"Eigener Druck ist ein Leistungskiller"
Vor zwei Jahren kam der damals 14-jährige Ahmad im Jugendhaus am Steinberg des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) in Mönchengladbach an. "Einen Tag vor Weihnachten traf er hier ein", erinnert sich Regina Stommel. Sie ist Gruppenpädagogin in der sogenannten UMA-Gruppe, der Gruppe für unbegleitete minderjährige ausländische Flüchtlinge. Ahmad war als 13-Jähriger aus seiner Heimat Guinea geflüchtet. Der Vater des Jungen war tot, die Mutter hatte einen neuen Partner gefunden. Der schlug den Jungen, Gewalt war seitdem an der Tagesordnung. Das ist nach seiner Flucht anders. "Das Jugendhaus am Steinberg ist mein Zuhause", sagt Ahmad heute. Hier hat er Freunde, hier sind die Pädagogen, die sich um ihn kümmern. Wie es seiner Familie im 5000 Kilometer entfernten Guinea geht, weiß er nicht. "Ich habe keinen Kontakt zu meiner Mutter und meinen Geschwistern", sagt Ahmad. Er könnte nicht einmal beschreiben, wo sie wohnen. Straßennamen wie in Mönchengladbach und Häuser mit Hausnummern gibt es in seiner Heimat nicht. Ahmad, der aus dem französischsprachigen Teil von Guinea kommt, besuchte in seiner Heimat vier Jahre die französische Schule. Dort wie hier in Deutschland, an einer Hauptschule in Mönchengladbach, ist er ein guter Schüler. "Er bringt gute Noten nach Hause", sagt Regina Stommel. Nur im Deutschunterricht tut er sich schwer. "Und das belastet ihn sehr. Es geht ihm alles nicht schnell genug. Er möchte so schnell wie möglich einen guten Abschluss haben und einen Beruf erlernen, weil er sich um seine Mutter Sorgen macht. Er weiß nicht, ob sie noch lebt. Er hat Sorge, dass auch sie Opfer der Schläge ihres neues Partners geworden ist", sagt die Pädagogin. Ahmad sagt, er wolle einfach nur wissen, dass es seiner Mutter und den Geschwistern gut gehe. Aber sein Zuhause sei Mönchengladbach. Dort hat er sich eingelebt, dort hat er seine sozialen Kontakte, dort spielt er im Fußballverein.
"Wir machen uns keine Vorstellungen, welchen Druck diese Kinder und Jugendlichen empfinden. Eigener Druck ist ein Leistungskiller. Sie wollen perfekt sein, Schwächen dürfen sie nicht zeigen, weil sie ja der Familie helfen wollen", sagt Udo Wilschewski. Er leitet das Jugendhaus am Steinberg. Auch Regina Stommel und Bereichsleiter Jürgen Matzerath kennen viele Lebensgeschichten wie die von Ahmad. "Diese Kinder sind von ihren Erlebnissen auf der Flucht traumatisiert. Das hindert sie, in der Schule das zu zeigen, was sie eigentlich können", sagt Matzerath. "Hätte Ahmad den Kopf frei, er würde einen richtigen Sprung nach vorne machen", ist sich Regina Stommel sicher. Doch das ist nicht so einfach. Die Pädagogin erinnert sich, dass Ahmad in vielen Nächten Albträume hatte. "Er hat geschrien und gesprochen, stand morgens mit Magenschmerzen auf", sagt sie. Seit er in einer Traumatherapie ist, geht es ihm besser. Die hilft ihm, die Bilder zu verarbeiten, die sich ihm auf der Flucht in den Kopf gebrannt haben. Barfuß sei er über glühend heißen Wüstensand gelaufen, links und rechts habe er tote, verdorrte Körper gesehen, erzählt er.
Ein anderer Junge aus Afghanistan, erzählt Regina Stommel, schmuggelte sich mit seinem Freund in einen Lkw eines großen Modekonzerns. Das alles hat Spuren hinterlassen. "Seit dieser Zeit schläft der heute junge Erwachsene nur mit Licht in seinem Zimmer, auch in der Nacht. In engen Räumen hat er bis heute Probleme", erzählt sie.
Beziehungen aufbauen
"Physische oder psychische Gewalt oder Belastungen hemmen die Ressourcen von Kindern und Jugendlichen. Das erleben wir bei vielen Schülerinnen und Schülern", sagt Cornelia Ostendarp. Sie ist Sozialpädagogin an einer Hauptschule in Mönchengladbach. Kinder wie Ahmad, die Fluchterfahrungen nicht verarbeitet haben, kennt sie auch. Aber darüber hinaus gibt es weitere Dinge, die Schülerinnen und Schüler belasten und die sie auch in den Schulalltag mitbringen. "Trennung der Eltern, alleinerziehende Eltern, Arbeitslosigkeit von Vater oder Mutter, Geldmangel, eine große Zahl an Geschwistern und frühzeitige Verantwortung für jüngere Kinder haben Einfluss auf schulische Leistungen", sagt sie. In solchen Situationen sei es wichtig, eine gute Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern aufzubauen. Eine Möglichkeit sind die regelmäßig tagenden Klassenräte, an denen Cornelia Ostendarp und ihre Kolleginnen teilnehmen. Die Schülerinnen und Schüler sollen wissen, wo sie - neben den Lehrpersonen und der Schulleitung - weitere Hilfen finden. "Die Kinder müssen uns vertrauen. Und dieses Vertrauen aufzubauen ist das Schwierigste. Wenn man das schafft, erzählen sie Puzzlestück für Puzzlestück ihre Geschichte", sagt Cornelia Ostendarp. Manche Kinder täten das aber mit großer Angst. "Einige sagen: Aber erzählen Sie bitte nichts meinen Eltern", berichtet die Sozialpädagogin.
Wenn sie Gespräche mit Kindern und Jugendlichen führt, merkt sie immer wieder, dass ihr etwas Wesentliches fehlt: Zeit. "Die Klassen müssten kleiner werden, maximal 15 Schülerinnen und Schüler haben. Und in jeder Klasse sollten eine sozialpädagogische Fachkraft und eine Lehrperson im Team arbeiten. Dann könnten wir den Kindern noch besser gerecht werden", sagt sie. Auch die Kooperation von Schulen, Jugendhilfeeinrichtungen und Jugendämtern müsse besser werden, meint Cornelia Ostendarp. "Zu vielen Einrichtungen haben wir zwar gute Kontakte, aber es fehlen regelmäßige Gespräche und kontinuierlicher Austausch. Das lassen die Kapazitäten aller beteiligten Stellen nicht zu. Wenn wir da mehr tun könnten, wäre das für unsere Kinder ein großer Fortschritt", sagt die Sozialpädagogin.
Bei Udo Wilschewski rennt sie offene Türen ein. Es müsse dringend mehr Personal in Schulen, Jugendhilfeeinrichtungen und Jugendämtern geben. Dazu sei aber auch mehr Geld erforderlich: "Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass es volkswirtschaftlich wesentlich günstiger wäre, frühzeitig und kontinuierlich viel mehr in die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zu investieren."