Raus aus der Tabuzone
Caritas in NRW Sie beraten Familien, in denen die Eltern ein Suchtproblem haben oder psychisch krank sind. Welche Dimensionen hat das Problem in Deutschland?
Natali Zimny: Schätzungsweise 3,8 Millionen Kinder unter 18 Jahren leben mit einem alkoholerkrankten Elternteil zusammen oder mit Eltern, die psychisch erkrankt sind und beispielsweise gerade eine Depression haben. Hinzu kommen bis zu 60000 Kinder, deren Vater oder Mutter drogenabhängig sind. Die Bundesdrogenbeauftragte vermutet sogar, dass zehn Prozent aller Menschen in Deutschland in ihrer Kindheit durch ein familiäres Suchtproblem belastet wurden. In allen Fällen dürfen die Dunkelziffer sowie die Zahlen der komorbiden Erkrankungen nicht vergessen werden.
Caritas in NRW: Ein massives Problem. Warum ist so wenig darüber bekannt?
Natali Zimny: Scham spielt eine ganz große Rolle. Wer spricht schon gern über die psychische Erkrankung seiner Mutter oder seines Vaters? Meist haben Kinder und Jugendliche schon früh gelernt, sich auf die Krankheit ihrer Eltern einzustellen. Das heißt, eine Zeit lang funktioniert das Zusammenleben. Mit belastenden Folgen natürlich.
Caritas in NRW: Welche?
Natali Zimny: Kinder und Jugendliche zeigen sich häufig in einer hohen, nicht altersentsprechenden Verantwortung den erkrankten Eltern gegenüber. Parentifizierung nennen wir das. Die Kinder stellen eigene Bedürfnisse zurück, unterdrücken eigene Emotionen. Häufig sind sie in ihren sozialen Kontakten zurückhaltend, da sie nicht möchten, dass jemand von außen etwas über die familiäre Situation erfährt. Manche verhalten sich sehr erwartungskonform, um nicht aufzufallen. Andere zeigen auffälliges Verhalten oder gar eine eigene Störung. Fest steht, dass Kinder aus psychisch und/oder suchtbelasteten Familien eine höhere Gefährdung haben, selber eine psychische Erkrankung zu entwickeln.
Caritas in NRW: Wovon hängt ab, ob sich eine Familie Hilfe holt?
Natali Zimny: Das hängt vom Grad der Enttabuisierung ab. In Familien, in denen offen über die Erkrankung gesprochen wird, wird viel Druck von den Kindern genommen. Aus unserer Arbeit wissen wir, dass ein kindgerechter, offener und ehrlicher Umgang der Eltern mit der Erkrankung viel dazu beiträgt, dass das Kind emotional stabil ist. Es hilft außerdem, dass auch in der Öffentlichkeit zunehmend offener über psychische Erkrankungen im Familienumfeld oder über Suchterkrankungen gesprochen wird. Das heißt, Eltern und Kinder sind eher bereit, sich Hilfe zu holen und Hilfe anzunehmen. Und Beratende haben das Thema anders als noch vor Jahren heute eher auf dem Schirm. Es kommt vor, dass es zunächst um ganz andere Themen geht und eher beiläufig das Gespräch auf die psychische Erkrankung oder ein Suchtproblem kommt. Entscheidend ist sicher auch, dass unser Beratungsangebot in Düsseldorf inzwischen bekannt ist - auch bei Jugendämtern und anderen Stellen.
Caritas in NRW: Das heißt, die Zahl der Hilfesuchenden steigt?
Natali Zimny: Ja, eben auch weil die Hemmschwelle, sich professionelle Hilfe zu holen, sinkt. Aber ganz generell nehmen die Anmeldezahlen zu - das hat viele Gründe: Wenn z. B. soziale Benachteiligung steigt, steigen auch die psychischen Belastungen. Geradezu epidemisch sind die Ausmaße bei Depressionen, Burn-out und Belastungen am Arbeitsplatz. Ich gehe davon aus, dass der Bedarf an professioneller Beratung immer größer wird. Derzeit verzweifeln viele Familien, die ohnehin belastet sind, an den Folgen der Corona-Maßnahmen. Dahinter steckt aber tatsächlich ein Armutsproblem, Armut wird in unserer Gesellschaft nach wie vor nicht systematisch angegangen. In armen Familien verschärft ein psychisches und/oder Suchtproblem eines Elternteils dann möglicherweise die Situation.
Caritas in NRW: In welchem Zustand sind die Kinder, die zu Ihnen kommen?
Natali Zimny: Ganz grob kann man sagen: Ein Drittel kommt ohne Auffälligkeiten, ein Drittel befindet sich bereits in Psychotherapie, ein weiteres Drittel ist unversorgt und benötigt dringend Hilfe.
Caritas in NRW: Welche Wege aus der Krise zeigen Sie auf?
Natali Zimny: In den Gesprächen mit den Familien geht es oft zunächst darum, Worte für die Erkrankung zu finden, um diese altersgerecht erklären zu können. Wenn auf diese Weise eine Brücke der Enttabuisierung geschaffen ist, beginnt der eigentliche Weg: Wir schauen, wie das Kind mit der Situation umgeht, wie stabil es ist, in welcher Regelmäßigkeit Gespräche notwendig sind. Es gibt Eltern- und Kindergruppen. In beiden geht es darum, die Teilnehmenden positiv zu motivieren, die Erkrankung als solche erst einmal wahrzunehmen, sich ihr zu stellen und die eigenen Stärken hervorzuheben. Wir schulen außerdem Schulsozialarbeiter und Erzieher, damit sie einen Blick für Kinder aus Familien mit Sucht- oder psychischen Problemlagen bekommen. Darüber hinaus unterstützen wir die Familien bei der Kontaktaufnahme mit dem Jugendamt, wenn etwa die Versorgung und Erziehung der Kinder in Gefahr sind. Außerdem vermitteln wir Therapeuten und Psychiater und begleiten diesen Prozess. Insgesamt übersteigt die Zahl der Ratsuchenden aber die der Angebote deutlich, das heißt, um allen Familien helfen zu können, bräuchten wir mehr Zeit und mehr Beratende.
Fragen von Markus Harmann
Chance for Kids
Studien belegen, dass Kinder, deren Eltern an einer Suchterkrankung oder einer anderen psychischen Erkrankung leiden, eine Hochrisikogruppe darstellen, die stark gefährdet ist, selbst eine psychische Erkrankung zu entwickeln. 2016 startete der Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln darum mit Fördermitteln der Auridis-Stiftung das Modellprojekt "Chance for Kids". In Kooperation mit gut einem Dutzend Beratungsstellen sollen Wege aufgezeigt werden, betroffene Familien zu beraten und zu unterstützen. Neben dem Aufbau spezieller Hilfsangebote für betroffene Kinder und Eltern liegt ein Schwerpunkt des auf fünf Jahre angelegten Projekts darin, Kooperationsstrukturen an den Schnittstellen der Versorgungssysteme - u. a. zwischen der Jugendhilfe und dem Gesundheitswesen - zu schaffen.