"Das macht mir wirklich Angst"
Eva-Maria Jahn vom Adoptions- und Pflegekinderdienst des SkF Ibbenbüren im Beratungsgespräch mit Annegret Müller (r.)Foto: Carolin Kronenburg | Caritas im Bistum Münster
Die Kostenexplosion bei Strom, Gas, Benzin und Lebensmittelpreisen macht mir wirklich Angst", sagt Annegret Müller* und knetet ihre Hände. Die 52-Jährige wohnt in einem Viergenerationenhaushalt im Tecklenburger Land und macht sich angesichts der hohen Inflation und der steigenden Energiekosten Sorgen. Für die alleinerziehende Mutter von vier Kindern war das Geld immer schon knapp. Deshalb ist Annegret bereits 2003 wieder zu ihren Eltern gezogen: "Seither kämpfen wir uns so durch." Wir, das sind Annegret, die 80-jährigen Eltern, die Tante, der 24-jährige Sohn und die vierjährige Enkelin Celina* - sechs Personen unter einem Dach. "Und zwei Kater gehören auch zur Familie", sagt Annegret und lacht.
17 Jahre hat Annegret als Altenpflegehilfe gearbeitet, bis sie vor vier Jahren erneut als Pflegemutter für ihre heute vierjährige Enkelin Elternzeit genommen hat, da ihre Tochter mit dem Baby überfordert gewesen sei. Aufgrund der Pflege ihrer Eltern und ihrer Tante konnte Annegret im Anschluss nicht auf ihre alte Arbeitsstelle zurückkehren und musste sich arbeitssuchend melden. Um Arbeitslosengeld zu erhalten, müsste sie aber mindestens 15 Wochenstunden arbeiten können. Das gehe aber nicht, weil sie sonst die Arzttermine der älteren Generation und Notfälle nicht abdecken könne.
Am Monatsende ist Annegrets Konto immer leer. Besonders schwierig sei es, wenn jährliche Versicherungen abgingen, unvorhergesehene Anschaffungen oder Reparaturen notwendig seien. "Dann kann das Geld schon weg sein, bevor der Monat richtig angefangen hat." Sehr gerne würde die 52-Jährige etwas Geld sparen - mehr als die 25 Euro hohe Rate für den Bausparvertrag ist aber nicht möglich.
Besonders wichtig ist der Familie, dass Celina trotz geringem Einkommen ein liebevolles Zuhause hat und sich geborgen fühlt. Zur Seite steht ihr dabei der Adoptions- und Pflegekinderdienst des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) Ibbenbüren. Auch wenn es in erster Linie um den Erziehungsauftrag geht, ist die finanzielle Situation der Familie ebenfalls immer wieder Thema in der Beratung.
Die alleinerziehende Oma legt großen Wert auf geregelte Tagesabläufe mit gesunden Mahlzeiten. Lebensmittel kauft die Familie nur im Angebot beim Discounter. Fleisch komme selten auf den Teller - "aber auch bei Obst, Gemüse und Brot sind die Preise wahnsinnig gestiegen", beklagt Annegret. "Wir haben zum Glück eigenes Obst, aus dem wir Marmelade und Kompott kochen, und machen unsere Gurken selbst ein." Bei Kleidung und Spielsachen setzt Annegret auf Secondhandware aus dem Sozialkaufhaus des SkF. Allein die Schuhe für die Enkelin kauft sie neu, "denn die Füße tragen sie ein Leben lang".
Ein Eis aus der Eisdiele - davon kann die sechsköpfige Familie nur träumen. "Für jeden zwei Kugeln kosten zusammen 15,60 Euro. Das ist einfach nicht drin", sagt Annegret. Stattdessen liegt in der Kühltruhe ein großes Paket Eis. Das sei natürlich nicht schlimm, aber nur ein kleines Beispiel von vielen. Einfach mal ins Kino, ins Café oder in den Freizeitpark? Undenkbar. Genau wie ein Ausflug mit dem Auto. "Die Kosten für eine Tankfüllung sind ja enorm. Das macht mir wirklich Angst", sagt Annegret. Gefahren werden nur die notwendigsten Strecken. "Wenn die Spritpreise weiter steigen, sitzen wir hier fest." Das 9-Euro-Ticket sei zwar eine gute Idee, bringe auf dem Land aber nicht viel. "Hier fährt nichts", sagt Annegret mit einer ausladenden Handbewegung in Richtung Felder und Wiesen, die sich rund um ihr Elternhaus erstrecken. "Mein Vater, der über 40 Jahre als Maler malocht hat, bekommt eine Rente von 1300 Euro", sagt Annegret. Dass er die noch versteuern muss, empfindet sie als "Spott und Hohn". Von der Politik seien die Rentner vergessen worden. Für ihre Eltern sei nicht nachvollziehbar, dass Menschen im nahe gelegenen Flüchtlingsheim 150 Euro "Taschengeld" und ein Handy erhielten. Ebenso wenig wie die Energiewende, die angesichts des Krieges in Europa zur Unzeit komme.
Kein Vertrauen mehr in die Politik
"Die Politiker sind weit ab von der Realität der Menschen", kritisiert Annegret und würde sich wünschen, "dass sie die Augen aufmachen und die Sorgen der einfachen Leute sehen". Wirklich verstanden fühlt sie sich von den großen Parteien schon lange nicht mehr. "Wie soll der Otto Normalverbraucher denn weiter existieren?"
In Fragen wie der Sozial- und der Flüchtlingspolitik sowie der Energiewende geht ein Riss durch die Gesellschaft, der aufgrund der Armutserfahrung von Annegret und ihrer Familie zum Bruch geführt hat. Das Vertrauen in die Politik und in den Sozialstaat habe sie längst verloren.
"Man sollte immer das Beste aus der Situation machen und nicht zu stolz sein, Hilfe anzunehmen", rät Annegret anderen Menschen mit einem geringen Einkommen. Es sei keine Schande, zur Tafel oder ins Sozialkaufhaus zu gehen. Ihre Familie habe an Weihnachten immer etwas Geld von der Pfarrcaritas bekommen. "Das ist total unangenehm, weil in so einem kleinen Ort jeder jeden kennt." Trotz Stigmatisierung sei sie sehr dankbar für die finanzielle Hilfe.
"Wir brauchen keine Luxusartikel", entgegnet Annegret auf die Frage nach ihren Träumen. Für die Eltern wünsche sie sich "einen würdevollen Lebensabend" und für ihre Enkelin, "dass sie ohne Krieg und ohne finanzielle Sorgen aufwachsen kann und dass es sich für sie lohnt, arbeiten zu gehen". Dann fährt sie durch ihr kurzes graues Haar und sagt: "Ich war 2003 das letzte Mal im Urlaub. Hach, mit der ganzen Familie an die Nordsee, das wäre schön."
* Namen von der Redaktion geändert.
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