"Menschen wissen nicht mehr, wie sie sich ernähren sollen"
Caritas in NRW Was genau war der Anlass, mit #IchBinArmutsbetroffen an die Öffentlichkeit zu gehen?
Anni W.: Ich habe einen Artikel gelesen, dessen Inhalt mich getroffen hat. Da stand: Wer mit Hartz IV nicht auskomme, könne lediglich nicht mit Geld umgehen. Diese ständige falsche Darstellung von armutsbetroffenen Menschen muss endlich enden! Und darum wollte ich von uns erzählen und zeigen, wer wir wirklich sind.
Caritas in NRW: Die Resonanz war und ist bis heute überwältigend. Hat Sie das überrascht?
Anni W.: Ja, mit so vielen Menschen habe ich nicht gerechnet. Mittlerweile hat der Hashtag 400000 Tweets erreicht. Unfassbar viele Menschen berichten. Ich bin immer noch erstaunt über die Resonanz und unglaublich froh darüber.
Caritas in NRW: Was ist aus Ihrer Sicht jetzt notwendig, damit das Thema nicht verpufft und die Politik endlich reagiert?
Anni W.: Wir brauchen Unterstützung in Form von solidarischen Menschen, die mit uns auf die Straße gehen. Es geht um Reichweite. Twitter ist eine Sache, aber häufig erkrankte Menschen, Menschen ohne Zugang zu Mobilität, Menschen, die nur Scham kennen - ihnen fällt es schwer, sich ablichten zu lassen oder eben Aktionsorte überhaupt zu erreichen. Wir müssen in der breiten Masse ankommen. Und unsere Petition ebenso.
Caritas in NRW: Was muss denn die Politik jetzt dringend tun, um die Situation der armutsbetroffenen Menschen zu verbessern?
Anni W.: Die Regelsätze und Renten müssen umgehend rauf! Der Mindestlohn wird ebenfalls nicht ausreichen. Es muss sich dringend etwas tun. Menschen in Deutschland wissen nicht mehr, wie sie sich ernähren sollen. Und das ist keine Übertreibung, das ist traurige Realität.
Caritas in NRW: Warum ist es so schwierig, die breite Bevölkerung für Ihr Thema und die Situation Armutsbetroffener zu sensibilisieren?
Anni W.: Nach jahrzehntelanger Berichterstattung über Armutsbetroffene, auch von Politikern, wundert mich kaum noch etwas. Das Bild des Hartzers, das zum Beispiel RTL 2 vermittelt, hat sich stetig und tief eingeprägt. Es wurde befeuert von einschlägigen Medien. Die Mär von der Leistungsgesellschaft hält sich wacker. 13,8 Millionen Menschen sind armutsbetroffen. Das ist keine Mär, das ist Realität und muss gesehen werden.
Caritas in NRW: Hat sich infolge des Hashtags für Sie persönlich etwas verändert?
Anni W.: An meiner persönlichen Situation an sich hat sich nichts verändert. Aber ich fühle mich wahrgenommen. Das ist so viel wert, dass ich es kaum jemandem beschreiben kann, der nicht selbst betroffen ist. Gesehen zu werden, fördert Zusammenschlüsse. Die Bewegung, die entstanden ist, vereint Menschen aller Couleur und Schichten. Das ist einfach wunderbar zu sehen und zu erleben.
Das Interview führte Markus Harmann.
Kontakt: https://twitter.com/Finkulasa