Platzgarantie in der offenen Ganztagsschule
In Mülheim an der Ruhr hat über die Hälfte der Kinder keinen Platz in der offenen Ganztagsschule (OGS). Kinder von berufstätigen Eltern und Alleinerziehenden haben Vorrang bei der Vergabe der Plätze. Im Stadtteil Styrum wohnen jedoch so viele arme Familien, dass mehr als die Hälfte der Plätze von Kindern belegt sind, deren OGS-Beitrag übers Amt finanziert wird. "Viele unserer Kinder hier im Stadtteil leben in Armut", beobachtet Birte Braun. Sie leitet den Caritas-Ganztag an den zwei Standorten der Brüder-Grimm-Schule mit vier OGS-Gruppen und einer Betreuungsgruppe bis 13.30 Uhr. "Man erkennt Armut daran, dass die Schuhe zu klein sind oder im Winter die Jacken zu dünn. Manche Kinder haben spätestens zum Monatsende kein Schulfrühstück mehr dabei", sagt Braun. "Wir versuchen dann über Spendengelder oder über die Tafel, Obst und Gemüse als Snack anzubieten oder den Familien mit nach Hause zu geben."
Laut Sozialbericht NRW bezogen im Jahr 2018 in Mülheim knapp 28 Prozent der unter 15-Jährigen Hartz-IV-Leistungen. Gerade Kinder, die daheim in der Familie wenig Platz für sich, wenig Lernanregung und meist keinen Zugang zum Computer haben, um den Umgang mit dem Digitalen zu üben, bräuchten dringend die Fördermöglichkeiten eines gut ausgestatteten Ganztags. Derzeit aber sind die OGS-Standorte jeweils so gut ausgerüstet, wie ihre Kommune es sich leisten kann - ein klaffender Unterschied zum Beispiel zwischen Düsseldorf und jeder beliebigen Ruhrgebietsstadt.
Ausrangierte alte PCs im Einsatz
"Die Grundausstattung mit Möbeln und Spielsachen ist bei uns in Ordnung, ebenso unser Mix an Freizeitangeboten", sagt Braun. Aber sobald es um die dringend benötigte digitale Ausrüstung gehe, werde es schwierig. Im Ganztag selbst stehen ausrangierte alte PCs zum Üben zur Verfügung. Theoretisch dürfe man während der Ganztagsbetreuung auch die Schul-Laptops in den Klassenräumen mit nutzen, sofern eine Aufsichtskraft die Kinder begleiten könne. Das Personal sei aber knapp kalkuliert und in Pandemie-Zeiten ohnehin nicht voll einsatzfähig. Manche Grundschullehrer in Mülheim haben im vergangenen Jahr Schulstunden über das Internet angeboten. Für Grundschüler, die zu Hause technisch ausgerüstet sind und begleitet werden, war das eine gute Sache. "Aber viele unserer OGS-Schüler haben nicht die Möglichkeiten oder - wenn überhaupt - einen PC für mehrere Geschwisterkinder", so ist Brauns Erfahrung. Digital seien diese Kinder stark benachteiligt.
Mehr als 90 Prozent der Grundschulen in NRW sind heute offene Ganztagsschulen, vier von fünf der Ganztagseinrichtungen werden von Trägern der Freien Wohlfahrtspflege geführt. Sie erwarten vom künftigen Rechtsanspruch auf einen OGS-Platz zugleich gemeinsame qualitativ hochwertige Standards für alle OGS-Standorte in NRW. "Bildungsgerechtigkeit" ist das Stichwort. Erreicht werden soll das erstmals über eine Verankerung der OGS im Sozialgesetzbuch VIII (Kinder- und Jugendhilfe) sowie über entsprechende Ausführungsgesetze der Bundesländer.
Bedarf ist weit höher
Ursprünglich hatte der Bund für die Umsetzung des OGS-Rechtsanspruchs zwei Milliarden Euro eingeplant, diese jedoch im Herbst 2020 angesichts der Herausforderungen während der Pandemiezeit auf 3,5 Milliarden Euro aufgestockt. Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) hat allerdings einen Bedarf an OGS-Plätzen von 70 bis 80 Prozent ermittelt, geht nach vorsichtigen Schätzungen von 820000 zusätzlichen Plätzen aus und veranschlagt dafür 5,3 Milliarden Euro an Investitionen und 3,2 Milliarden an Betriebskosten bis 2025. "Wie die bisher zugesagten 3,5 Milliarden Euro (Investitions-)Mittel ausreichen sollen, ist angesichts der Berechnungen des DJI zum quantitativen Ausbau fraglich", kommentiert dazu die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (LAG) in NRW. Es geht um Um- und Anbauten, um eine weitere Qualifizierung des Personals, hauswirtschaftliche Unterstützung ist einzuplanen, ein Muss ist das ausgewogene Mittagessen in einer ordentlichen Mensa. Und - nicht zu vergessen - das alles muss auch den Kindern gefallen.
"In Mülheim stehen viele Schulgebäude aus dem vorletzten Jahrhundert, die nicht für einen Ganztag konzipiert wurden", erklärt Georg Jörres, Fachdienstleitung Jugend und Schule bei der Caritas in Mülheim an der Ruhr, die für neun OGS-Standorte an Grundschulen zuständig ist. "Aus der Not heraus hat unsere Kommune entschieden, die Gruppenstärke von 25 auf 30 Kinder anzuheben - ohne allerdings den Personalschlüssel anpassen zu können." Die Gruppen seien "pickepackevoll", und auch räumlich gerate der Ganztag an seine Grenzen. Es gebe bereits Anbauten, teilweise auch hochwertige Container-Lösungen zur Unterbringung der OGS-Gruppen. Auch Klassenräume würden mitgenutzt; das sei aber eine provisorische Lösung, da man eigentlich eine andere Raumausstattung brauche als für den Schulunterricht. Ebenfalls muss für die Mittagsversorgung angebaut werden. "Wenn wir die OGS-Platzgarantie bis 2025 erreichen wollen, brauchen die Ruhrgebietsstädte für den Ausbau der Gebäude mehr Bundes- und Landesmittel", meint Jörres.
Während die Hoffnungen sich auf einen hochwertigen Ganztag der Zukunft richten, hat das Corona-Jahr 2020 die Ansprüche zunächst herabgesetzt. Birte Braun in Styrum war froh, im November während des zweiten Teil-Lockdowns den Ganztag überhaupt geöffnet halten zu können, wenn auch die Gruppen sich nicht mischen durften, Betreuerinnen in Quarantäne mussten und Angebote ausfielen: "Zumindest sind die Kinder bis vier Uhr aufgehoben. Wie erreichen wir sonst die Familien? Was passiert zu Hause?"