Dableiben, wenn andere gehen
Was Kirchmann später mit viel Enthusiasmus beginnt, stürzt sie einige Jahre danach in eine Lebenskrise. In ihrer Ausbildung macht sie die Erfahrung, dass das Sterben im Krankenhausalltag der 80er-Jahre keinen Platz hat. "Eine Krankenschwester leidet nicht mit - sie weint auch nicht!" Damit konnte sie sich mit Anfang 20 einfach nicht abfinden. "Mein Berufsverständnis und meine Motivation waren erschüttert. Auch viele Kollegen haben darunter gelitten", erinnert sich Kirchmann. Nach Dienstschluss setzt sie sich ans Bett sterbender Patienten, will einfach da sein für sie. In dieser Zeit verfestigt sich ihr Wunsch, mit und für sterbende Menschen zu arbeiten. Dazubleiben, wenn andere gehen. Palliative Care oder die stationäre Hospizarbeit sind zu dieser Zeit noch kaum bekannt in Deutschland.
Später, als junge Mutter, hat Silke Kirchmann die Chance, mehrere Monate in England zu arbeiten, im Mutterland der heutigen Hospizbewegung. Hier lernt sie, wie sich das Sterben mehr in den Fokus der Pflege und Medizin rücken lässt. "Es geht darum, die Angst aushaltbar zu machen. Das Problem können wir nicht abschaffen, aber mit aushalten. Das Mit-Durchhalten ist wohl das Anspruchsvollste dabei", erklärt Kirchmann.
Bestärkt in ihrem Vorhaben, auch in Deutschland das Sterben zu enttabuisieren, initiierte sie 1996 den ersten ambulanten Hospizdienst in Wuppertal. Partner war damals schon unter anderem die Caritas. Zum Jahrtausendwechsel wechselt Kirchmann dann den Arbeitgeber - sie geht hauptberuflich zur Caritas.
Dort kommt die nächste große Herausforderung auf die fünffache Mutter zu: als der Caritasverband Wuppertal sein Hospiz-Angebot speziell für Kinder und Jugendliche ausbauen will. "Das schaffe ich emotional nicht", war Kirchmanns erste Befürchtung damals. Mit der Unterstützung einer Kinderkrankenschwester startet sie trotzdem das Projekt. "Sofort hatten wir viele Anfragen, die Familien haben wirklich auf dieses Angebot gewartet." Kirchmann lernt schnell: "Sterbenskranke Kinder sind so wie andere Kinder auch. Und wenn ich was kann, dann mit Kindern!" Sie bildet sich weiter - unter anderem zur systemischen Familientherapeutin. "Gerade in der Arbeit mit sterbenskranken Kindern nehmen die Eltern und die Geschwister eine große Rolle ein. Da geht es nicht nur um den einen Patienten", erklärt die heute 45-Jährige.
"Leid ist nicht der Gegensatz zu Freude"
Seit rund vier Jahren hat sich Silke Kirchmanns Arbeitsschwerpunkt verlagert. Neben ihrer koordinierenden Leitungsfunktion bildet sie jetzt vor allem aus - Palliativ-Fachkräfte. Ob ihr die Arbeit direkt am Patienten fehlt? "Nein…doch!" Es ist zwiespältig. "In meinem Beruf muss man sehr auf sich achten. Ich brauchte jetzt mal einen Schritt heraus aus dem direkten Kontakt, weil ich des Leides in dieser Fülle müde war." Aber nach wie vor spürt sie "Freude und eine tiefe Liebe", wenn sie in Notdiensten direkt bei den Patienten ist. "Das sind meine heiligen Momente!"