwurf einer Digitalstrategie der NRW-Landesregierung berücksichtigt auch Themen wie Soziales und Bildung. Die Caritas in NRW hat sich u. a. mit einer Stellungnahme in dem Prozess zu Wort gemeldet.
Anfang Januar will die Landesregierung die eingegangenen Stellungnahmen, die 1400 Priorisierungen und die Online-Kommentare sowie die Eingaben auf der Digitalkonferenz Ende Oktober ausgewertet haben und ihre Digitalstrategie für Nordrhein-Westfalen beschließen.