"Soziale Medien sind unsozial"
Caritas in NRW: Medienkonsum und Cybermobbing gehören mittlerweile zu den Beratungsschwerpunkten der "Lobby". Wie ist es dazu gekommen?
Michael Hartmann: Noch vor einigen Jahren haben wir viel Streetwork gemacht in Parks oder auf Schulhöfen, heute sind Kinder und Jugendliche am häufigsten in der digitalen Welt unterwegs. Damit verbunden tauchten auffällig viele Probleme nach den ersten Jahren mit Covid-19 auf. Im Lockdown verbrachten viele Kinder und Jugendliche die meiste Zeit vor Bildschirmen, sie sind nicht mehr in Sportvereine gegangen und konnten auch sonst nicht viel in ihrer Freizeit unternehmen. Danach ist es für viele Eltern schwierig gewesen, Grenzen zu setzen und die Medienzeit plötzlich wieder zu beschränken. Schlimmer noch: Viele Kinder und Jugendliche haben den Schritt aus der digitalen in die analoge Welt nicht geschafft und sind nicht mehr zur Schule gegangen, weil sie Homeschooling gewohnt waren. Daraus entsteht dann das nächste große Thema, Schulabsentismus, sie kommen nicht mehr an in der "echten" Schule.
Caritas in NRW: Das klingt nach einer Zwickmühle: Die Schulen haben ihre analogen Angebote im Lockdown auf digitale umgestellt, von heute auf morgen mussten Kinder auf Tablet und Online-Meetings umsteigen, und plötzlich sollen sie ihre Bildschirmzeit wieder drastisch herunterfahren?
Michael Hartmann: Auf jeden Fall eine große Herausforderung. Auch wir sind digital geworden und waren zudem eine der wenigen Einrichtungen, die während der Corona-Zeit in Präsenz für die Jugendlichen geöffnet hatten. Wir haben digitale Veranstaltungen angeboten, haben Gespräche draußen im Freien geführt oder am offenen Fenster. Uns war es wichtig, mit den Kindern und Jugendlichen weiterarbeiten zu können. Aber für sie ist das natürlich ein riesiger Konflikt, wenn die Welt um sie herum immer digitaler wird und sie selbst plötzlich nur noch zwei Stunden am Tag an einem Bildschirm verbringen dürfen. Sie empfinden von allen Seiten Druck und ziehen sich vermehrt zurück - in ihre Zimmer und in ihre digitale Parallelwelt.
Caritas in NRW: Was passiert dann in diesen "Welten"?
Michael Hartmann: In der digitalen Welt, beispielsweise in Online-Spielen, können Kinder und Jugendliche eine ganz andere Persönlichkeit ausleben oder einfach so sein, wie sie sein möchten. Oder sie genießen ganz einfach das Feedback und die Likes in sozialen Medien, die erhobenen Daumen, die Aufmerksamkeit.
Caritas in NRW: Klingt erst einmal gut, ist es aber vermutlich nicht immer. Welche Erfahrungen macht das Team der "Lobby" aktuell mit Medienkonsum, der zu Cybermobbing führt?
Michael Hartmann: Wir werden immer häufiger für Präventionsschulungen angefragt, die wir ab der 4. Klasse anbieten. Im letzten Jahr waren es knapp 40 allein zu den Themen soziale Medien und Cybermobbing. Oftmals entwickeln sich diese dann zu Interventionsveranstaltungen, wenn während der Schulung ein konkreter Fall von Cybermobbing auftaucht. Oder aber wir werden direkt von den Schulen zu konkreten Fällen gerufen. Ein klassisches Beispiel: wenn in der WhatsApp-Gruppe einer Klasse pornografisches Material herumgeschickt wird.
Caritas in NRW: Wie geht ihr dann mit solchen Fällen um? Immerhin geht es um sensible Themen, die man vielleicht nicht vor seinen Mitschülerinnen und Mitschülern ausbreiten möchte.
Michael Hartmann: Wir haben ein Schulkonzept entwickelt und arbeiten im Klassenkontext, denn in jeder Schulklasse sitzen immer mehrere, die bereits Opfer von Cybermobbing geworden sind. Wir nennen niemals Namen und arbeiten mit allen gleich, auch mit Täterinnen und Tätern sowie Zuschauerinnen und Zuschauern, denn bei Cybermobbing fühlt sich niemand wohl. Wir fangen dann ganz allgemein an, sprechen und klären auf über soziale Netzwerke und Cybermobbing, zeigen Filme mit Beispielsituationen, lassen die Schülerinnen und Schüler Internetprofile anlegen und zeigen ihnen, was man von sich preisgeben kann und was lieber nicht, um keine Angriffsfläche zu bieten. Und wir führen Rollenspiele durch, sodass Täterinnen und Täter sich auch mal in die Opferrolle hineinversetzen und andersherum. Es geht viel um Empathie und Gefühle.
Caritas in NRW: Vermutlich sind sich viele gar nicht darüber im Klaren, welche weitreichenden Folgen hinter dem Wort "Cybermobbing" stecken?
Michael Hartmann: Viele wissen gar nicht, wo Cybermobbing anfängt, geschweige denn wo es hinführen kann. Deshalb klären wir immer über die rechtlichen Konsequenzen auf. Die häufigsten Fälle drehen sich um Verstöße gegen das Recht am eigenen Bild, meistens geht es um Nacktfotos, die im Netz oder in WhatsApp-Gruppen kursieren, aber auch um Beleidigung oder Nötigung. Heutzutage haben Kinder bereits in der Grundschule ein Handy. Oft wissen sie gar nicht, dass sie sich mit der Weiterleitung eines Bildes oder Videos, das sie sich selber vielleicht gar nicht angesehen haben, strafbar gemacht haben. In den Klassen händigen wir allen eine Übersicht mit Tipps und ersten Schritten bei Cybermobbing aus: Wie gehe ich mit Beweisen um, welche Ansprechpartner habe ich bei Polizei und Beratungsstellen etc.? Am wichtigsten ist es, dass alle um die Konsequenzen wissen und verstehen, dass es sich um einen Straftatbestand handelt. Selbst wenn die Täterinnen und Täter unter 14 Jahren alt und noch nicht strafmündig sind, greift das Zivilrecht. Betroffene sollten das Gefühl haben, dass sie nicht alleine sind und die Taten nicht folgenlos bleiben müssen. Ansonsten führt es wieder zu Rückzug oder im schlimmsten Fall zu Suizidgedanken. Wenn es die Situation erfordert, setzen wir uns dafür ein, dass nicht die Betroffenen die Klasse oder die Schule verlassen müssen, sondern die Täterinnen und Täter.
Caritas in NRW: Wie ist dann der Schritt aus der Schulung in der Klasse hin zur persönlichen Beratung bei der "Lobby"?
Michael Hartmann: Die Schülerinnen und Schüler erhalten immer unsere Kontaktdaten, wobei es für viele mittlerweile eine Hürde ist, einfach bei uns anzurufen. Aus diesem Grund haben wir vor einiger Zeit WhatsApp eingeführt, damit wir die Jugendlichen da abholen können, wo sie sich auch sonst bewegen und wohlfühlen. Sie können uns dann schreiben und einen Termin vor Ort vereinbaren. Wir arbeiten sowohl mit Betroffenen als auch mit Täterinnen und Tätern in Einzelberatungen. Daraus entwickeln sich oftmals langjährige Kontakte, weil in den Gesprächen nicht selten ans Tageslicht kommt, welche Probleme die Jugendlichen noch so beschäftigen. Wir führen hier Schulungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins durch, wir haben verschiedene Sportangebote, um den Kindern und Jugendlichen das Arbeiten in der Gruppe näherzubringen. Für alle mit hohem Frustpotenzial bieten wir Deeskalationstrainings an, um den angestauten Ärger regelmäßig und unter Anleitung auszupowern. Wir sind in Paderborn außerdem gut vernetzt und können als Beratungsstelle eine Brücke sein zu anderen Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartnern.
Caritas in NRW: Würdest du sagen, mit steigendem Medienkonsum steigen auch die Mobbingfälle?
Michael Hartmann: Mobbing gab es schon immer. Aber es ist durch das Leben in einer digitalen Welt einfacher geworden. Wenn Kinder früher in den Schulpausen gemobbt wurden, war es spätestens zu Hause wieder vorbei, und sie hatten Ruhe. Heute hat man sein Handy Tag und Nacht bei sich, da hat man keinen Rückzugsort. Soziale Medien sind unsozial im Sinne von gemeinschaftsschädigend. Mit einem Klick hat man im Vertrauen seinen Freunden ein Foto der leicht bekleideten Ex-Freundin geschickt, weil man vielleicht cooles Feedback bekommt - und einen Moment später geht das Bild in sozialen Medien viral, und die halbe Schule hat es gesehen. Oft erleben wir auch Fälle von Identitätsdiebstahl durch unechte Accounts, wenn sich jemand für einen Mitschüler ausgibt und in seinem Namen Lügen verbreitet oder andere Mitschülerinnen und Mitschüler mobbt. So etwas lässt sich nicht einfach wieder zurückdrehen. Deshalb ist Aufklärung so wichtig und die Arbeit mit allen Beteiligten. Ich sage Eltern immer, ihr braucht nicht die Handys eurer Kinder zu kontrollieren, aber lest ab und zu in WhatsApp-Gruppen und sozialen Medien mit.
Das Interview führte Kamila Kolakowski.
Anlaufstelle "Lobby"
Die "Lobby" ist Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche in Konfliktsituationen. Die 1999 gegründete Einrichtung gehört zur Suchtkrankenhilfe des Caritasverbandes Paderborn. Die Beratungs- bzw. Präventionsschwerpunkte sind vielfältig: Von Suchtmittelkonsum über Gewalterfahrungen bis hin zu allgemeinen Schulproblemen oder familiären Konflikten werden alle Krisensituationen abgedeckt. Das macht die Einrichtung einzigartig in NRW. Die drei großen Arbeitsschwerpunkte sind Präventionsangebote an Schulen, die direkte Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sowie Elternberatung. Es gilt immer das Prinzip der Schweigepflicht, die Angebote sind kostenlos und auf Wunsch anonym.
Kontakt
Anlaufstelle Lobby
Am Haxthausenhof 14-16
33098 Paderborn
0170/2 26 94 51 (Anruf/SMS/Messenger)
Online-Hilfen bei Cybermobbing, Hass und Hetze im Netz
Anlaufstellen bieten eine Vielzahl von Informationen und Diensten an, die direkte emotionale Unterstützung, rechtliche Beratung und Möglichkeiten zur Meldung umfassen. Ihr Ziel ist es, Betroffenen in schwierigen Situationen zu helfen, angemessene Unterstützung zu finden und aktiv gegen Hass im Netz vorzugehen.
Übersicht Beratungsstellen Hass im Netz
www.zivile-helden.de/kontakt-beratung-fuer-zivile-helden/beratungsstellen-hass-im-netz
Anlaufstelle für Suizidgefährdete
[U25] - Online-Suizidprävention der Caritas für Menschen unter 25 Jahren in (suizidalen) Krisen.
Telefonseelsorge Deutschland
24/7 kostenfreie und anonyme Hilfe.
Telefon: 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222
Web: www.telefonseelsorge.de
Hass melden - gegen Hass im Netz
Betroffene sollten Hass und Bedrohungen auf Online-Plattformen melden. Facebook, Instagram, Twitter und Co. bieten entsprechende Meldeoptionen, um gegen Hassrede und Belästigung vorzugehen. Aber auch andere Plattformen ermöglichen Meldungen und bieten Hilfe:
www.jugendschutz.net
​www.hateaid.org
www.meldestelle-respect.de
ADA - Servicestellen Antidiskriminierungsarbeit
Betroffenen wird ein geschützter Raum geboten, um über ihre Erfahrungen zu sprechen und Klarheit über ihre Anliegen zu gewinnen. Auf Wunsch werden gemeinsam mit den Betroffenen Handlungsmöglichkeiten erarbeitet und Unterstützung geleistet, um sich gegen Diskriminierung zu wehren und ihre Rechte einzufordern. 42 Standorte in NRW.
Kinder- und Jugendtelefon "Nummer gegen Kummer"
Telefon: 116 111
Web: www.nummergegenkummer.de
Unterstützung bei Krisen
www.krisenchat.de bietet Unterstützung bei verschiedenen Arten von Krisen, unabhängig vom Ort und der Uhrzeit. Durch WhatsApp oder SMS ist es möglich, einfach, schnell und vertraulich professionellen Krisenberatern eine Nachricht zu senden. Diese werden innerhalb kurzer Zeit antworten und gemeinsam mit dem Ratsuchenden nach Lösungen suchen. Die Beratung ist kostenfrei und richtet sich an Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 Jahren.
EXIT-Deutschland
Ausstiegshilfen für Opfer von Hass und Extremismus im Netz
Zartbitter e. V.
Hilfe bei sexuellem Missbrauch und Gewalt im Netz
Hotline: 0800 7050 800
Online-Beratung auf www.zartbitter.de
Klicksafe - Sicher im Netz
EU-Initiative für mehr Sicherheit im Internet mit Informationen zu Cybermobbing und Möglichkeiten der Prävention.
Zusammengestellt von Patricia Sperling.