Armutsbekämpfung in Krisenzeiten
Caritas in NRW: Die Inflation galoppiert, Lebensmittel werden teurer, das spürt jeder. Die Benzinpreise sind gestiegen, die Energiekosten steigen - und das trifft die Armen ganz besonders. Was muss jetzt geschehen, damit es nicht zu sozialen Verwerfungen kommt?
Marco Schmitz: Wir müssen unterscheiden, was das Land und was der Bund machen muss, wo die Ampel reagieren muss. Wenn vor allem Energie teurer wird, steigen die Wohnkosten. Wohnen darf kein Luxus werden. Wenn im Winter für viele Haushalte die Nebenkostenabrechnung kommt, darf es nicht zu einer Kündigungswelle kommen, weil die Mieter die Nebenkosten nicht mehr bezahlen können. Nur das Wohngeld zu erhöhen, ist aus meiner Sicht keine Lösung. Die Krise trifft Familien mit Kindern, eine breite Schicht der Gesellschaft.
Caritas in NRW: Sie schieben es auf den Bund?
Marco Schmitz: Wir werden hier in Nordrhein-Westfalen niemanden alleinlassen! Wir müssen mehr bauen, weil neben den Energiekosten auch die Mieten in Nordrhein-Westfalen gerade in den Ballungsstädten sehr hoch sind. Selbst Leute mit einem ganz normalen Einkommen müssen sich erlauben können zu wohnen.
Josef Neumann: Es braucht sicherlich Hilfspakete, damit Menschen über die Runden kommen. Aber wir befinden uns in einer Situation, in der man grundsätzlich überlegen muss, wie es überhaupt weitergehen kann. Aktuell leben 13 Millionen Menschen in Deutschland in Armut, es war immer klar, 20 Prozent der Kinder leben in Armut. Die Gesellschaft hat allzu lange das Thema Armut wie eine Nebenbaustelle betrachtet: "Das gibt es, aber, na ja, irgendwie wird denen ja einer helfen." Jetzt stellen wir fest, dass aufgrund der aktuellen Situation eine breite Schicht der Gesellschaft in eine Notlage kommen könnte. Es geht um die Zukunft des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Neben Inflation und steigenden Kosten steigen die Steuereinnahmen. Trotz Krise nimmt der Staat so viel Geld ein wie noch nie! Wir müssen also über Umverteilung sprechen. Ich bin davon überzeugt, dass wir jetzt in eine gesellschaftliche Debatte geraten, die viel tiefgreifender sein wird, als wir sie seit 1949 jemals in der Bundesrepublik kannten.
Marco Schmitz: Natürlich geht die soziale Krise über Wohnraummangel hinaus. In der Corona-Pandemie haben wir gemerkt, dass Menschen benachteiligt sind und wir uns um sie kümmern müssen. Ich hoffe, dass es zu einer gesellschaftlichen Debatte kommt und nicht zu reinen Protesten wie bei den Gelbwesten-Protesten in Frankreich, wo Menschen auf Konfrontation setzen. Wir haben jetzt drei, vier sehr schwierige Jahre vor uns. Es ist Aufgabe von Politik, Teilhabe zu ermöglichen. Die Sozialausgaben steigen Jahr für Jahr, es geht darum, das Geld richtig und effizient einzusetzen.
Michaela Hofmann: Viele Armutsbetroffene fühlen sich nicht gehört, fühlen sich in ihrer Lebenssituation überhaupt nicht verstanden, fühlen sich abgewertet. Klar brauchen sie auch mehr Geld, aber was sie eigentlich am meisten wollen, ist …
Josef Neumann: … Respekt …,
Marco Schmitz: … ist Wertschätzung!
Michaela Hofmann: Sie erleben Missachtung im Jobcenter, verschlossene Türen und werden abgewiesen und alleingelassen.
Marco Schmitz: CDU und Grüne hier in NRW haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir eine Landesarmutskonferenz in Nordrhein-Westfalen abhalten wollen, zu der nicht nur die Verbände und die Wohlfahrtspflege eingeladen werden, sondern auch Betroffene mitgenommen werden. Wertschätzung gegenüber den Menschen ist wichtig, das eint uns Sozialpolitiker über Parteigrenzen hinweg.
Caritas in NRW: Was soll eine Landesarmutskonferenz konkret bewirken? Welche Spielräume haben Sie in der Landespolitik, um soziale Teilhabe zu ermöglichen?
Marco Schmitz: Sie soll dieses Jahr stattfinden, und auch die Betroffenen werden mit eingeladen. Am Anfang wird eine Bestandsaufnahme gemacht werden. Alle Betroffenen zusammenzuholen und zu befragen, welche Hilfen sie brauchen. Ob im zweijährlichen Rhythmus oder alle vier Jahre - so detailliert sind wir im Koalitionsvertrag nicht vorgegangen -, aber das soll eine dauerhafte Institution werden, die in Zusammenarbeit mit den Betroffenen uns Politikern die notwendigen Informationen gibt …
Caritas in NRW: Welche Spielräume haben Sie denn in der Landespolitik?
Marco Schmitz: Das hängt von der Steuerschätzung im Oktober oder November ab. Wir haben uns bewusst dagegen entschieden, Werte oder Beträge in den Koalitionsvertrag zu schreiben. Das Ziel, Teilhabe zu ermöglichen auch für benachteiligte Menschen - auch aus dem Bereich der Behindertenhilfe, aus der Obdachlosenhilfe -, ist formuliert, um klar darzustellen, dass keiner vergessen wird. Schon in der letzten Legislaturperiode zusammen mit der FDP haben wir da viel erreicht, was manchmal auch schwierig war, das wird jetzt mit den grünen Koalitionspartnern fortgesetzt. Im Sozialbereich arbeitet man oft eher mit dem Koalitionspartner gegen die Finanzpolitiker der beiden Parteien (schmunzelt). Wenn der Berliner Finanzminister signalisiert, im Bereich der Arbeitsmarktförderung zu kürzen - also die Paragrafen 16e und 16i des Teilhabechancengesetzes …
Josef Neumann: Dafür haben wir jahrelang gekämpft …
Marco Schmitz: … Ja, genau! Es geht um die Unterstützung von Langzeitarbeitslosen, wieder in den Job zu kommen … Dann höre ich so eine Nachricht aus Berlin, hier zu kürzen wäre eine Katastrophe. Das wird das Land NRW auch nicht kompensieren können, so viel Geld haben wir gar nicht. Wir werden sicherlich in Arbeitsmarktprogramme investieren, auch im Bereich ausbeuterische Arbeit - Stichwort Fleischindustrie und Erntehelfer.
Caritas in NRW: Reichen diese Maßnahmen aus?
Marco Schmitz: Nein. Aber wir haben den Koalitionsvertrag geschrieben, als uns das Ausmaß der Energiekrise und der Inflation noch nicht klar war.
Josef Neumann: Ich würde nur vor der großen Erwartung warnen, dass eine Armutskonferenz die Armut bekämpfen wird. Wenn ich an die Ruhrgebietskonferenz der letzten fünf Jahre denke und am Ende des Tages frage, was da passiert ist, fällt mir nicht allzu viel als Ergebnis ein. Eine Bestandsaufnahme in einer Armutskonferenz kann man ja durchaus machen, aber es ist ja nicht so, dass es uns an Daten, Fakten oder Zahlen mangelt. Die haben wir seit langer Zeit. Viele Kommunen machen Armutsberichte oder Armutskonferenzen - und nach einem halben Jahr treffen sich alle und gucken sich groß an. Mehr Beteiligung wird nicht dazu führen, dass wir Armut erfolgreicher bekämpfen. Wir wissen schon relativ viel. In den Sozialberichten NRW steht ja alles drin, was man wissen muss. Aber wir müssen davon ausgehen, dass wir in eine völlig neue Struktur des Sozialen in unserem Land kommen werden. Andere Länder in Europa sind jetzt schon mehr getroffen. Im EU-Land Polen liegt die Inflationsquote aktuell bei 16 Prozent. Dort sind Einkommen und Renten viel niedriger. Deshalb müssen wir grundsätzlich bei der Frage, wie wir helfen, sehr konkrete, klare Schritte benennen. Es ist ein Warnsignal, wenn sehr viele Menschen sagen, dass sie sich in ihren Anliegen nicht verstanden fühlen. Ich habe die Befürchtung, dass breitere Gruppen in eine soziale Hilfenotwendigkeit geraten werden. Darauf müssen wir schnell unsere Sozialstaatssystematik einstellen. Wenn wegen der Inflation die Zinsen steigen, werden viele Bauherren relativ bald Probleme mit der Anschlussfinanzierung bekommen. Das betrifft dann auch den Facharbeiter aus dem Mittelstand. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir neue Probleme mit den Mitteln, über die wir heute verfügen, nicht so einfach werden klären können.
Caritas in NRW: Dieses Land hat sich anscheinend in der Vergangenheit an die Armut
gewöhnt. Die Politik hat die steigende Armutsrisikoquote in jeder Legislaturperiode zur Kenntnis genommen, die Medien haben eine Woche den Aufschrei transportiert - und danach passierte nicht viel?
Marco Schmitz: Wir dürfen uns nicht an einen Armutssockel gewöhnen. Unsere Aufgabe als Sozialpolitiker ist es, den Menschen politisch zu helfen. In einer sozialen Marktwirtschaft muss der, der die Hilfe benötigt, sie auch bekommen und darf nicht vor verschlossenen Türen stehen oder als Bittsteller behandelt werden. Soziale Marktwirtschaft bedeutet, dass diejenigen, die nicht am Leben teilhaben können, unterstützt werden. Wenn das immer mehr Menschen werden, wird es natürlich problematisch, weil es in der Summe teurer wird. Wir werden Armut nie ganz verhindern können. Armut hat es immer gegeben, und Armut wird es auch immer geben. Es können nicht immer alle oben sein. Aber diejenigen, die von Armut betroffen oder bedroht sind, denen müssen wir helfen, dass sie gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.
Josef Neumann: Mir geht es gar nicht darum, dass alle oben sind, sondern mir geht es darum, dass alle ihren Lebensalltag vernünftig bewältigen können. Wir haben ein Millionenheer von Menschen, die jeden Tag arbeiten gehen und am Ende des Monats feststellen: "Davon kann ich nicht leben." Selbst die Erhöhung des Mindestlohns, für die wir lange Zeit ja gekämpft haben, wird angesichts der jetzigen Situation aufgefressen. Diese Ungerechtigkeit ist nicht durch Einzelmaßnahmen zu beseitigen, da muss der Staat eingreifen. In Wahlkreisen bei mir im Bergischen Land lag die Wahlbeteiligung stellenweise weit unter 30 Prozent. Da haben viele offenbar beschlossen, dass dieser Staat anscheinend nicht mehr ihr Staat ist. Da braucht es eine Korrektur. Ein Entlastungspaket - jeder kriegt irgendwie 200 Euro, und damit ist die Lage erledigt - reicht nicht. Jetzt müssen diese grundlegenden Strukturreformen kommen. Wenn die Krise so weitergeht, kann es sein, dass sich die gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung weltweit ändert. Dass auch in einem dieser reichen Länder wie Deutschland plötzlich viel mehr Menschen auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Diese Debatte müssen wir als Sozialpolitiker führen. Armut muss genauso auf die Agenda kommen wie Klima, wie Krieg oder wie Energieversorgung.
Michaela Hofmann: Nicht alle haben die gleichen Probleme! Wir erleben zurzeit bei vielen Menschen aus der Gruppe der SGB-II-Anspruchsberechtigten eine enorme Verunsicherung und Zukunftsangst. Weil es bei ihnen bisher schon kaum gereicht hat und jetzt die Preiserhöhungen kommen.
Josef Neumann: Da muss man sehr differenziert schauen, welche Hilfsangebote notwendig sind. Die werden ohne Erhöhung der Transferleistungen nicht leben können. Da kämpfen Menschen ums Überleben. Dass die Tafeln überlaufen sind, sind Warnsignale.
Michaela Hofmann: Almosen von den Tafeln können doch nicht die Lösung sein! Die Armen fragen sich: Warum wird der Regelsatz nicht erhöht? Wieso wird uns nicht mehr Geld für unser Portemonnaie zugestanden, damit wir selber einkaufen gehen können? Tafeln sind doch keine Alternative. Sie sind ein Parallelsystem und sind Armutsfürsorge. Sie grenzen Menschen aus der Gesellschaft aus und verweisen sie auf Almosen. Tafeln sind keine Organisation, die ein Sozialstaat unterstützen kann, das sage ich auch mit kritischem Blick auf den Koalitionsvertrag von CDU und Grünen. Tafeln sind eine ehrenamtliche Unterstützungsleistung, die aus Spenden gespeist wird und den Zweck verfolgt, Lebensmittel zu retten. Dies darf innerhalb des Sozialstaates nicht genauso gesehen und finanziert werden wie ein Beratungsangebot eines Wohlfahrtsverbandes. Die Beratungsangebote der Wohlfahrtsverbände handeln nach dem Grundsatz der Hilfe zur Selbsthilfe. Dazu unterstützen sie die Menschen, die ihnen zustehenden Leistungen zu beantragen.
Und wenn Sie den Sozialbericht schon ansprechen: Im letzten Bericht stand schon, dass bereits 2018 über 20 Prozent der Bevölkerung mehr als 40 Prozent ihres Nettoeinkommens für Wohnen und für Energie ausgegeben haben. Da spricht man zu Recht von Wohnkostenüberlastung. Jetzt werden es noch mehr Menschen. Da braucht es kurzfristige Lösungen!
Die Kommunen könnten die Regeln zur Angemessenheit der Wohnkosten aussetzen, das nimmt den Druck auf die Hartz-IV-Bezieher. Für diejenigen, die Einkommen haben, aber dennoch arm sind, sind Beratungsmöglichkeiten sicherzustellen, wie die Allgemeine Sozialberatung, die Schuldnerberatung, der Stromspar-Check. Vielleicht kann man auch einen Fonds einrichten, der Energieschulden übernimmt, oder das Sozialministerium schließt am runden Tisch Vereinbarungen mit den Energieversorgern und Wohnungsbaugesellschaften. All denjenigen zu kündigen, die gerade die Nebenkostenabrechnung nicht zahlen können, kann nicht die Lösung sein. Das wäre auch eine große Belastung für die Kommunen, da diese für die Wohnungssicherung zuständig sind und jede Menge Räumungsklagen bearbeiten müssten.
Marco Schmitz: Wir haben ja extra die Sozialberater zusammen mit den Wohnungsunternehmen zusammengebracht, um frühzeitig zu helfen und Wohnungsverlust zu vermeiden. Denn es ist immens schwierig, wenn erst jemand obdachlos oder wohnungslos geworden ist, wieder an eine Wohnung zu kommen.
Michaela Hofmann: Genau! Die Sozialarbeiter müssen aber auch wissen, wo sie die Leute hinschicken können, wenn ihnen das Geld fehlt. Darlehen nutzen in diesem Kontext nichts. Hier benötigen die Haushalte Zuschüsse. Alles andere ist nur ein Aufschub von Schulden. Ich möchte daran erinnern, dass die Haushalte nicht mehr Energie verbraucht haben, sondern die Preise gestiegen sind. Das heißt, die Menschen geraten unverschuldet in Not.
Caritas in NRW: Wenn wir über Armut reden, müssen wir dann auch über Reichtum reden? Und wie?
Josef Neumann: Es gibt in der Krise nicht nur Verlierer. Energiekonzerne, große Wohnungskonzerne - viele stehen sehr gut da und machen Gewinne wie nie zuvor und diese Gewinne muss der Staat zusätzlich abschöpfen. Er muss sie zusätzlich einsetzen können im Rahmen der sozialpolitischen Maßnahmen, das ist gar keine Frage. Eine Debatte um Steuerentlastung ist grundverkehrt, denn denjenigen, die wenig verdienen, nützen Steuerentlastungen überhaupt nichts. Wo es so viele Krisenprofiteure gibt, müssten zusätzliche Steuern eigentlich selbstverständlich sein wie in anderen europäischen Ländern ja auch. Teilhabe bedeutet, dass die, die sehr viel Gewinne machen, einen Beitrag leisten, um Sozialpolitik zu finanzieren.
Marco Schmitz: Man muss grundsätzlich zwischen Unternehmenssteuern und privaten Steuern unterscheiden. Ich bin kein Freund von Übergewinnsteuern. Denn Unternehmen, die sehr viel verdienen, tun das, weil sie einen wirtschaftlichen Erfolg gehabt haben. Sie zahlen ja ihre Steuern, wenn sie Mehreinnahmen haben. Dann den Gewinn noch zusätzlich zu besteuern ist aus meiner Sicht falsch, weil das unternehmerische Risiko ja trotz alledem besteht.
Auch im Bereich der privaten Steuern ist es so, dass jeder seinen Beitrag leistet. Natürlich gibt es Menschen, die auch jetzt in dieser Phase mehr Geld verdienen, aber ich würde deswegen nicht einen höheren Steuersatz einführen oder eine Reichensteuer, eine Millionärssteuer.
Josef Neumann: Es ist ja schon merkwürdig, dass gerade die Energiekonzerne den Gewinn ums zwei-, drei-, vier-, fünffache gesteigert haben, während die Haushalte unter den hohen Kosten ächzen. Wir tun so, als sei das normal, während Millionen andere kaum in der Lage sind ihre Heizung zu bezahlen. Ich glaube, es ist eine staatliche Verpflichtung, diese Debatte zu führen, ob es nicht gerechtfertigt ist, diese Gewinne mit Steuern abzuschöpfen.
Marco Schmitz: Beim Energieunternehmen Uniper muss der Staat einsteigen, damit es nicht kollabiert und der Energiemarkt insgesamt Schaden nimmt. Da kann man nicht davon sprechen, dass die große Gewinne haben.
Josef Neumann: Es gibt aber andere, die herausragende Gewinne haben. Ich bin überzeugt, dass die Europäische Union die Frage anpacken wird, wie man die europäischen Konzerne im Energiebereich an die Nase packen kann. Es kann doch nicht sein, dass wir darüber diskutieren, ob wir 200 Euro Zuschuss für die Familie Müller in Köln-Chorweiler finanzieren und gleichzeitig sagt ein deutscher Energiekonzern, er habe den größten Gewinn aller Zeiten gemacht.
Marco Schmitz: Es ist nicht ganz so einfach. Die meisten Kommunen sind an Energieversorgern über ihre Stadtwerke beteiligt und profitieren von den Gewinnen. Aber irgendwoher muss in der Tat das Geld für sozialen Ausgleich kommen. Es kann nicht die Lösung sein, ausschließlich Schulden zu machen. Die Diskussion über die Einhaltung der Schuldenbremse im nächsten Jahr wird auch nochmal spannend. Zumal der Bund Schulden jetzt auch nicht mehr zu null Prozent finanzieren kann, sondern wieder Zinsen zahlen muss.
Josef Neumann: Wenn ich an meine Stadt Solingen oder an Wuppertal denke, die Milliarden Schulden haben, wenn da zwei, drei Prozent draufkommen, haben wir die Debatte um freiwillige Leistungen, und zwar auf allen Ebenen.
Insofern muss man in so einer Situation sehr deutlich schauen, wer ist Verlierer, wer sind die Gewinner. Und wie kann man auch die Krisengewinner an den gesellschaftlichen Kosten beteiligen. Bei unserem Grundgesetz und seinem verfassungsrechtlichen Sozialstaatsgebot ist das eine berechtigte Diskussion. Ich bin davon überzeugt, in der Europäischen Union wird man da viel weiter sein als die deutsche Debatte.
Michaela Hofmann: Uns in der Caritas haben die Armutsbetroffenen gesagt, sie hätten gerne einen billigen Nahverkehr - und das möchte ich Ihnen mit auf den Weg geben. Gerade die, die wenig Geld haben, für die ist das derzeitige Sozialticket, welches angeboten wird, noch zu teuer. Dazu kommt der Tarif-Dschungel mit seinen Verbundgrenzen, die bei Überschreitung noch einmal Geld kosten.
Marco Schmitz: Die Vereinheitlichung der Tarife im öffentlichen Nahverkehr ist ja in der letzten Legislaturperiode schon angestoßen worden. Das ist noch nicht komplett umgesetzt, aber mit dem E-Ticket kann man schon heute über Tarifgrenzen hinweg reisen.
Michaela Hofmann: Manche können auch das nicht zahlen, andere haben kein Smartphone, mit dem sie das eTicket nutzen könnten. Das sind jetzt zwar nur Details, aber wenn Sie da dranbleiben könnten...
Marco Schmitz: Das werden wir Sozialpolitiker mit in die Diskussionen mit den Verkehrspolitikern nehmen. Ich glaube, wir werden im Bund einen Nachfolger des 9-Euro-Tickets in welcher Form auch immer bekommen. Aber auf der anderen Seite muss dafür natürlich der ÖPNV ausgebaut werden. Eine Vereinheitlichung, also wenn es jetzt so ein 365-Euro-Ticket gäbe, ich würde es kaufen.
Michaela Hofmann: Gerade das 9-Euro-Ticket war für viele Armutsbetroffenen eine enorme Erleichterung. Manche konnten überhaupt mal wieder zum Arzt fahren, Freunde besuchen, die in einer anderen Tarifzone wohnen oder ohne Angst.
Caritas in NRW: Vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch moderierte Markus Lahrmann. Es wurde Anfang August 2022 geführt.
Armutsrisiko in NRW
Im Jahr 2020 waren 17,4 Prozent der nordrhein-westfälischen Bevölkerung von relativer Einkommensarmut betroffen. Sie hatten weniger als 60 Prozent des mittleren nordrhein-westfälischen
Einkommens zur Verfügung. Ein Beispiel: Als einkommensarm gilt 2020 ein Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren mit einem monatlichen Haushaltsnettoeinkommen
unter 2354,00 Euro.
Bevölkerungsgruppen mit besonders hohem Armutsrisiko*:
- Erwerbslose zu 51,8 Prozent
- Alleinerziehende und ihre minderjährigen Kinder zu 40,9 Prozent
- Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit zu 41,4 Prozent
Selbstauskünfte von Betroffenen
"Ich lebe von 459 Euro im Monat. Davon muss ich meinen Lebensunterhalt bestreiten - und soll auch noch etwas ansparen. Lange ist mir das gelungen, weil ich schon als Kind gelernt habe, mit Geld umzugehen. Jetzt ist es schwierig, weil alles so teuer geworden ist. Ich spare Strom, wo immer es geht. Meine Klamotten hole ich bei der Kleiderkammer, die meisten Möbel habe ich aus Wohnungsauflösungen. Arbeiten kann ich seit einer psychischen Erkrankung nicht mehr. Eine Aufstockung der Grundsicherung um 150 bis 200 Euro - das würde mir schon reichen, damit das Leben etwas leichter wird."
Claudia** (49) aus Bonn
"Es war vor Kurzem auf einer Kundgebung von Menschen, die arm sind. Da fiel mir das große Desinteresse auf all derer, die uns begegneten. Wenn man wie ich selbst zu den Betroffenen gehört, dann kommt man sich allein gelassen vor, ausgeschlossen aus der Gesellschaft. Aber das System ist halt so: Reiche werden immer reicher, Arme immer ärmer. Und unsere Politiker arbeiten so, dass es auch so bleibt. Ich bin gelernter Mauer und kann krankheitsbedingt nicht mehr arbeiten. Ich muss jetzt von Sozialhilfe leben. In meiner Sozialwohnung wurden die Fenster nicht richtig eingebaut, dadurch zieht es und es ist feucht. Aber niemanden interessiert es. Die Preise für Lebensmittel steigen ins Unermessliche, vor allem die der Eigenmarken und von Discountern. Die Ärzte raten zur gesunden Ernährung, aber wie soll ich mich gesund ernähren, wenn man sich die Lebensmittel nicht leisten kann? Und bei der Tafel, die eigentlich eine gute Sache ist, ist es oft sehr voll und man steht lange an. Man fühlt sich wie ein Mensch dritter Klasse. Man ist einfach nichts mehr wert."
Thorsten (52) aus Frechen
"Der Vertrag bei meinem Arbeitgeber ist derzeit ruhiggestellt, wegen gesundheitlicher Probleme kann ich nicht weiterarbeiten. Fünf Jahre lang habe ich von Erwerbsminderungsrente gelebt, seit zwei Jahren bekomme ich Arbeitslosengeld 2. Ich habe keine Rücklagen mehr. Immer ist das Konto wieder auf null, bei meinen Kindern auch. Wie soll ich Energie sparen, wenn das Geld für einen neuen Kühlschrank einfach nicht drin ist? Lebensmittel für einen Fünf-Personen-Haushalt werden immer teurer, der Kinderbonus von 200 Euro ist direkt für neue Kleidung meiner Tochter für die nächste Klassenfahrt draufgegangen. Den Kindern einen Kino- oder einen Schwimmbadbesuch inklusive Eis essen zu ermöglichen, bereitet mir schon Kopfzerbrechen. Wenn sich das Enkelkind dann zum Geburtstag auch noch sehnlichst ein Playmobil-Feuerwehrauto für 37 Euro wünscht, muss ich schlucken."
Frank (53, sechsfacher Familienvater) aus Köln
"Seit 2005 lebe ich von Arbeitslosengeld 2. Ich berate auch andere Betroffene und engagiere mich seit vielen Jahren als sachkundiger Bürger im Sozialausschuss des Oberbergischen Kreises. Eigentlich bin ich gelernter Kaufmann für Groß- und Außenhandel und gelernter Straßenbauer. Finanziell drückt der Schuh an allen Seiten und fällt fast auseinander. Vor allem auf dem Land sind die Versorgung und der Zugang zu Leistungen schlecht. Für mich sind die wichtigsten gesellschaftlichen Themen: Bildung, Hunger und Umwelt."
Georg (65) aus Monheim
"Ich engagiere mich ehrenamtlich für den Caritasverband Witten im Projekt "Stadtteilforschung". Dabei schauen wir, woran es den Menschen im Marienviertel fehlt. Ich bin gelernte medizinische Fachangestellte und bei meiner kleinen Rente spüre ich ganz stark am eigenen Leib, wie das Geld im Alltag fehlt. Lebensmittel, Gas und Strom und vor allem medizinische Hilfsmittel sind so teuer. Stützstrümpfe kosten 40 Euro, wer soll denn das bezahlen? Mit Freundinnen ins Café gehen kann ich höchstens einmal die Woche. Für mich ist das drängendste Thema die Gesundheitsversorgung und man muss an günstige und dabei auch gesunde Lebensmittel kommen."
Gudrun (65) aus Witten
"Ich lebe allein in einer ländlichen Kreisstadt, bin gelernter Bürokaufmann und habe lange Zeit im Call-Center gearbeitet. Die Versorgung auf dem Land ist katastrophal. Richtig gut ist gerade das 9-Euro-Ticket, das muss weitergehen. Die Preissteigerungen beim Wohnen und bei Lebensmitteln merke ich enorm. Aufs Tierwohl achten kann man ja eh nur, wenn man viel Geld ausgibt. Immerhin werden die Cornflakes bald günstiger, weil der Mais wieder aus der Ukraine ausgeliefert werden kann."
Robert aus einem ländlichen Landkreis
Aufgezeichnet von: Pia Klinkhammer und Markus Harmann
* Zahlen aus dem Jahr 2020
** Namen von der Redaktion geändert.
Weitere Beiträge zum Thema "Armut" finden Sie hier in unserem Themendossier.