Ab und an muss es einen Schubs geben
"Leistungen werden künftig personenzentriert bereitgestellt."Armin Fischer
Bettina Esser lebt gerne in ihrer Außenwohngruppe der Wohnanlage St. Bernardin, einer Einrichtung für Menschen mit einer geistigen und/oder komplexen Behinderung in Kamp-Lintfort. Sie brauche Menschen um sich, sagt sie, allein zu wohnen, könne sie sich nicht vorstellen. Abends sitzt sie gerne mit ihren Mitbewohnern zusammen im Wohnzimmer. Daran wird sich für sie am 1. Januar 2020 nichts ändern, wenn sie aus ihrem Zimmer über Flur und Treppe dorthin geht.
Für Wolfram Teschner schon. Für den Geschäftsführer der Caritas Wohn- und Werkstätten Niederrhein (CWWN) läuft sie dann von ihrer "Wohnfläche" über eine "Mischfläche", um es sich in der "Fachleistungsfläche" gemütlich zu machen. Die Betriebs- und Investitionskosten jeder Fläche müssen dann auf den einzelnen Bewohner umgerechnet werden und centgenau den jeweils zuständigen Kostenträgern monatlich in Rechnung gestellt werden. Was noch einfach erscheint. Aber was ist der Garten? Wohn- oder Fachleistungsfläche? Weil sich Bettina Esser hier möglicherweise nicht nur erholt, sondern sie auch betreut, beraten, angeleitet wird und damit eine Fachleistung erbracht wird?
Zu Beginn des nächsten Jahres sollen die Regelungen des "Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen", kurz Bundesteilhabegesetz (BTHG), den Praxistest bestehen. Aber noch gibt es mehr Fragen als Antworten, wird zäh mit Arbeitsgruppen und Unter-Arbeitsgruppen sowie Konsensrunden um die Formulierungen des notwendigen Landesrahmenvertrags zwischen Freier Wohlfahrtspflege, Landschaftsverbänden, Kommunalvertretern, privaten Anbietern und Selbsthilfeverbänden gerungen.
Geschäftsführer Wolfram Teschner muss mit allen Bewohnern der CWWN komplett neue Verträge über Wohnen und Betreuungsleistungen schließen.Armin Fischer
Dass die erforderlichen Kompromisse gefunden, die sich daraus ergebenden Formulare entworfen und alle Teilhabegespräche rechtzeitig geführt werden können, erscheint sowohl Teschner wie auch Volker Supe mehr als fraglich. Supe arbeitet als Referatsleiter Behindertenhilfe im Diözesan-Caritasverband Münster am Landesrahmenvertrag mit. Den wollen die beiden Landschaftsverbände mit den Spitzenverbänden der Einrichtungen abschließen, um einheitliche Regelungen für ganz Nordrhein-Westfalen zu schaffen.
Immer stärker werden derweil die Befürchtungen, dass eine an sich gute Idee (= mehr Teilhabe) durch überbordende Bürokratie ins Gegenteil verkehrt werden könnte. Mehr Personenzentrierung will das Gesetz, damit soll der UN-Behindertenrechtskonvention stärker gefolgt werden. Das unterschreibt Wolfram Teschner gerne und hat auch kein Problem, zuzugeben, "dass es dafür ab und an einen Schubs geben muss". Aber dafür brauche es nicht mehr Verwaltung.
Angehörige müssen sich aktiv kümmern
Eine Grundidee des BTHG ist, die Leistungen zu trennen. Künftig müssen die Menschen mit Behinderung oder ihre Betreuer Grundleistung für Wohnen und Leben wie andere Sozialhilfeempfänger bei den Kommunen beantragen und die von der Wohneinrichtung gestellte Rechnung davon bezahlen. Die Landschaftsverbände übernehmen weiter die Betreuungsleistung.
Wolfram Teschner, der für die wirtschaftliche Stabilität der Einrichtung verantwortlich ist, ist skeptisch, ob das funktionieren wird: "Bei Ausfällen ist unser großes Problem die Liquidität." Eigentlich sei die Rechtslage klar, so Volker Supe: Wird die Rechnung zwei Monate nicht beglichen, kann gekündigt werden. "Das können wir als Caritas nicht", sagt Supe. Theoretisch stände sonst nämlich der behinderte Mensch auf der Straße, weil der Kostenträger nicht gezahlt hätte. Aber andererseits dürfe nicht die Hilfe für alle gefährdet werden, wenn einige nicht zahlten.
Die CWWN haben deshalb mit der Information der Angehörigen längst begonnen. Das Interesse ist groß, das Unverständnis allerdings ebenso, wie die ersten Rückmeldungen zeigen. Er kenne sich etwas mit juristischen Texten aus, sagt Wolfram Teschner, aber er verstehe das auch nicht alles. Bettina Esser, stellvertretende Vorsitzende des Werkstattrats, formuliert es für sich deutlicher: "Das hat einer geschrieben, ohne sich schlaugemacht zu haben." Diesen Eindruck des mangelnden Einblicks in die Praxis teilt Heinz Gatzlaff (74). Der Vorsitzende des Angehörigenbeirats der CWWN hat Sorge, dass viele Eltern, die häufig auch die rechtliche Betreuung übernommen haben, mit den bürokratischen Erfordernissen überfordert sein werden. "Die meisten haben noch nicht realisiert, was auf sie zukommt", hat er als Erkenntnis aus vielen Gesprächen gewonnen.
Erst auf Basis der neu geschlossenen Verträge über Wohnen und Betreuungsleistungen kann dann Bewohnerin Bettina Esser ihre Leistungen beim zuständigen örtlichen Sozialhilfeträger beantragen.Armin Fischer
Bei allen Ungewissheiten sind zwei Dinge jedenfalls geklärt: Allein der Landschaftsverband Westfalen-Lippe schafft rund 100 neue Stellen, um den künftigen Hilfebedarf mit jedem einzelnen Bewohner und Beschäftigten zu klären. Das BTHG legt aber fest, dass die Umsetzung insgesamt kostenneutral erfolgen muss. Kosten für 100 neue Stellen beim Landschaftsverband müssen dann woanders eingespart werden. Sparen lässt sich als Erstes im Freizeitbereich der Einrichtungen. Im Detail ist der Kostendruck dort schon jetzt spürbar. Heinz Gatzlaffs Sohn ist gerne mal mit einem Begleiter ins Kino gegangen. Aber das gebe es nicht mehr, weil Überstunden gestrichen worden seien.
Höherer Verwaltungsaufwand wäre aus Sicht von Teschner durchaus zu rechtfertigen, wenn er dem Ziel der besseren Personenzentrierung dienen würde. Aber da sind die CWWN wie viele andere Behinderteneinrichtungen auch so schon weit gekommen. Bettina Esser hat die Wohnform längst gefunden, in der sie bleiben möchte. Mit ihrer Arbeit auf einem Außenarbeitsplatz in Straelen ist sie bestens zufrieden.
Gabriel Ditz (21) lebt seit fünf Jahren in einer Wohngruppe, aber er möchte allein wohnen. Sein Wunsch wird sich in diesem Jahr erfüllen. Er wird sich eine Wohnung in Duisburg suchen und zweifelt nicht, dass er mit wenigen Stunden Betreuung gut allein klarkommen wird. In der Werkstatt in Moers fräst und dreht er Teile für Solarpaneele, immer wieder andere. Das erfordert präzise Arbeit und Konzentration. In seiner Freizeit lebt er seine Hobbys: shoppen gehen, Basketball spielen, Musik hören. Er sagt: "Ich bin sehr, sehr zufrieden", und freut sich, dass "wir in einem sehr sozialen Land leben".
Macht sich Sorgen: Angehörigenbeirat Heinz GatzlaffArmin Fischer
Dabei bietet das Gesetz neben der Grundidee durchaus Fortschritte. Es hat zum Beispiel den Posten der Frauenbeauftragten eingeführt. Carina Brunokowski (31) ist dies seit anderthalb Jahren in den CWWN. Sie freut sich über die Fortbildungen, die sie dafür machen kann, den Flyer, den sie zusammen mit Öffentlichkeitsarbeiterin Andrea Emde erstellt hat, und die vielen neuen Kontakte und Erfahrungen, die das Amt mit sich bringt. Sie plant, mit der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Moers Kontakt aufzunehmen, die ihr Unterstützung zugesagt hat.
Grundmisstrauen gegenüber den Einrichtungen
Die guten Ansätze des Gesetzes leiden unter einer falschen Grundannahme. Bedarfsermittlung und stärkere Steuerung der Leistungen durch die Kostenträger basieren auf einem Grundmisstrauen. Unterstellt wurde, dass die Einrichtungen und Dienste ihren Bedarf und damit ihre Einnahmen selbst schaffen. Eine solche Vermutung allerdings hat sich beim Ausbau des ambulant betreuten Wohnens schon einmal als Trugschluss erwiesen. Die individuelle Bedarfsermittlung durch die Landschaftsverbände hat zu mehr Leistungen geführt. Gleiches erwartet Volker Supe auch diesmal: "Wenn man genauer hinschaut, ergibt sich eher mehr Bedarf." Abzuwarten ist, wie die Leistungsträger ihre neuen Steuerungsmöglichkeiten mit Blick auf ihre Finanzlage nutzen werden. Im Ergebnis darf es - siehe oben - nicht mehr kosten, aber die zusätzlichen Planstellen müssen finanziert werden. Inklusion benötigt aber in der Regel Assistenz, und deshalb ist Wolfram Teschner skeptisch, ob das BTHG tatsächlich die Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention wird umsetzen können und zu mehr Teilhabe führen kann.
Gleichstellung als Mammutaufgabe
Nach dem Bundesteilhabegesetz müssen nun auch Menschen, die in einer Einrichtung leben, bei ihrer Kommune unter anderem Hilfe zum Lebensunterhalt beantragen. Betroffene werden durch das Gesetz gleichgestellt. Es umzusetzen ist jedoch eine Mammutaufgabe. Auch das Heute-Journal berichtet in seiner Ausgabe vom 30. Dezember 2019 über die Umsetzung des Bundesteihabegesetzes in den Caritas-Wohn- und Werkstätten Niederrhein.
www.zdf.de/nachrichten/heute-journal/heute-journal-vom-30-12-2019-100.html
Bundesteilhabegesetz
Die Zeit ist knapp
Wolfgang Meyer ist Vorstandssprecher des Sozialwerks St. GeorgBarbara Bechtloff
"Wir als Anbieter wie auch die Menschen mit Assistenzbedarf selbst brauchen so früh wie möglich Klarheit über die weiteren Rahmenbedingungen der Ausgestaltung des
BTHG. Solange ein Landesrahmenvertrag fehlt, können wir viele Fragen von Klientinnen und Klienten, Angehörigen und Mitarbeitenden nicht beantworten, und die Zeit ist
knapp. Denn wegen der Trennung der Leistungen ab 2020 müssen viele Menschen, die bislang in stationären Einrichtungen wohnen, noch in diesem Jahr einen Antrag auf Sozialhilfe stellen und von den Kommunen einen rechtssicheren Bescheid erhalten. Das macht Tausende zusätzliche Anträge in NRW
Da ist es von großer Bedeutung, dass das Land einen guten, möglichst unbürokratischen Rahmen setzt. Wir fordern, dass das BTHG in der Ausgestaltung kein Bürokratiemonster wird und für alle umsetzbar bleibt. Die Kostenträger müssen sich mit uns Anbietern gemeinsam darum kümmern, dass die Veränderungen keine neuen Barrieren für die Menschen mit Assistenzbedarf darstellen. Denn schließlich wollen wir die Umsetzung persönlicher Ziele von Menschen mit Behinderung mit diesen zusammen stärken - und nicht schwächen!"
Das Sozialwerk St. Georg mit Sitz in Gelsenkirchen ist ein soziales Dienstleistungsunternehmen, das in weiten Teilen Nordrhein-Westfalens ein vielfältiges Leistungsspektrum für Menschen mit Assistenzbedarf bereithält. Rund 2700 Mitarbeitende unterstützen rund 4500 Menschen mit Behinderung.