Weniger Bürokratie, mehr Unterstützung
Familien stärken heißt für mich insbesondere, auch pflegende Angehörige zu stärken. Die Versorgung hilfsbedürftiger Menschen hängt ganz wesentlich an ihrem selbstlosen Einsatz. Doch ein Großteil bewegt sich körperlich, psychisch und finanziell am Limit.
80 Prozent der etwa fünf Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werden von Angehörigen oder Freunden betreut - teils mithilfe eines ambulanten Pflegedienstes, teils ohne professionelle Unterstützung. Fast zwei Drittel der pflegenden Angehörigen sind Frauen. Da das deutsche Pflegesystem auf einem informellen Sektor fußt, droht vielen von ihnen aufgrund von Teilzeitbeschäftigung oder sogar von Nichterwerb die (Alters-)Armut. Denn der langfristige Verdienstausfall wird nicht aufgefangen.
Wer sich zu Hause um einen pflegebedürftigen Menschen kümmert, oft sieben Tage die Woche rund um die Uhr, ist erheblichen körperlichen und psychischen Belastungen ausgesetzt. Brechen Pflegende unter der ständigen Sorge um ihre Angehörigen, der Organisation des Pflegealltags sowie dem Ringen um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zusammen, kollabiert das gesamte System. Für ein Land, in dem inzwischen fast jeder dritte Mensch 60 Jahre und älter ist, ist das ein Alarmsignal. Ein Pflegekollaps hätte desaströse Folgen für einzelne Menschen, aber auch für unsere Gesellschaft als Ganzes.
Herkulesaufgabe für die Politik
Die Ampel-Koalition steht vor einer Herkulesaufgabe. Als Erstes stünde der Abbau von Bürokratie an und der Zugang zu Informationen, Beratung und Leistungen für alle. Das wäre möglich durch die Einführung eines pflegegradunabhängigen Entlastungsbudgets, das Leistungen zusammenfasst und das jeder einfach und flexibel nutzen kann. Es muss Schluss sein mit umständlichen Antragswegen bei den Pflegekassen für jedes Hilfsangebot. Es bedarf niederschwelliger Zugänge, und es muss eine frühzeitige Beratung und Entlastung pflegender Angehöriger geben. Das kann beispielsweise durch den Aufbau kommunaler Netzwerke und gesetzliche Ansprüche auf Familienhilfen ermöglicht werden.
Außerdem bedarf es einer Anpassung der finanziellen Unterstützung pflegender Angehöriger, damit die tatsächlich zu Hause entstehenden Kosten gedeckt sind, und einer Verbesserung von Transferleistungen wie etwa Lohnersatzleistungen oder Rentenansprüchen. Voraussetzung hierfür ist die von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach angekündigte Reform der Pflegeversicherung. Sie muss aber auch wirklich kommen und mit ihr eine bessere Infrastruktur zur Entlastung der Pflegenden durch Kurzzeit-, Tages- und Nachtpflege.
Der Staat, die Gesellschaft - also wir alle - müssen bereit sein, zu erkennen, wie wertvoll häusliche Pflege ist - im doppelten Sinn des Wortes. Wer heute nicht umfassend in die Pflege investiert, riskiert, dass die Schwächsten künftig noch mehr an der Rand gedrängt werden.
Investiert werden muss auch in den Ausbau der Digitalisierung insbesondere im Bereich des Ambient Assisted Living (AAL). Dabei geht es um Assistenzsysteme, die Menschen so lange wie möglich das Leben in den eigenen vier Wänden ermöglichen. AAL-Systeme werden häufig in den Bereichen Sicherheit und Komfort eingesetzt - von der Aufstehhilfe bis hin zur Sturzerkennung im Bad.
Wir brauchen eine Reform des Pflegesystems, die den Namen Reform wirklich verdient: weniger Bürokratie und mehr Unterstützung für die häusliche Pflege, sodass die pflegenden Angehörigen nicht länger von Armut sowie körperlichen und psychischen Erkrankungen bedroht sind. Das müssen wir uns als Gesellschaft leisten können und wollen, auch im ureigensten Interesse jeder und jedes Einzelnen. Gute Pflege - das wollen wir doch alle. Oder?