"Die Preise erhöhen sich alle"
Michael bender berät im Rahmen des Stromspar-Checks Haushalte mit geringem Einkommen, wie sie ihre Energieausgaben verringern können.Foto: Achim Pohl
Am liebsten isst die 13-jährige Tochter Nudeln - Spaghetti Bolognese oder Lasagne. Doch aktuell muss sie darauf verzichten. "Der Preis hat sich vervielfacht", erzählt ihre Mutter, Sandra B. "Früher kosteten die billigsten Nudeln 39 Cent, jetzt sind es 1,69 Euro. Ich kaufe jetzt lieber Reis." Bis vor Kurzem bezog die 46-Jährige aus Paderborn noch Arbeitslosengeld II, also Hartz IV. "Zuletzt wurde das Geld immer knapper. Eine Woche vor Ende des Monats ging uns schon das Geld aus. Da mussten wir schauen, was wir essen können."
Bis zur Geburt ihrer Tochter war Sandra B. selbstständig. "Ich hatte viel Glück und konnte ein kleines Reinigungsunternehmen von meiner ehemaligen Chefin übernehmen." Mit vier Angestellten reinigte sie im Auftrag der Stadt Dortmund die Toiletten in den U-Bahnhöfen. Doch nach der Geburt ihrer Tochter stand sie allein da, der Vater hatte sie verlassen. Das Unternehmen musste sie aufgeben, weil es sich ohne ihre Arbeitskraft nicht mehr rentierte. Die vergangenen zwei Jahre kam sie in einer Arbeitsgelegenheit bei IN VIA in Paderborn unter, mit der sie Hartz IV etwas aufstocken konnte. Und dennoch: Zuletzt seien die Besuche im Supermarkt "erschreckend" gewesen, sagt sie. "Die Preise erhöhen sich alle." Dabei seien schon die Strompreissteigerungen "der Wahnsinn". Ihre Abschlagszahlungen habe sie beim örtlichen Stromversorger deshalb sicherheitshalber freiwillig nahezu verdoppelt. "Ich möchte vorsorgen. Ich habe keine Lust, Nachzahlungen leisten zu müssen und dann nicht zu wissen, wie ich das bezahlen soll", sagt sie energisch - und etwas nachdenklicher: "Ich hoffe, dass es reicht, ich glaube es aber nicht."
Strompreis steigt schneller als der Regelsatz
Die Stromkosten müssen Hartz-IV-Bezieher aus ihrem Regelsatz bestreiten. Von den 449 Euro, die sie pro Monat erhalten, sind 8,48 Prozent für Strom eingeplant, also knapp über 38 Euro. Inklusive der Strompreiserhöhungen reicht dieser Betrag derzeit allerdings nicht aus. Besser sieht es bei den Kosten für die Heizung und für Warmwasser aus. Die werden im Rahmen von Hartz IV vom Jobcenter übernommen - mit einer Einschränkung: wenn sie "in angemessener Höhe" liegen. Was angemessen ist, prüft das jeweilige Jobcenter im Einzelfall. Angesichts der aktuell rasant steigenden Preise, kann es bei dem ein oder anderen Jobcenter aber durchaus zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen, was "angemessen" ist. So wurde in einem Fall die Erstattung einer Heizöllieferung von 500 Litern abgelehnt, weil der Preis aktuell 750 Euro statt 350 Euro wie im Vorjahr betrug. Zu teuer, befand das Amt. Dabei waren die 500 Liter die Mindestabnahmemenge und der Preis vom Verbraucher nicht beeinflussbar. Im vergangenen Jahr haben die Jobcenter in Deutschland bei immerhin knapp 400000 Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften nicht die vollen Kosten für Unterkunft und Heizung anerkannt. Das entspricht einem Anteil von 15,4 Prozent.
Selbst der Sprecher des Bundesnetzwerks der Jobcenter, Stefan Graaf, setzt sich für eine Erhöhung der Hartz-IV-Leistungen ein. Der Geschäftsführer der Jobcenter Städteregion Aachen sagte gegenüber Report Mainz: "Das ist für die Menschen einfach nicht mehr zu stemmen. Da sehen wir sehr viel Verzweiflung, sehr viel Not, sehr viel Elend."
Der alte Kühlschrank ist ein echter Stromfresser - doch Ersatz ist teuer
"Erschreckend und beängstigend" findet auch Angelika K. die aktuellen Preiserhöhungen. Jede Woche muss die Alleinstehende, die von Hartz IV lebt, für ihren Lebensunterhalt aktuell 40 Euro mehr von ihrem Konto abheben. Sogar das Futter für ihren Kater habe sich von 20 Cent auf 49 Cent pro Portion mehr als verdoppelt. "Ich nehme jetzt die Tier-Tafel in Anspruch, da spare ich 6 bis 7 Euro pro Woche." Die 55-Jährige hat auch schon Maßnahmen ergriffen, um Energie einzusparen. "Weil ich dann besser einschlafe, habe ich sonst immer das Fernsehen laufen lassen, das lasse ich jetzt." Den Durchlauferhitzer für das Warmwasser hat sie von Stufe 2 auf Stufe 1 runtergeregelt. Ein Problem ist der alte Kühlschrank, ein echter Stromfresser. "Da muss dringend ein neuer her", sagt sie. Seit dem Tod ihres Freundes vor zwei Jahren lebt sie allein. Aktuell befindet sie sich in einer Arbeitsgelegenheit bei IN VIA Paderborn, arbeitet im digitalen Bereich. "Wir stellen zum Beispiel Plakate zum Energiesparen her." Und nebenbei setzt sie die Tipps, die sie grafisch aufbereitet, auch im eigenen Alltag um. Denn der örtliche Energieversorger E.ON hat bereits angekündigt, die Abschlagszahlungen erhöhen zu wollen. "Ich habe schon mal vorgesorgt und Geld zurückgelegt", rechnet auch Angelika K. mit massiv steigenden Belastungen.
Sandra B. verzichtet aktuell lieber auf die stark im Preis gestiegenen Nudeln und kauft Reis.Foto: Achim Pohl
"Die Leute haben Angst. Sie bekommen mit, dass die Preise explodieren", sagt Michael Bender, der für IN VIA in Paderborn Haushalte mit geringem Einkommen beim Energiesparen berät. "Sie haben Angst vor horrenden Summen an Nachzahlungen, die sie nicht mehr leisten können." Viele fragen ihn bei seinen Besuchen im Haushalt auch nach einem günstigeren Stromanbieter. "Das beraten wir gar nicht, aber wir können sagen, dass die laufenden Verträge meist noch gute Preise anbieten", weiß der Berater, der im Rahmen einer Arbeitsgelegenheit im Caritas-Projekt Stromspar-Check tätig ist. Bei Neuverträgen werde oft das Doppelte verlangt.
Im Rahmen seiner Energieberatungen weist Bender die Haushalte auch auf verdeckte Fallstricke hin, etwa auf die korrekte und pünktliche Ablesung der Stromzähler. Denn Energieversorger dürfen drei Jahre lang den Verbrauch schätzen, wie er aus eigener schmerzhafter Erfahrung weiß. "Meine Frau und ich waren Vielverbraucher an Strom, weil wir beide arbeitslos und den ganzen Tag zu Hause waren." Doch der Verbrauch wurde vom Energieversorger niedriger geschätzt. "Da dachten wir, wir kommen hin mit dem Geld. Aber nach drei Jahren kam dann der große Knall: Wir mussten 1300 Euro nachzahlen", berichtet er. "Mit Hartz IV kann man das aber nicht. Für viele ist das eine Falle. Uns haben dann die Schwiegereltern geholfen."
Die alleinerziehende Sandra B. ist trotz der Preissteigerungen nicht unzufrieden. Sie kann immerhin im Haus der Familie ihres verstorbenen Lebensgefährten mietfrei wohnen. Und seit vergangenem Monat hat sie wieder eine Arbeitsstelle - das erste Mal, seit ihre Tochter vor 13 Jahren geboren wurde. Mit Unterstützung von IN-VIA-Beraterin Miriam Schäfermann bewarb sie sich als Sozialassistentin in einem Altenheim und war erfolgreich. Die 60-Prozent-Stelle bringe zwar nur etwas mehr als Hartz IV, sagt sie. "Aber ich bin froh, dass ich jetzt arbeiten kann und die Abschlagszahlungen für die Heizung und die anderen Nebenkosten zahlen kann. Und sonst habe ich das Glück, mit meiner Tochter im Familienhaushalt meines Partners leben zu können. Da unterstützen wir uns gegenseitig."