Großer Diskussionsbedarf
Caritas in NRW Wieso ist der assistierte Suizid ein Thema für die Caritas?
Dr. Boris Krause: Es ist ein Thema für die Caritas überall dort, wo es um das Lebensende von Menschen geht. In der Caritas ist das in vielen Bereichen der Fall, vordergründig am meisten in den Einrichtungen und Diensten mit älteren und kranken Klientinnen und Klienten. Beim näheren Hinsehen kann es aber auch überall dort zum Thema werden, wo die Verletzlichkeit von Menschen überhaupt berührt ist, in Krisensituationen etwa, wenn Menschen mit dem Leben hadern. Die Caritas-Initiative "U25" zur Suizidprävention im Bereich junger Menschen zeigt, dass Suizidalität und damit die Frage der Suizidassistenz sich auch schon früh im Leben stellen kann.
In der Caritas in Deutschland wird der "assistierte Suizid" seit zwei Jahren näher verfolgt, und es gibt eine vorläufige Positionierung. Nach meiner Wahrnehmung sind zudem alle Ethikbeauftragten der Träger mit dem Thema befasst, und es gibt überregionale Vernetzungen. Im Diözesan-Caritasverband (DiCV) Münster haben wir von Beginn der Diskussion an immer wieder in den Gremien über die neuesten Entwicklungen informiert und Herausforderungen für die Caritas diskutiert. Es gibt vor Ort Begleitung von Prozessen in einzelnen Verbänden und eigens entwickelte Schulungsangebote. Im Sommer konnten wir in einem größeren Symposium mit Expertinnen und Experten aus vielen relevanten Bereichen ins Gespräch gekommen. Die Nachfrage zur Veranstaltung war enorm. Es wird aber weitergehen - wenn ein Gesetz vom Bundestag auf den Weg gebracht wird, kennen wir den groben Gestaltungsrahmen.
Caritas in NRW: Welche Rolle spielt das Thema in den dem DiCV angeschlossenen Einrichtungen?
Dr. Boris Krause: Bemerkenswerterweise ist es gar nicht so leicht, das genau zu sagen. Ich begleite nun seit mehr als zwei Jahren in vielen Netzwerken und Gremien der Caritas den Austausch von Mitarbeitenden und Leitungen. Die Kollegen berichten, dass sie vereinzelt konkrete Anfragen von Klienten nach Angeboten der Suizidassistenz wahrnehmen, und tatsächlich kommen leider auch Suizidversuche und Suizide vor. Dies bleibt aber offenbar die Ausnahme.
Ich bin mir nicht sicher, ob wir daraus nun schlussfolgern sollten, dass die Frage Klienten nicht unter den Nägeln brennt. Selbst wenn Träger Umfragen bei Mitarbeitenden durchführen mit dem Ergebnis, dass kein hoher Bedarf für eine intensivere Auseinandersetzung feststellbar ist, wäre ich vorsichtig. Wir dürfen nicht vergessen, dass Suizid in vielen Bereichen ein Tabuthema ist. Die wenigsten gehen mit ihren Suizidgedanken hausieren, und es ist nicht leicht, in die Gedankenwelten vorzudringen.
Ein anderer Punkt ist, dass ich glaube, uns könnten Dinge entgehen, wenn wir beim Thema Sterbewünsche unseren Fokus zu eng auf Suizidalität richten. Wir tun gut daran, viel weiträumiger auf Signale zu achten, mit denen Klienten zu erkennen geben, dass sie ihr Leben als Last empfinden. Viele Mitarbeitende erleben dies ja und sind im Umgang mit diesen Signalen auch schon geschult.
Caritas in NRW: Was hören Sie aus der Praxis?
Dr. Boris Krause: Wenn man mit Mitarbeitenden über die Frage spricht, wie sie zur rechtlichen Möglichkeit des ärztlich assistierten Suizids stehen, erlebe ich eine Vielstimmigkeit. Es ist aus meiner Sicht wichtig, dies zunächst einmal anzuerkennen und das offene Gespräch zu ermöglichen. Wir haben uns als Caritas mit guten Gründen darauf festgelegt, nicht bei Selbsttötungen von Klienten mitwirken zu wollen, sondern alternative Begleitangebote zu machen, neben der medizinisch-pflegerischen Versorgung ihnen nahe zu sein, Ängste zu nehmen und zu ermutigen.
Zugleich erleben Mitarbeitende Situationen, in denen ein Mensch leidet, an Lebenswillen verliert und nachvollziehbar den Wunsch artikuliert, sterben zu wollen. Hier kann einer Begleitperson das vorzeitige Lebensende des Gegenübers durch Suizidassistenz durchaus als "erlösende Option" erscheinen. Solche inneren Konflikte können durchaus belastend sein. Hier wird es also sehr existenziell, und niemand macht es sich leicht.
Ich erlebe aber auch ganz andere Facetten des Themas, z. B. Caritas als Anbieterin von Hilfsleistungen. Ein Einrichtungsleiter gab einmal zu bedenken, dass in Zukunft nicht wenige Klienten auf andere Einrichtungen ausweichen könnten, sollten sich Caritas-Einrichtungen dem Thema komplett versperren. Auch solche Fragen stellen sich.
Caritas in NRW: Wie sollen Altenheim-Leitungen künftig damit umgehen, wenn an sie ein Sterbewunsch herangetragen wird?
Dr. Boris Krause: Alle fachlichen Perspektiven sprechen dafür, dahingehende Äußerungen und Signale von Klienten absolut ernst zu nehmen und ihnen mit Respekt zu begegnen. Im einfühlsamen Gespräch kommen so nicht selten Motive hinter einem Sterbewunsch zum Vorschein, beispielsweise Ängste vor Kontrollverlust, Sorgen, anderen zur Last zu fallen, Einsamkeit, Depressivität. Es dürfte vielversprechend sein, wenn in Einrichtungen und Diensten "präventiv" gedacht wird. Das heißt nicht nur, einen Plan zu haben, wie beispielsweise bei einer akuten suizidalen Krise eines Klienten konkret zu verfahren ist, sondern die eigene Haltung und Position klar zu haben, sich sprachfähig zu machen, zu schulen - insgesamt also an einer palliativen Kultur zu wirken.
Caritas in NRW: Geht es in katholischen Einrichtungen darum, Schutzräume zu bieten, um den befürchteten Druck auf Alte abzufangen?
Dr. Boris Krause: Die Rede von den "Schutzräumen" ist aus meiner Sicht missverständlich. Es geht keineswegs darum, Klienten ein Persönlichkeitsrecht auf selbstbestimmtes Sterben vorenthalten zu wollen und katholische Mauern inmitten des modernen Rechtsstaats hochzuziehen. Es geht vielmehr darum, in Caritas-Einrichtungen eine bestimmte Kultur zu garantieren, in der eine Selbsttötung nicht zu einem "normalen" Geschehen wird. Ein solcher Effekt der Liberalisierung von Suizidassistenz ist nämlich keineswegs auszuschließen. Niemand wünscht sich eine Einrichtungskultur, in der ein Mensch irgendwann glaubt, sich rechtfertigen müssen, wenn er sich für den Lebenserhalt entscheidet. In diesem Sinn will eine Caritas-Organisation "schützen", also ein "Lebensraum" sein - die Formulierung gefällt mir besser.
Caritas in NRW: Die Diakonie Wuppertal hat entschieden, den assistierten Suizid unter bestimmten Rahmenbedingungen zuzulassen. Unter welchen Bedingungen wäre das auch für Caritas-Einrichtungen denkbar?
Dr. Boris Krause: Die Caritas hat sich gegen eine Suizidassistenz in eigenen Häusern und gegen eine Mitwirkung ausgesprochen. Was alles eine "Mitwirkung" umfasst, müsste sicherlich noch genauer definiert werden. Vieles hängt letztendlich von möglichen gesetzlichen Vorgaben ab, ob ein Träger in Zukunft überhaupt bis in die Wohnbereiche von Klienten entscheiden darf. Und dies müsste für diese ja auch transparent und von ihrem Willen getragen sein, etwa schon beim Einzug in eine Einrichtung. Es wird sicher Menschen auch in unseren Einrichtungen und Diensten geben, die Suizidassistenz in Anspruch nehmen werden. Wenn man weiterdenkt, wie sich das praktisch abspielen kann, erhält man Anschauung etwa in Teilen der Schweiz, wo Klientinnen und Klienten in Spitälern für einen assistierten Suizid durchaus aus Einrichtungen verlegt werden - dies keineswegs als spontane Nacht-und-Nebel-Aktionen, sondern einvernehmlich vereinbart. Ob das allerdings die "Wunschlösung" ist, ist schwer zu sagen. Denn auch bei diesem Verfahren kann es nicht nur für den betroffenen Menschen, sondern auch für Zugehörige und Mitarbeitende eine enorme Belastung bleiben.
Caritas in NRW: Welchen Stellenwert hat Freiheit des eigenen Willens, die ja Teil der Würde des Menschen ist, für "unsere Leute"?
Dr. Boris Krause: Die Freiheit des Willens hat einen enorm hohen Stellenwert - innerhalb und außerhalb der Caritas. Das ist gar nicht so strittig, sofern es überhaupt so etwas wie einen freien Willen gibt. Für die Praxis relevant ist eher die umgekehrte Frage, ab welcher Einschränkung des Willens noch Anspruch auf Suizidassistenz bestehen kann.
Zum einen nehme ich in unseren Diskussionen wahr, dass in dieser Frage auf den sozialen Einfluss auf Entscheidungen hingewiesen wird. Menschen leben in sozialen Bezügen und Kontexten, die das eigene Verhalten, Denken und Fühlen mitbeeinflussen. Es macht offenbar einen Unterschied, ob ich mein Leben in einem Umfeld gestalte, das auf Lebensbejahung und Ermutigung ausgerichtet ist, oder in einem Umfeld, wo der Wert meiner Person an der Leistungsfähigkeit festgemacht wird und ich mir weitgehend selbst überlassen bin. Wann sind solche Einflüsse als Einschränkungen des Willens zu verstehen?
Beim Thema Suizidassistenz dürfte aber die Frage noch entscheidender sein, inwieweit psychische Erkrankungen wie etwa eine Depression freiverantwortliche Entscheidungen am Lebensende zulassen. Da gibt es tatsächlich unterschiedliche Ansichten. In der Caritas haben wir längst zur Kenntnis genommen, dass Suizide in den meisten Fällen mit psychiatrischen Diagnosen verbunden sind. Dieser Aspekt spielt in unserer Argumentation eine tragende Rolle.
Zugleich müssen wir anerkennen, und hier kommen wir in der Caritas tatsächlich an eine Grenze, dass nicht jeder Suizid eine pathologische Ursache hat. Das heißt, wenn alle Zweifel ausgeräumt sind und ein Mensch bewusst und reflektiert das vorzeitige Lebensende wählt, dann enden für uns praktisch die Interventionsmöglichkeiten. Es zählt dann das, was der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts bei der Urteilsverkündigung zum selbstbestimmten Sterben sagte: "Wir mögen seinen Entschluss bedauern, wir dürfen alles versuchen, ihn umzustimmen, wir müssen seine freie Entscheidung aber in letzter Konsequenz akzeptieren." Ich glaube, wir müssen noch lernen, mit dieser Tragweite selbstbestimmten Sterbens umzugehen.
Caritas in NRW: Welchen Stellenwert hat der "Schutz des Lebens"?
Dr. Boris Krause: Leben ist ein fundamentales Rechtsgut, in der Verfassung abgesichert. Und es gibt, pointiert gesprochen, eben nur dieses eine Leben, weswegen Entscheidungen in diesem Bereich immer eine enorme Tragweite haben. Allein aus diesen Gründen ist Lebensschutz unverzichtbar. In der Caritas als kirchlichem Verband ist der Lebensschutz traditionell bindend, Leben wird - theologisch gesprochen - als etwas "Geheiligtes" gedeutet. Ich habe den Eindruck, dass die Wertschätzung des Lebensgutes für Mitarbeitende eine hohe Prägekraft hat und sich im tagtäglichen fürsorglichen Handeln in den Einrichtungen und Diensten widerspiegelt, auch angesichts schwieriger Rahmenbedingungen, denen die Arbeit oft ausgesetzt ist.
Gleichwohl folgt aus Lebensschutz nicht Lebenspflicht, Lebenserhalt "um jeden Preis" ist kein Gebot, so haben es beide Kirchen in Deutschland einmal gemeinsam beschrieben. Das gilt etwa im Fall einer Therapie, die letztlich nicht mehr dem Leben dient, sondern nur noch den Sterbeprozess ohne Aussicht auf Besserung hinauszögert.
Im öffentlichen Diskurs gerät die Bedeutung des Lebensschutzes, so mein Eindruck, heute zuweilen in den Hintergrund zugunsten des Selbstbestimmungsrechts. Als Caritas sollten wir dafür eintreten, dass beide Güter gleichermaßen im Blick sind. Wir brauchen beide Aspekte zur Orientierung in unserer Arbeit, um menschendienlich zu handeln. Wenn sich Menschen in Krisensituationen dann freiverantwortlich für das Leben entscheiden, dann würde das sicherlich dem caritativen Anliegen am meisten gerecht werden. Wenn sie sich gegen das Leben entscheiden, bleiben wir an ihrer Seite mit all dem, was wir anbieten können.
Die Fragen stellte Markus Lahrmann. Das Interview wurde schriftlich geführt.
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