Den Bogen überspannt
Sie möchten als Eltern für Ihr Kind auch außerhalb des Grundschulunterrichtes eine gute schulische Betreuung am Nachmittag? Sie möchten, dass es dort individuell gefördert wird? Dass es neben dem Lernen noch Zeit gibt für das Erleben von Gemeinschaft, für Spiel und Sport? Wenn Sie jetzt an eine offene Ganztagsschule (OGS) denken, sollten Sie ganz stark sein. Denn das System OGS, wie es 2003 aus der Taufe gehoben wurde, ist todkrank, und das nicht erst seit Corona. In den letzten Jahren haben die Wohlfahrtsverbände immer wieder gewarnt: Es kann nicht angehen, dass eine gute OGS vom Wohnort des Kindes und damit von der jeweiligen Finanzausstattung einer Kommune abhängig ist; dass fehlende Standards in puncto Personalausstattung, Personalqualifikation und Gruppengröße fatale Auswirkungen haben und eine Qualitätsspirale nach unten in Gang setzen. Vor allem wenn immer mehr Kinder eine OGS besuchen, die besonderer Aufmerksamkeit bedürfen: etwa Kinder mit erhöhtem Förderbedarf oder Kinder aus problematischen Familienverhältnissen.
Die Wohlfahrtsverbände haben immer wieder beklagt, dass offene Ganztagsschulen selbst für einfachste bauliche und räumliche Anforderungen kämpfen müssen. Eine OGS ist in ihrem Flächenbedarf eben nicht vergleichbar mit dem Unterrichtsgebäude einer Grundschule. Wenn vormittags alle Schüler reinpassen, muss das Gebäude auch nachmittags für eine OGS ausreichen, lautet eine beliebte Milchmädchenrechnung mancher Finanzdezernenten. Diese Gleichung ignoriert die Inhalte von OGS-Arbeit. Frontalunterricht findet hier nicht statt.
Vor allem aber hat die Freie Wohlfahrtspflege Zahlen auf den Tisch gelegt. Ein OGS-Platz wird derzeit pro Schuljahr durchschnittlich mit 1770 Euro finanziert. Die tatsächlichen Kosten für eine angemessene Betreuung belaufen sich jedoch auf rund 3400 Euro, also auf fast das Doppelte. Diese Lücke ist nicht erst seit 2020 bekannt. Und sie wird auch nicht erträglicher, wenn die Politik auf einen möglichen Rechtsanspruch im Jahr 2025 verweist, der die Finanzierung auf eine neue Grundlage stellen soll. Fakt ist: Eine derart gravierende Unterfinanzierung kann durch noch so engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf Dauer nicht kompensiert werden.
Corona hat den Bogen endgültig überspannt. Seit dem Sommer war jede OGS gezwungen, die begrenzten personellen Ressourcen für nichtpädagogische Aufgaben einzusetzen. Und dabei geht es um mehr, als ein paar Tische zu desinfizieren. Die Dokumentation von Gruppenzusammensetzungen, Maßnahmen zur Vermeidung von Gruppendurchmischungen, veränderte Raumkonzepte, Anpassungen bei der Essensausgabe und ähnliche Dinge sollten eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Nicht aber für Einrichtungen, die personell am Limit sind und ohne jegliche Standards in Bezug auf Personalausstattung oder Gruppengrößen arbeiten sollen. Manche OGS konnte nur noch garantieren, dass die Kinder einigermaßen beaufsichtigt werden; die Beschäftigten können nicht mehr. Niemanden scheint dies zu interessieren. Umso verständlicher waren Wut und Frustration vor Ort.
Dass das Land NRW Ende November reagiert hat und 30 Millionen Euro für ein Helferprogramm zur Abfederung des coronabedingten Mehraufwandes zur Verfügung stellt, ist begrüßenswert. "Besser als nichts", melden die OGS-Träger zurück. Doch diese befristete Entlastung aufgrund einer besonderen Notlage ändert nichts an dem Gefühl der Marginalisierung, das sich über viele Jahre aufgebaut hat. Die offene Ganztagsschule wurde einst als "Missing Link" gefeiert, als wichtiger Lückenschluss zwischen Schule und häufig überforderten Elternhäusern. Der grundsätzliche politische Wille, dieses Angebot zu dem zu machen, als was es einmal gedacht war, muss sich erst noch beweisen.