Mikrokosmos Kita
Angela. Sie war der Grund, warum eine Journalistin der New York Times vor zwei Jahren die Caritas-Kita Arche Noah in Wülfrath besuchte. Angela schaffte es auf die Titelseite einer der einflussreichsten Zeitungen der Welt. Das kleine syrische Mädchen trägt seinen Namen aus tiefer Dankbarkeit - zu Angela Merkel und zu dem Land, das ihm und seiner Familie Sicherheit und Heimat gab.
Ein Stück Heimat, das möchte auch die Kita Arche Noah sein. Für die kleine Angela und für andere Kinder mit und ohne Migrationsgeschichte. Und das ist mitunter ein enormer Kraftakt für die Erzieherinnen und Erzieher.
Der durchschnittliche Anteil der Kinder, die in ihren Familien nicht überwiegend Deutsch sprechen, liegt in den Caritas-Kitas im Erzbistum Köln bei gut einem Drittel. 4,6 Prozent der Kinder hatten im Dezember 2022 einen Fluchthintergrund.
Angelas Eltern flohen unter dramatischen Umständen 2015 aus Syrien. Ihre Tochter wurde, drei Tage nachdem sie Deutschland erreicht hatten, geboren. In Wülfrath fand ihre Mutter Maai Hjbaja schnell Anschluss, nicht zuletzt im Brückenprojekt des Familienzentrums Arche Noah des Caritasverbandes für den Kreis Mettmann. Das integrative Angebot für Flüchtlingsfamilien unterstützte beim Ankommen, half bei Anträgen, Erziehungsfragen und verschaffte Kitaplätze. Damit wurde Angela zu einem der rund 80 Kinder in der inklusiven Einrichtung.
Hier ist Abdul Prinzessin und Anita Pirat
Hier hört man Kinder in den verschiedensten Sprachen reden, man sieht sie durch die Gruppen laufen oder im Rollstuhl zu den Bauklötzen rollen, hier ist Abdul Prinzessin und Anita ein wilder Pirat. "Hier kann jeder so sein, wie er ist." Kita-Leiterin Christina Ruhrländer-Ströter kennt nicht nur jedes Kind, das durch die Kita flitzt, sondern auch die Familien, deren Hintergründe und Probleme. Die Begleitung der Familien in der Entwicklung ihrer Kinder steht im Mittelpunkt der Einrichtung. So folgt die Arche Noah dem inklusiven Auftrag gemeinsamer Erziehung, Bildung und Förderung von Kindern im Alter von vier Monaten bis zum Schuleintritt.
Vier Prozent der betreuten Mädchen und Jungen in den Kitas der Caritas haben eine Beeinträchtigung etwa in Form einer Behinderung. In einer inklusiv arbeitenden Kita wie der Arche Noah liegt der Anteil höher. "Wir bieten den betroffenen Familien spezifische Integrations- und Frühförderleistungen an", so Christina Ruhrländer-Ströter. "Unterstützungsbedarf haben aber hier viel mehr Kinder, als es zunächst scheint." Damit meint die 45-Jährige nicht nur die inklusiven Kinder oder die Kinder mit Migrationshintergrund. Viele brauchen Unterstützung im Alltag - sozial und emotional, weil sie beispielsweise aus belasteten Verhältnissen kommen.
Dass im NRW-Durchschnitt jedes vierte bis fünfte Kind an der Armutsgrenze lebt, spiegelt sich auch in den Caritas-Kitas wider, selbst im eher beschaulichen Wülfrath. Obwohl man die finanziellen Verhältnisse zu Hause nicht genau kenne, spüre man doch, dass wirtschaftliche Engpässe den Druck auf Familien erhöhten. "Das gilt besonders für Alleinerziehende", berichtet die Arche Noah-Leiterin.
Jeden Morgen der Check: Reicht das Personal?
Ein kurzer Blick in die Bewegungshalle. Christina Ruhrländer-Ströter begrüßt eine der externen Therapeutinnen, die gekommen ist, um eines der insgesamt acht inklusiven Kinder motorisch und sensorisch zu fördern. Heute wird ein neuer Rollstuhl in die Kita geliefert, in den die Familie des Kindes viel Hoffnung legt. Das Telefon klingelt. Ein Kind wird krankgemeldet. Die Leiterin schaut prüfend auf einen Zettel. "Jeden Morgen schauen wir, wie viele Kinder und wie viele Erzieherinnen und Erzieher da sind", erklärt sie. "Dann muss entschieden werden: Reicht das Personal für den geforderten Betreuungsschlüssel? Oder müssen wir die Notbetreuung ausrufen?" In diesem Fall informiert die Kita Eltern über den Personalmangel und bittet um Entlastung. Heißt: Jede Familie, die es an diesem Tag ermöglichen kann, betreut ihr Kind zu Hause. "Jeden Morgen bedeutet das für uns viel Administration - und ein mulmiges Gefühl. Doch die Eltern haben meist Verständnis." Heute passt alles. Eltern sowie Erzieherinnen und Erzieher können aufatmen.
"Viele sind schneller am Limit"
In den 667 katholischen Kitas im Erzbistum Köln betreuen über 9000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter rund 40000 Kinder. Die Stellen der Erzieherinnen und Erzieher auch tatsächlich zu besetzen, ist in den letzten Jahren problematischer geworden. Wie fast jede Kindertagesstätte kämpft auch die Arche Noah mit dem Fachkräftemangel. "Da kommt viel zusammen", sagt Christine Ruhrländer-Ströter, "Corona hat uns an den Rand des Machbaren gebracht, viele von uns waren überlastet. Die Auswirkungen spüren wir immer noch. Was ich auch beobachte: Für viele junge Mitarbeitende spielt die Work-Life-Balance eine wichtige Rolle, einige sind schneller am Limit."
Entlastung erfährt die Kita Arche Noah zurzeit durch zwei Alltagshelfer. Sie unterstützen bei der Umsetzung von Hygieneregeln, beim Küchendienst oder begleiten Ausflüge. Alltagshelfer Michael Gabrisch (42) versteht sich als Teil des Teams: "Ich sehe, wie wichtig meine Hilfe für die Erzieherinnen und Erzieher ist, die manchmal am Rande ihrer Kräfte sind. Außerdem passt es gerade perfekt zu meiner Ausbildung zum Erzieher." NRW hat das Kita-Helfer-Programm zu Corona-Zeiten aufgesetzt und nun bis Juli 2023 verlängert. Für viele Kitas ist es inzwischen zu einem wichtigen Bestandteil der immer herausfordernder werdenden Arbeit geworden. Auch in Wülfrath hofft man, dass es nicht wieder abgeschafft wird.
Frühkindliche Bildung, das Auffangen familiärer Defizite, die Vermittlung von Spracherwerb und die Stärkung sozialer Kompetenzen sind nur einige Schwerpunkte im Mikrokosmos Kita. Sind Kitas mit diesen Funktionen angesichts aktueller Ereignisse und Phänomene wie Flucht, Armut, Personalmangel und Finanzierungslücken überfordert? "Es ist alles eine Frage der personellen Ausstattung und der Qualität des Personals", so Klaus Faulhaber-Birghan. Seit mehr als 20 Jahren ist er Bereichsleiter Kinder, Jugend und Familie beim Caritasverband für den Kreis Mettmann. Er fordert eine gründliche Analyse der Fachkräftemisere und sieht die Politik in der Mitverantwortung: "Fachschulkapazitäten müssen ausgedehnt, Ausbildungswege neu gedacht werden - es braucht eine echte Fachkräfteoffensive."
Er ist Mitautor eines vom Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln herausgegebenen Positionspapiers mit konkreten Vorschlägen, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. "Rückmeldungen dazu aus der Politik gab es bisher sehr wenige", berichtet Klaus Faulhaber-Birghan. Nicht zu vergessen sei beim Fachkräftethema das Personal, das seit vielen Jahren schon sehr gute Arbeit leiste. Zur Unterstützung brauche es ein wertschätzendes Klima, eine bestmögliche Ausstattung und hohe Professionalität, zum Beispiel in Form von regelmäßiger Supervision. "Die Caritas muss sich jetzt nicht nur für Kinder, Jugendliche und Familien zur Anwältin machen, sondern auch für die Erziehenden und die Fachkräfte von morgen. Diese verdienen als wichtige erste institutionelle Entwicklungs- und Bildungsbegleiter mehr gesellschaftliche Anerkennung, auch in Form von Hochschulabschlüssen, Aufstiegs- und entsprechenden Verdienstmöglichkeiten", so Faulhaber-Birghan.
"Wer sich heute für den Erziehungsberuf entscheidet und darin bestehen will, der braucht eine bestimmte Grundhaltung und eine Überzeugung aus tiefstem Herzen", sagt Christina Ruhrländer-Ströter. "Es ist nicht nur ein Job. Es ist eine sehr herausfordernde Arbeit mit hoher sozialer Verantwortung." Eine Grundhaltung, der Wertschätzung zusteht. Und bessere Rahmenbedingungen. Denn in der Kita entwickeln sich nicht nur viele kleine Individuen, hier entwickelt sich die Zukunft unserer Gesellschaft.
Integration und Förderung von jung auf
In den katholischen Kitas im Erzbistum Köln werden rund 10000 Kinder - also ein Viertel aller Kinder - in sogenannten plusKITAs betreut. Hier spielen und lernen Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf. plusKITAs sollen die Sprachbildung fördern und an der Verbesserung von Bildungschancen mitwirken, vom Land NRW bekommen sie dafür eine zusätzliche finanzielle Förderung.
Die Kita Arche Noah in Wülfrath ist eine inklusive Kita ohne plus-Förderung. Sie gehört zu den Familienzentren NRW und ist katholisches Familienzentrum für Wülfrath. 33 Prozent der insgesamt 80 Kinder, die die Arche Noah besuchen, sind katholisch, 25 Prozent konfessionslos, 16 Prozent evangelisch, zwölf Prozent muslimischen Glaubens, zu den übrigen Kindern gibt es keine Angaben.