Ruhe vor dem großen Ansturm
Von einem großen Ansturm von Geflüchteten aus der Ukraine merkt Michael Rößner in der Caritas Familienberatung Aachen nichts. Noch nicht. Dass er kommen wird, ist für den Leiter der Beratungsstelle in Trägerschaft des Caritasverbandes für das Bistum Aachen sicher. "Das war bei der Corona-Pandemie nicht anders. Da war es zu Anfang ganz ruhig, weil die Menschen damit beschäftigt waren, mit der neuen Situation zurechtzukommen. Unsere Erfahrung sagt: Zum frühen Zeitpunkt einer Krise haben wir damit relativ wenig zu tun."
Sicherheit und geregelter Alltag
Für Claudia Radermacher-Lamberty ist das verständlich und leicht erklärbar. "Die Geflüchteten müssen erst einmal organisatorische Dinge klären. Es sind vor allem Frauen mit Kindern geflüchtet. Sie müssen ihren Alltag strukturieren, müssen sich zurechtfinden mit der Sprache, mit den Ämtern, mit Schule und Kita, mit der Wohnung und mit der Suche nach einem Job", sagt die Psychologin. Geflüchtete befänden sich in einem Schockzustand, zumal dann, wenn sie Kriegshandlungen erlebt oder deren Folgen gesehen hätten. "Um aus diesem Schock herauszukommen, brauchen sie Sicherheit. Eine erste Sicherheit bekommen sie dadurch, dass sie einen geregelten Alltag entwickeln können mit wiederkehrenden und vorhersehbaren Abläufen und Strukturen. Sie erleben, dass sie wieder etwas kontrollieren können, was vorher nicht möglich war." Die anderen Sorgen bleiben natürlich im Hinterkopf. "Im Moment sind aber andere Dinge wichtig, die so viel Struktur geben, bis die belastenden Erlebnisse ein Thema sein können. Deshalb werden wir zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht um Beratung gebeten", sagt Claudia Radermacher-Lamberty.
Spannungen und Konfliktpotenzial
Vorbereitet ist die Beratungsstelle. Sie hat einen Flyer in ukrainischer Sprache produzieren lassen, der das Angebot der Beratung vorstellt. Es reicht von Kindern und Jugendlichen über die Eltern bis hin zu Fachkräften zum Beispiel von Kindertagesstätten und Schulen. Dass es auch dort zu erhöhtem Beratungsbedarf kommen wird, ist für Michael Rößner absehbar. "Wir erwarten Beratungsbedarf vor allem in Einrichtungen, wo russischstämmige junge Leute auf Geflüchtete aus der Ukraine treffen. Je nachdem, wie die russischstämmigen Jugendlichen zum Krieg stehen, birgt das erhebliches Konfliktpotenzial", sagt er. Schon jetzt zeige sich, dass es in Tageseinrichtungen für Kinder viele Fragen gebe, wie man mit Kindern über den Krieg sprechen könne, sagt Claudia Radermacher-Lamberty. Die Psychologin hat für die Homepage der Caritas Familienberatung einige Tipps zusammengestellt. "Ich weiß auch, dass die Kindergartenträger vieles zusammengetragen haben, was den Einrichtungen hilfreich sein kann", sagt sie.
Zu einem späteren Zeitpunkt erwartet die Psychologin, dass auch traumatisierte Menschen die Beratungsstelle aufsuchen werden. "Wir rechnen damit, wenn sich diese im Alltag eingerichtet haben, sich in Sicherheit fühlen. Erst dann werden sich die belastenden Erlebnisse und Erfahrungen stärker wieder ins Bewusstsein drängen." Claudia Radermacher-Lamberty hat mehrfach mit Geflüchteten gearbeitet. Aus dieser Arbeit weiß sie, dass Traumata nicht bei jedem Menschen die gleichen Auswirkungen haben. "Das ist von der traumatischen Situation abhängig und von Person zu Person unterschiedlich", sagt sie. Jeder Mensch habe individuelle Schutzfaktoren. Das gelte auch für Kinder. So werde beispielsweise ein Kind mit vielen sicheren Bindungserfahrungen die Folgen der Traumatisierung besser verarbeiten können. Auch wenn für das Kind wenigstens eine verlässliche und vertraute Bezugs- oder Bindungsperson da sein könne, helfe dies sehr bei der Bewältigung.
Verschüttete Erinnerungen
Michael Rößner glaubt, dass es für Geflüchtete wichtig sei, auf Menschen zu treffen, die zuhören. Aber auch bei denen, die zuhören, könnten irgendwann Überforderungen auftreten. Daher ist der Leiter der Caritas Familienberatung sicher, dass die Beratungsstellen in absehbarer Zeit nicht nur Geflüchtete sehen werden, sondern auch diejenigen, die ihnen helfen. Er erwartet vor allem, dass darunter Menschen sein werden, die bereitwillig Teile ihrer Wohnung für Geflüchtete zur Verfügung gestellt hätten. "Diese aufnehmenden Familien werden seitens der Geflüchteten der Ukraine zunächst eine große Dankbarkeit erleben. Irgendwann kommt bei den Geflüchteten der Punkt, wo viel geweint wird, weil auf einmal viele Fragen bei ihnen hochkommen: Lebt mein Mann noch? Wie geht es der kranken Mutter? Das sind dann Punkte, wo der Trost der aufnehmenden Familie alleine nicht reicht. Es wäre gut, wenn sich in solchen Situationen die Familien auch Rat suchen würden." Und Claudia Radermacher-Lamberty ergänzt: "Auch diejenigen, die helfen, müssen sich schützen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben."
Und eine weitere Herausforderung werde zunehmen, ist sich Rößner sicher: Bei alten Menschen, die selbst noch den Krieg erlebt hätten, wühle der Krieg in der Ukraine nun Erinnerungen auf, die jahrelang verschüttet gewesen seien, über die sie nie gesprochen hätten. Damit umzugehen, sei für Bezugspersonen, zum Beispiel die eigene Familie oder Pflegekräfte, nicht einfach. Auch diese Personen sollten nicht zögern, sich professionelle Hilfe zu holen, wenn die Belastungen zu groß würden.
Dr. Andreas Wittrahm leitet den Bereich Facharbeit und Sozialpolitik in der Geschäftsstelle des Caritasverbandes für das Bistum Aachen. Er hat vor allem den politischen Blick auf die Beratungsstellen, zumal er Trägervertreter für die sechs katholischen Beratungsstellen im Bistum Aachen ist, die in Trägerschaft des Vereins zur Förderung der Caritasarbeit im Bistum Aachen (VfC) und des Diözesan-Caritasverbandes sind. Für ihn zeichnet sich schon jetzt ab, dass die Politik die Beratungsstellen wird besser ausstatten müssen. Ende April saß er mit Mitarbeitenden der Beratungsstelle Monschau und Vertretern von Schulen zusammen. Die Schulvertreter berichteten, dass durch die Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine auch Konflikte in die Schulen hineingetragen würden. "Allein da zeichnet sich ab: Es entsteht ein größerer Beratungsbedarf, den wir mit den vorhandenen Kräften nicht werden decken können." Und eine ganz andere Baustelle tut sich auf. Um Menschen aus der Ukraine fachlich gut beraten zu können, wird es notwendig werden, ausreichend Übersetzerinnen und Übersetzer zur Verfügung zu haben. "Die haben wir nicht. Und wir können für diese Beratungsgespräche nicht auf ehrenamtliche Dolmetscher zurückgreifen, weil da bei den Übersetzern eine hohe Fachlichkeit gegeben sein muss. Die Mitarbeitenden der Beratungsstellen haben deutlich gesagt, dass da etwas geschehen muss", sagt Wittrahm.
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