Familien begründen unkündbare Beziehungen
Caritas in NRW: Wie muss eine Gesellschaft beschaffen sein, die Kindern Aufmerksamkeit, Fürsorge und Sicherheit bietet?
Prof. Dr. Heinz Bude: Das müsste eine Gesellschaft sein, die die familiale Lebensform wertschätzt. Das ist keine triviale Aussage, weil es gewichtige Stimmen gibt, die die Familie eher als den Hort der Produktion gesellschaftlicher Ungleichheit ansehen als einen Hort von ehelicher oder elterlicher Gewalt oder als einen Hort von gefährlicher Intimität. Dahinter steht die Auffassung, dass Familie als eine Verbindung von Eltern und Kindern zwar notwendig ist, aber so weit wie möglich durch andere gesellschaftliche Einrichtungen ergänzt und ersetzt werden sollte: Krippen, Kindergärten, Ganztagsschulen, Quartierstreffpunkte und Nachbarschaftsnetzwerke.
Gleichzeitig ist Familie ein goldenes Thema, weil sie für die Mehrzahl der Menschen im Zentrum von Vorstellungen eines guten Lebens steht. Man will einen guten Beruf, ein schönes Zuhause, eine entspannende Freizeit, ausgiebige Ferien - und eine glückliche Familie.
Da stellt sich die Frage, was Familien eigentlich so attraktiv macht. Die Soziologie ist sich über den Begriff der Familie gar nicht so sicher. Aber eines kann man doch festhalten: Familie ist, wo Kinder sind. In dieser Formel steckt eine grundlegende Einsicht: Familien begründen unkündbare Beziehungen. Alle Beziehungen, die wir in der modernen Gesellschaft als Errungenschaft ansehen, die romantische Liebe, das entfristete Beschäftigungsverhältnis, eine treue Vereinszugehörigkeit, eine lebenslange Freundschaft, sind kündbare Beziehungen. Sie können alles kündigen, alles beenden. Aus der Kündbarkeit von sozialen Beziehungen gewinnt der moderne Mensch das Selbstverständnis seiner Autonomie.
Nur in der Familie findet sich diese Merkwürdigkeit, dass die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern unkündbar sind. Man bleibt immer Kind seiner Eltern. Die Eltern bleiben immer Eltern ihrer Kinder. Noch in der Loslösung, im Ärger, sogar im Hass bleibt man aneinander gebunden. Das ist für eine Gesellschaft der Individuen eine sehr eigentümliche Erfahrung.
So besteht eine ziemlich interessante Ambivalenz: Familie ist der Hort der Unkündbarkeit und wird deshalb skeptisch angesehen, und sie wird gleichzeitig als ein solcher gesucht. Die Skepsis gegenüber der Familie enthält gleichzeitig auch die Sehnsucht nach Familie.
Caritas in NRW: Das Versprechen vonseiten des Staates gegenüber jungen Familien, vor allem aber Berufstätigen lautet: "Wir sorgen für euch." Der Ausbau der Kitabetreuung, die schulische Übermittagsbetreuung, aber auch Unterstützung bei Pflegeleistungen, alles das soll Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlasten. Der Subtext lautet manchmal sogar: "Wir als Staat machen eigentlich genauso gut oder besser, was sonst Familie leistet." Nun kam diese Corona-Pandemie, und auf einmal waren Familien extrem gefordert. Sie waren im Grunde auf sich selbst zurückgeworfen bei der Betreuung von Kindern, mussten Homeschooling leisten, und das auch noch neben dem Homeoffice. Wie würden Sie diese Erfahrung von enormer Belastung beschreiben? Was ist da passiert?
Prof. Dr. Heinz Bude: Die Kerngruppe derer mit Kindern, die schulpflichtig sind, sind im Augenblick die um 40-Jährigen. Das sind die klassischen Millennials, eine Generation, die in den Nuller-Jahren die prägende Zeit ihrer Jugend erlebt hat. Diese Generation war immer ein bisschen unsicher im Hinblick auf ihre Lebenschancen. Die wussten nie, ob nicht ihre Lebenschancen geringer sein werden als die ihrer Eltern. Die Familiengründung war oft nicht selbstverständlich. Und jetzt taucht etwas sehr Merkwürdiges auf: Diese Generation hat die Familie unter den Bedingungen in der Pandemie, die Sie angesprochen haben, als einen Ort der ungeheuren Belastung erlebt und hat ihn gleichzeitig als einen Ort ungeheurer Verpflichtungen für sich angenommen.
Caritas in NRW: Also die Belastungen nicht nur ausgehalten, sondern auch für sich akzeptiert?
Prof. Dr. Heinz Bude: Genau. Ich würde dieser Generation jetzt einen großen Scheck des Vertrauens ausstellen. Die waren mit Homeoffice und Homeschooling oft am Rande des Nervenzusammenbruchs. Wenn dann noch die pflegebedürftigen oder jedenfalls beziehungsbedürftigen Familienangehörigen in der Großeltern-Generation zu den Kindern dazukamen und man sich dann noch vor Augen führt, dass einige von denen unter sehr schwierigen Umständen in Pflegeeinrichtungen und Kliniken gestorben sind, dann kam man ermessen, was diese Generation in ihrer Lebensmitte geleistet hat. Das ist für diese Generation die erste wirkliche Bewährungsprobe ihres Lebens gewesen. Sie haben das relativ klaglos, ziemlich sortiert und mit ruhiger Hand hinbekommen. Das ist ein starker Stabilitätsbeweis für familiale Lebensformen, der innerhalb der Pandemie offenbar wurde.
Es hat auch viele interessante Detailerfahrungen gegeben: Besser gestellte Familien kamen in der Stresssituation manchmal schlechter mit den Kindern zurecht als schlechter gestellte Familien. Familien aus unterschiedlichen Schichten haben sich da plötzlich gegenseitig in eine Beobachtungssituation gebracht. Die einen haben sich gefragt: Wieso kriegen denn eigentlich die, die nicht so gut dastehen, es irgendwie besser hin als wir, wenn es darum geht, im Lockdown so etwas wie alltägliche Normalität herzustellen? Familien haben voneinander gelernt, was nötig ist, um als Familie funktionieren zu können.
Ich habe den Eindruck, dass ein richtiger Schub des sozialen Lernens stattgefunden hat, der sich um die familiale Lebensform dreht. Natürlich hat sich auch gezeigt, dass man nicht alles, was mit Kindern zu tun hat, an die Institutionen delegieren kann. Es gibt einen Kern, der nur in der Familie zu gewinnen ist. Damit hat sich auch gezeigt, dass diese unkündbaren Beziehungen in der Familie die Verpflichtung mit sich bringen, sie anzunehmen. Und das ist auch geschehen.
Ich behaupte nicht, dass dadurch jetzt alles wunderbar geworden ist, sondern nur, dass sich hier für viele Menschen ein Stabilitätskern der Gesellschaft herausgestellt hat. Von den Familien aus haben sich Bezüge zu anderen Familien ergeben, neuartige Solidaritätsformen, weil man mit den Kindern irgendwas gemeinsam machen musste. Alles sehr, sehr wichtige Erfahrungen.
Caritas in NRW: Sind diese Erkenntnisse schon im politischen Diskurs angekommen? Sie müssten doch eigentlich eine Reflexion der Familienpolitik auslösen?
Prof. Dr. Heinz Bude: Das ist merkwürdigerweise überhaupt nicht der Fall, und zwar weder bei den Sozialdemokraten noch bei der Union, noch bei den Grünen. In der Spitzengruppe der Grünen wissen zwar alle aus persönlicher Erfahrung, wie viel Familie wert ist. Annalena Baerbock weiß, dass sie ihren Job nur hinkriegt, wenn die Familie hinter ihr steht, auch Robert Habeck weiß das von sich. Viele Leute, die da zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich richtig gefordert werden, wissen, dass sie das ohne einen familialen Rückhalt überhaupt nicht hinkriegen können. Ich höre gerade bei diesem Polit-Personal, zu dem ich etwas enger in Kontakt stehe, überhaupt keine spaßig gemeinten Äußerungen mehr über die Familie, dass man die irgendwie auflösen könne in anderen Arten von institutionellen Betreuungsverhältnissen.
Beim neu formulierten Grundsatzprogramm der CDU ist mir aufgefallen, dass die Familie fast gar keine Rolle gespielt hat. Ich habe mich gefragt, warum. Denn wenn es einen Begriff für das Konservative gibt, dann ist das die Familie. Natürlich war es für die Union sehr wichtig, gewisse Schlacken abzuwerfen - schon mit Ursula von der Leyen damals als Familienministerin. Aber die CDU müsste schon schauen, was denn programmatisch jetzt übrig geblieben ist. Würde sie mehr zum Konzept der Familie stehen, könnte das für die CDU eine Sache werden, mit der sie punkten könnte.
Caritas in NRW: Wenn wir den Blick auf die Benachteiligten richten, wussten wir schon vor Corona, dass jedes fünfte Kind armutsgefährdet ist. In der Debatte um das Bürgergeld und jetzt bei der Kindergrundsicherung wird immer gefragt, ob das Geld bei denen ankommt, die es brauchen. Nutzt die Kindergrundsicherung den Kindern, oder stecken Eltern das in den eigenen Konsum? Welche politischen Mechanismen wirken da?
Prof. Dr. Heinz Bude: Die Kernfrage lautet, was arme Kinder eigentlich arm macht. Mir erzählte vor einiger Zeit eine Grundschullehrerin in Hamburg, dass in ihrer Schulklasse die Hälfte der Kinder noch nie am Hafen gewesen ist. Die stammten aus eher ärmeren Haushalten, hatten meistens auch noch eine Zuwanderungsgeschichte. Und diese Kinder waren in Hamburg noch nie am Hafen! Das ist Armut.
Armutsbekämpfung bedeutet, dass Kinder über schulische Befassungen in die Lage gebracht werden, dass sie sozusagen die urbane Welt, in der sie leben, wahrnehmen können. Da gehört nun mal in Hamburg der Hafen dazu. Die Lehrerin hat mir wunderbar geschildert, wie eine Hafenrundfahrt für diese Kinder ein Erlebnis war, das sie nicht vergessen. Um solche Dinge geht es, wenn der Begriff Teilhabe fällt. Armut bedeutet Reduzierung von Welt.
Was also muss eine Gesellschaft fördern, ein Staat leisten, um Kindern Weltbezüge zu ermöglichen und zu erweitern? Was bedeutet es auch für den Einsatz von Zeit? Wir wissen aus der Forschung, dass Familien sozusagen bildungsstärker werden, wenn die Eltern das Gefühl haben, dass Zeit, die sie mit ihren Kindern verbringen, wertvolle Zeit ist. Das kann, wie der Ökonom Gary Becker dargelegt hat, schnell in einem Investitionsdenken über Bildung und Erziehung münden. Die Förderung von Kindern bedeutet trotzdem, dass Väter und Mütter ein Gefühl dafür bekommen, dass die Zeit, die sie mit Kindern verbringen, auch für sie selbst eine wertvolle Zeit ist.
Man muss also Erfahrungsarmut ausgleichen, die auch durch materielle Armut entsteht. Ein großes Problem ist das digitale Equipment, das heute Zeitfresser und damit Weltfresser ist. Deswegen glaube ich, dass Kindergärten und die Schulen für die Entwicklung der Kinder doch eine größere Rolle spielen als materielle Zuwendungen für Familien. Wir sehen in allen Gesellschaften, die eine positive Fertilitätspolitik betrieben haben, ein großes Vertrauen auch in die institutionelle Umwelt für Familien. Beispielsweise in Frankreich bleibt Familie selbst immer unhinterfragt, gleichzeitig ist die institutionelle Betreuung viel besser ausgebaut.
Warum kriegen wir es in Deutschland nicht so richtig hin, die Familie hochzuschätzen und ihr gleichzeitig einen institutionellen Rahmen, eine institutionelle Hilfestruktur angedeihen zu lassen, damit sie ihre Möglichkeiten wirklich entwickeln kann? Das ist nicht mit Zuwendungen materieller Art an die einzelne Familie getan. Da läuft auch diese Debatte über einen Anspruch der Kinder auf eine bestimmte materielle Zuwendung in die falsche Richtung.
Caritas in NRW: Was müsste Politik da eigentlich machen?
Prof. Dr. Heinz Bude: Sie brauchen einen starken Begriff von der nicht substituierbaren Sozialisationsleistung der Familie. In der Familie entsteht auf eine ganz selbstverständliche Weise das Gefühl von Verpflichtung, Geschwister-Verpflichtung, das Gefühl, dass man im Zweifelsfall an einem Strang ziehen muss, um gemeinsam in einer schwierigen Situation zu bestehen. Dazu kommt die Erfahrung der Elastizität von sozialen Beziehungen, die gerade in komplexen, unübersichtlichen Situationen wichtig wird. In der Familie lernt man, sich zu streiten, ohne sich zu trennen.
Aus solchen Gründen entwickeln sich in der Familien Kompetenzen, die wichtig sind für das Herstellen und Aushalten von Gesellschaft. Deshalb sollte man nicht in einen Familienzentrismus abrutschen. Natürlich werden die institutionellen Unterstützungssysteme immer wichtiger, sie dürfen aber nicht als Konkurrenz zur Familie verstanden werden.
Caritas in NRW: Was folgt daraus für eine Organisation wie die Caritas?
Prof. Dr. Heinz Bude: Die große Kompetenz der Caritas als Organisation kann darin bestehen, dass sie sich anderen Gerechtigkeits- und andere Zuwendungskriterien verpflichten kann als der Staat. Der Staat muss immer gerecht sein, die Caritas kann es sich im Sinne der Sache leisten, die Gerechtigkeit an die Solidarität zu knüpfen. Dieses Zueinander von Solidarität und Gerechtigkeit ist eigentlich der große Vorteil des deutschen Wohlfahrtssystems. Die Angewiesenheit von Gerechtigkeit auf Solidarität ist eines der Gründungsgeheimnisse der Caritas, aber ich bin nicht sicher, ob die Caritas das alles immer so weiß.
Caritas in NRW: Ganz herzlichen Dank!
Das Interview führte Markus Lahrmann.