"Diese Frauen waren meine Vorbilder"
Als Resan Gündogan zusammen mit ihrer jüngeren Schwester und dem Bruder nach Deutschland kommt, kann sie nicht einmal "ja" oder "nein" auf Deutsch sprechen. Sie sind Kurden, in der Türkei politisch verfolgt, deswegen beantragen sie in Deutschland Asyl. Es ist das Jahr 1992, und so viele Menschen wie nie zuvor (rund 440000) suchen Asyl und Schutz vor Verfolgung in Deutschland. Dort ist die zunehmende Zahl der Asylsuchenden Ausgangspunkt für heftigen politischen Streit. Eine Welle rassistischer und ausländerfeindlicher Gewalttaten geht durch Deutschland. Die Politik wird schließlich im Juni 1993 das Asylrecht drastisch verschärfen.
"Die ersten Jahre waren sehr hart für uns", sagt Resan Gündogan. Die Geschwister haben die Heimat verlassen, die Freunde verlassen - und das Schlimmste: "Ich musste meine Mutter verlassen", sagt sie. Im Ausländerheim in Olpe leben sie in einem winzigen Zimmer. "Wir kannten keinen", erinnert sie sich. "Man ist von der ganzen Welt isoliert, wenn man die Sprache nicht kann."
"Wir kommen von der Caritas"
Doch dann taucht Besuch auf. Zwei Damen kommen regelmäßig zu den Flüchtlingen, kümmern sich um sie. Sie versuchen mit ihnen Deutsch zu sprechen, einige Worte zunächst nur. "Die haben immer gesagt: ‚Wir kommen von der Caritas.‘ Ich wusste gar nicht, was das ist, ‚Caritas‘, ich habe erst viel später erfahren, was Caritas ist", sagt Gündogan. Die Damen brachten auch schon mal Geschenke mit. "Ich glaube, sie konnten nachempfinden, wie wir uns fühlten", erinnert sich Gündogan. Irgendwann luden sie die Geschwister ein zu Sprachkursen für Flüchtlinge. Bei der Caritas.
Sie erfährt, dass die Damen nicht nur aus Berufung, sondern beruflich handeln. Die eine der beiden ist Sozialpädagogin, die andere Sozialarbeiterin. Für Resan Gündogan ist diese Erkenntnisse wie eine Offenbarung: "Wow! Das heißt, es gibt Menschen, die diesen Beruf haben, anderen Menschen zu helfen." Die Damen helfen ihr, Deutsch zu sprechen, begleiten sie zum Sprachkurs. "Sie haben mir geholfen, indem sie mir zuhören", sagt sie. Noch heute, am Esszimmertisch in der kleinen, spartanischen Wohnung in Köln-Buchforst, sind Bewunderung und Dankbarkeit in ihrer Stimme zu spüren: "Durch diese beiden Damen bekamen wir Kontakt zur Außenwelt".
Resan ist damals schon 16 Jahre alt und nicht mehr schulpflichtig wie ihre jüngere Schwester. Aber sie geht deren Bücher und Hefte durch, um Deutsch zu lernen. "Wenn du hier lebst, dann musst du etwas tun, um die Sprache zu lernen", sagt sie. Man muss kämpfen, davon ist sie überzeugt, und danach hat sie gehandelt. Sie geht zur Abendschule, schafft den Hauptschulabschluss, lernt weiter, schafft den Realschulabschluss, und sie macht eine Ausbildung als Erzieherin. Noch immer denkt sie zurück an die Zeit in Olpe: "Ich hatte immer im Hinterkopf diese beiden Frauen, sie waren meine Vorbilder, ich wollte immer werden wie die", sagt sie. Mit der Erzieherinnenausbildung hat sie die Fachhochschulreife und merkt: "Ich kann mehr!" Dann lernt sie ihren Mann Kemal kennen, sie wollen heiraten, eine Familie gründen, ihren Traum muss sie zunächst verschieben.
Bombenanschlag in der Keupstraße
Dann geschieht der Bombenanschlag. Am 9. Juni 2004 gegen 16.56 Uhr detoniert in der Keupstraße in Köln-Mülheim eine Nagelbombe. Die Wucht der Detonation verteilt die Nägel in einem Umkreis von bis zu 100 Metern. Mehr als 30 Fensterscheiben zersplittern, 15 Autos werden zum Teil erheblich beschädigt, 22 Menschen verletzt, vier davon schwer. Einer der Verletzten ist Kemal Gündogan. Der Anschlag, um den sich viele Gerüchte und Verschwörungstheorien ranken, konnte erst 2011 den beiden Rechtsterroristen Mundlos und Böhnhardt vom Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) zugeordnet werden.
"Ich kann den Tag nie vergessen", sagt Resan Gündogan. Ihr Mann rief sie mit zitternder Stimme auf dem Handy an, sagte, er sei verletzt, versucht aber auch, sie zu beruhigen. Sie eilt in Panik und voller Ungewissheit zur Keupstraße, durchbricht die Polizeiabsperrung, findet ihren Mann blutend auf dem Boden sitzend. Glassplitter haben seinen Kopf getroffen. Er wird ins Krankenhaus transportiert. Die Verletzungen werden versorgt, die Splitter entfernt, die Wunden genäht. Schon am nächsten Tag will wieder arbeiten gehen - gegen den Rat der Ärzte, aus Angst um den Job.
Doch die psychischen Folgen des Anschlags wirken nach. Die Polizei kann die Hintergründe der Explosion nicht aufklären, Gerüchte schwirren umher, Mutmaßungen machen die Runde. Beide Eheleute sind emotional schwer belastet. Kemal Gündogan ist deprimiert, gesundheitlich angeschlagen, er verliert schließlich seine Arbeit. Seine Frau Resan arbeitet jetzt als Gruppenleitung in einem Kindergarten. Ihr Traum muss warten. Dann wird sie schwanger und bringt im Abstand von einigen Jahren zwei Kinder zur Welt.
Erst als Kemal nach vielen Mühen eine Anstellung bei der städtischen Müllabfuhr in Köln erhält, reicht das Geld knapp für die junge Familie. Resan Gündogan versorgt die Kinder und den Haushalt. Und jetzt - in der Elternzeit - erinnert sie sich wieder stärker an ihren Traum, und endlich kann sie berufsbegleitend mit dem Studium der Sozialarbeit beginnen.
Lichtblicke hilft mit einem Zuschuss
Und sie findet das Studium toll: "Es ist eine Menschenrechtsprofession, das fasziniert mich an diesem Studiengang", sagt sie mit leuchtenden Augen. "Es geht um Menschenrechte, um menschliche Würde." Sie wird einst gern als Sozialarbeiterin arbeiten, weiß sie. "Ich werde Menschen helfen, ihnen Wege zeigen, Lösungen anbieten." Das Schöne sei, zu sehen, was ein Mensch bei anderen, die in Schwierigkeiten sind, bewirken kann. "Diese Entwicklungen zu sehen macht mich glücklich."
Auch als neue Schwierigkeiten auftreten, gibt sie nicht auf. Von dem kleinen Gehalt des Mannes können sie die Studiengebühren nicht aufbringen. Doch mit einem Antrag an die Spendenaktion Lichtblicke gelingt es, einen Zuschuss zu erhalten, um wenigstens die Studiengebühren für die nächsten drei Semester zu übernehmen.
Das Studium macht ihr Spaß, es sei einfach, wenn man Interesse daran habe. Sie zählt zu den Besten in ihrem Jahrgang. "Aufgrund des Studiums schaue ich mit anderen Augen auf die Menschheit", sagt sie. Wenn ich in der Bahn bin, wenn ich mit den Kindern auf dem Spielplatz bin, überall, wo Menschen sind, versuche ich, mich von Zuschreibungen und vom Schubladendenken zu befreien." Es gehe darum, nach Gründen zu fragen. Letztendlich, so sagt sie noch, "wollen wir ja alle nützliche Personen für die Gesellschaft werden".
Die Dankbarkeit bleibt
Gute Vorbilder sind nicht die schlechteste Motivation, um soziale Arbeit zu seinem Beruf zu machen. "Ich weiß nicht mehr, wie sie heißen, aber ich wäre froh, wenn ich die beiden Damen von der Caritas aus Olpe noch einmal sehe, damit ich ihnen eine Rückmeldung geben kann, wie wertvoll ihre Arbeit damals war", sagt Resan Gündogan.