"Ein echter Kraftakt und Spagat"
Weg waren die Erinnerungen an die schweren Jahre der Kindheit nie. Aber seit dem 24. Februar sind sie lebendiger denn je bei Anna-Maria Rymer. Sie ist Kriegskind, 1931 geboren, aufgewachsen in Duisburg, musste in ihrer Schulzeit bei Luftalarm immer wieder in den Keller, wurde erst mit Mutter und Geschwistern in die Eifel verschickt, dann zurück, und als alles immer schlimmer wurde, in den Osten. "Eine schöne Kindheit war das nicht", sagt Anna-Maria Rymer, die heute im Altenzentrum Clara-Stift im Lüdinghauser Ortsteil Seppenrade lebt.
Wenn sie die Bilder aus der Ukraine sieht, fragt sie sich: "Warum muss das alles wiederkommen?" Sie habe sich nicht vorstellen können, dass das noch einmal passiere. Besonders zu schaffen machen ihr die Bilder der flüchtenden Frauen und Kinder. Nur mit dem Handwagen musste auch sie am Kriegsende vor den Russen fliehen.
Mitarbeitende brauchen Fortbildung zum Umgang mit Traumata
Wie Anna-Maria Rymer geht es auch anderen der 62 Bewohnerinnen und Bewohner im Clara-Stift. Die älteste ist gerade 100 geworden, die meisten sind zwischen 80 und 95 Jahren alt. Sie haben den Zweiten Weltkrieg oder zumindest die Notzeit danach bewusst erlebt. Eine schwierige Situation für die Mitarbeitenden, die gerade nach zwei Jahren Pause zu Weiberfastnacht den Karneval vorbereitet hatten, auf den die alten Menschen sich freuten. "Es war ein echter Kraftakt und ein Spagat", sagt Klaudia Henke-Dammeyer, die den Sozialen Dienst leitet. Trotzdem Karneval? Nach kurzem Erschrecken am 24. Februar fiel die Entscheidung dafür, und Anna-Maria Rymer bestätigt den Eindruck von Klaudia Henke-Dammeyer: "Es war gut, dass wir doch noch gefeiert haben."
Aus vielen Altenheimen und ambulanten Diensten erreichte den Diözesan-Caritasverband Münster die Botschaft, dass Traumata der alten Menschen wieder aufbrechen, sie Angst haben, noch einmal den Schrecken eines Krieges erleben zu müssen. Vor allem sei das bei denen der Fall gewesen, die schon kognitiv eingeschränkt seien und so die Informationen nur unzureichend verarbeiten könnten, erklärt Anne Eckert, Referatsleiterin Altenhilfe und Sozialstationen. Kurzfristig sei deshalb eine Fortbildung zum Thema "Alter, Trauma und Re-Traumatisierung von alten Menschen durch die Kriegsberichterstattung" organisiert worden.
Das Clara-Stift hat die Referentin vorab in einer eigenen Fortbildung genutzt. Was sehr hilfreich gewesen sei, so Klaudia Henke-Dammeyer. Um die Situation aufzufangen, bot sie gleich in den ersten Kriegstagen mit ihrem Team Gesprächsrunden an: "Wir haben das nicht totgeschwiegen." Als sehr hilfreich haben sich auch die wöchentlichen Friedensgebete in der Kapelle erwiesen. Anna-Maria Rymer hat dafür mit zwei Mitbewohnerinnen ein Friedensgebet formuliert, das mit dem Satz schließt: "Wir wünschen uns Frieden für die Welt."
Die gemeinsame Arbeit am Friedensgebet hat auch Anna-Maria Rymer das gute Gefühl gegeben, in der Hilflosigkeit etwas machen zu können, was sie mit den Menschen in der Ukraine verbindet. Morgens schaut sie die Nachrichten, aber abends nicht mehr. Im Moment, sagt sie, sei ihre Gemütslage etwas tief. "Das ist das Gleiche wie damals", und das gehe einem innerlich sehr nahe.
Die Mitarbeitenden des Clara-Stifts versuchen, diese Gemütslagen im Gespräch aufzufangen, eine neue Belastung neben der nach wie vor nicht überstandenen Pandemie. Anfang April gab es einen Omikron-Ausbruch mit elf infizierten Bewohnenden und sieben Mitarbeitenden. Auch deshalb sei es richtig gewesen zu feiern. "Das ganze Schwere ist da, aber auch die Freude im Leben", fasst Anna-Maria Rymer es zusammen.
Frieden
Frieden gibt den Menschen Sicherheit,
ein gutes Lebensgefühl und Miteinander.
Kinder haben ein Zuhause,
es gibt Arbeit;
ältere Menschen gestalten ihren Lebensabend.
So wünscht es sich ein jeder von uns,
doch wir müssen darauf achten,
dass der Frieden für immer bestehen bleibt.
Das ist unsere wichtigste Aufgabe.
Wir wünschen uns Sicherheit,
Geborgenheit und Barmherzigkeit.
Wir wünschen uns Frieden für die Welt.
Hedwig Limke, Anna-Maria Rymer, Waltraud Jany
Friedensgebet im Altenzentrum Clara-Stift in Lüdinghausen-Seppenrade, formuliert zu Beginn des Ukraine-Kriegs