45 Jahre sparen für ein Tablet
Die Situation der Kinder hat sich jedenfalls in den vergangenen Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs nicht gebessert. Der Anteil der Kinder in Familien, die mit den knappen Regelsätzen des SGB II aufwachsen müssen, ist sogar gestiegen, in NRW laut aktueller Bertelsmann-Studie seit 2014 von 18 auf 18,6 Prozent im Jahr 2019.
Was das konkret im Einzelfall bedeutet, wenn jetzt Homeschooling und damit Teilnahme an digitalem Unterricht verlangt ist, mag ein Zahlenspiel verdeutlichen: Der Regelsatz errechnet sich aus zwölf Abteilungen, eine davon ist "Bildung". Vorgesehen sind für Sechs- bis 13-Jährige 0,17 Prozent des Regelsatzes, was derzeit 55 Cent monatlich entspricht. Wollen die Eltern jetzt für 300 Euro ein Tablet anschaffen, müssten sie dafür 45 Jahre ansparen. Diese Zeit ließe sich auf 22 Jahre senken, entnähmen sie aus der Abteilung "Innenausstattung, Haushaltsgeräte, Gegenstände laufender Haushaltsführung" noch den für digitale Ausstattung vorgesehenen Betrag. Dem 14- bis 18-jährigen Schüler stehen übrigens monatlich nur 26 Cent oder 0,07 Prozent des Regelsatzes für Bildung zu.
Familien bleiben Bittsteller
Dass diese Beträge für Satire gehalten werden könnten, hat der Gesetzgeber vor Jahren selbst erkannt und mit dem Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) nachgelegt. Immerhin sind darin pro Jahr 150 Euro in zwei Teilzahlungen für Schulausstattung enthalten, und es werden Klassenfahrten finanziert - "aber nur notwendige", schränkt Johanna Stroick von der Allgemeinen Sozialberatung der Caritas Borken ein, also notwendig im Sinn von verpflichtend.
Warum es ein Extrapaket geben muss, obwohl das Arbeitslosengeld II ursprünglich mal eine Leistung sein sollte, die alles abdeckt ohne die in der früheren Sozialhilfe möglichen Zuschläge, könnte man einmal mehr hinterfragen. Die anfänglich berechtigte Kritik, dass die Beantragung kompliziert sei, gilt allerdings nicht mehr. "Die Anträge sind recht einfach", sagt Anna Menke von der Allgemeinen Sozialberatung des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) im Kreis Warendorf. Sie umfassten gerade mal eine Seite und seien gleich beim ALG-II-Antrag dabei. Trotzdem: "Viele wissen das nicht." Und selbst wenn es einfach ist, benötigen die Familien Hilfe, und "sie bleiben einmal mehr Bittsteller", kritisiert Helmut Flötotto, Referatsleiter Soziale Arbeit im Diözesan-Caritasverband Münster.
Digitalpakt-Mittel fließen nicht
Weiterhin bedarf es schon eines besonderen Engagements einer Kommune, um möglichst alle Eltern mit dem BuT zu erreichen. Klaus Köller, Mitarbeiter des Katholischen Sozialdienstes Hamm und Leiter des Stadtteilbüros Nord, lobt die Stadt Hamm. Eine Kollegin der AWO habe die Aufgabe, aktiv auf die Eltern zuzugehen. Im Ergebnis profitierten 98 Prozent der Kinder von dem Paket, in dem auch Beträge für Eintritt in Schwimmbäder oder Vereinsbeiträge und Nachhilfeunterricht vorgesehen sind. Aber, da ist er sich mit seinen Kolleginnen Stroick und Menke einig, es reicht insbesondere aktuell nicht.
Nur in Ausnahmefällen erkennt das Jobcenter den Mehrbedarf für ein Tablet oder einen Computer für Schüler an. Johanna Stroick begleitet eine Familie, in der für drei Kinder nur ein Handy für die digitale Kommunikation zur Verfügung steht. Meistens finde sie aber doch eine Lösung, erklärt sie, in der Regel über Anträge an die Aktion Lichtblicke.
Die Rechtsprechung ist hier uneins, mal sehen die Gerichte das Jobcenter doch in der Pflicht, aber Anfang November entschied das Landessozialgericht Niedersachsen noch gegen eine Schülerin, die für den Unterricht ein Tablet finanziert bekommen wollte.
Auch dass eigentlich viel Geld für die digitale Ausstattung der Schulen bereitsteht, hilft dem einzelnen Schüler wenig und kaum in der aktuellen Situation. Eine Milliarde Euro kann das Land NRW aus den Bundesmitteln des Digitalpakts verteilen - allerdings nur gegen Anträge, die mit einem detaillierten Konzept der jeweiligen Schule unterlegt sind. Bis Ende September lagen laut Auskunft des NRW-Schulministeriums von der Hälfte der Kommunen Förderanträge über 166 Millionen Euro vor, 110 Millionen waren bewilligt. Mit dem Geld werden allerdings als Allererstes Lehrer ausgestattet, WLAN-Netze geknüpft, Fortbildungen organisiert…
Zu erwarten bleibt, dass sich das strukturelle Problem der Chancenungleichheit in der Bildung für Kinder aus armen Familien durch die Pandemie weiter verschärfen wird. Gerade sie haben die Minijobs, die sie bisher über Wasser hielten, verloren oder sind von Kurzarbeit betroffen.
Wochenlang Spaghetti mit Tomatensoße
Bei Johanna Stroick in der Allgemeinen Sozialberatung fragen jetzt immer mehr Familien an, die ohne Hartz IV einigermaßen über die Runden gekommen sind. Aber in Kurzarbeit reicht es nicht mehr. Große Sorge bereitet ihr, dass die Familien oft zu lange warten, bevor sie um Hilfe bitten. "Das läuft weiter, bis der Strom abgestellt wird", sagt sie.
Stromschulden gibt es vor allem auch bei den ALG-II-Empfängern. In der Regel würden sie über Darlehen vom Jobcenter beglichen. Aber die Rückzahlung an das Jobcenter belaste natürlich auch das Familienbudget. Eigentlich solle nicht mehr als ein Darlehen laufen, erklärt Anna Menke. Aber sie betreut Familien, bei denen zwei oder sogar drei Darlehen aus dem Regelsatz bedient werden müssen, der eigentlich per Definition das Existenzminimum markiert. Anna Menke weiß: "Da gibt es wochenlang nur Spaghetti mit Tomatensoße."
Schlechte Aussichten für das Homeschooling und die dafür benötigte Ausstattung. Es betrifft viele: Weit über eine halbe Million Kinder in NRW lebten 2019 in ALG-II-Bedarfsgemeinschaften, deutschlandweit waren es 2,8 Millionen oder ein Fünftel aller Kinder. Wobei es auch hier eine ungleiche Verteilung gibt. Waren es in wirtschaftlich prosperierenden Regionen wie dem Kreis Coesfeld mit dem landesweit niedrigsten Wert nur 7,8 Prozent, wachsen in Gelsenkirchen 41,5 Prozent der Kinder in Armut auf. Ihr Anteil ist in den vergangenen fünf Jahren noch deutlich gewachsen.
"Ein überdurchschnittliches Armutsrisiko wiesen die Kinder und Jugendlichen auf, deren Eltern geringqualifiziert sind, die bei einem alleinerziehenden Elternteil auf wachsen, die aus einer kinderreichen Familie stammen und/oder einen Migrationshintergrund haben."
Quelle: Sozialbericht 2020, herausgegeben vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales, Minister Karl-Josef Laumann (CDU)