"Es stellt alles auf den Kopf"
Kern des BTHG und Ziel aller Anstrengungen bei der Umsetzung ist und bleibt das Wohl der Menschen mit Behinderung, die auf Hilfen angewiesen sind und deswegen in Einrichtungen der Caritas arbeiten, wohnen und leben. Sie sollen besser und mehr teilhaben am Leben der Gemeinschaft.Armin Fischer
Revolution ist zwar ein gewaltiges Wort", sagt Karl-Heinz Vogt, Vorstandsvorsitzender des Caritas Wohn- und Werkstätten im Erzbistum Paderborn e. V. (CWW). "Aber wir spüren das. Es stellt alles auf den Kopf." Denn künftig - vorgesehen ist der 1. Januar 2020 - werden nicht mehr die Einrichtungen der Behindertenhilfe als Leistungserbringer finanziert. "Es verlagert sich alles auf den Kunden. Der muss einkaufen." Lange habe man überlegt, ob man den Begriff "Kunde" für die Menschen mit Behinderung verwenden könne. Das Bundesteilhabegesetz weise ihm nun diese zentrale Rolle zu. "Der Kunde ist König. Alles dreht sich um ihn", beschreibt Vogt die Herausforderung, die auch Angehörigen und rechtlichen Betreuern von Menschen mit Behinderung Kopfzerbrechen bereitet. Denn sie müssen die Ansprüche durchsetzen.
Die konsequente Zentrierung des Bundesteilhabegesetzes auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung wird in der Behindertenhilfe zwar allgemein begrüßt. Auch von Karl-Heinz Vogt. Aber: "Ich wäre begeistert, wenn nicht auf den letzten zwei Seiten des Gesetzes der Mehrkostenvorbehalt zu finden wäre." Also die Einschränkung, dass die Veränderungen nicht mehr kosten dürfen. Schwer vorstellbar, wie das gehen soll. Matthias Schmidt, bisher Leiter der größten CWW-Einrichtung in Warburg und neuer Leiter des Fachbereiches Immobilien, hat da einen Verdacht: "Wenn man es zynisch sieht, haben die Planer vielleicht einkalkuliert, dass viele Menschen mit Behinderung ihren Anspruch nicht durchsetzen werden. Denn es ist ein sehr anspruchsvolles Verfahren."
Komplexer Organisationsentwicklungsprozess
Für den Geschäftsbereich Caritas Wohnen gem. GmbH, den Karl-Heinz Vogt verantwortet und in dem rund 1200 der insgesamt 2400 Mitarbeiter des CWW beschäftigt sind, hatte das neue Gesetz weitreichende Konsequenzen. Unter fachlicher juristischer Begleitung und externer Moderation wurde das Unternehmen in einem eineinhalbjährigen Prozess bis Mitte 2018 von Grund auf neu überdacht. Vogt: "Das war der größte Organisationsentwicklungsprozess, den ich je erlebt habe." Das bestätigt auch Bettina Weinberg, bisher Leiterin der Geschäftsstelle der Caritas Wohnen gem. GmbH, seit Jahresbeginn Leiterin des neuen Fachbereiches "Assistenz für erwachsene Menschen mit Beeinträchtigung", dem der größte Teil der Mitarbeiter zugeordnet wird. "Das Unternehmen wird von rechts auf links gezogen", beschreibt sie den radikalen Umbauprozess, der längst nicht abgeschlossen sei.
Früher Fürsorge, heute "Kundenmanagement" mit Bedarfsanalyse und Leistungsangebot
Denn mit der Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes sei schnell klar geworden: "Wir brauchen neue Geschäftsmodelle." Deshalb wurden im Entwicklungsprozess Fachbereiche erarbeitet, die dem neuen Gesetz entsprechende Leistungsangebote machen können. Das Zentrum der neuen Organisationsstruktur ist das "Kundenmanagement". Es soll Menschen mit Behinderung unterstützen und helfen, den Bedarf an Unterstützungsleistung zu ermitteln, der beim Kostenträger beantragt werden muss. Damit die Bedarfsanalyse bei jedem einzelnen der 700 Bewohner "Hand und Fuß" hat, sind 700 Mitarbeiter beauftragt worden, je einen Bewohner über drei Monate zu beobachten und seinen Bedarf an Unterstützungsleistung zu ermitteln. "Wir behaupten den Bedarf nicht einfach, wir dokumentieren ihn", erklärt Karl-Heinz Vogt. "Das Ergebnis stellen wir den rechtlichen Vertretern dann zur Verfügung." Damit können die nötigen Anträge beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe gestellt werden.
Das Organigramm der Caritas Wohnen gem. GmbH hat sich total umgekrempelt. Die bisherige, überwiegend an den stationären Einrichtungen orientierte Gliederung listet nun teils neue Fachbereiche auf. Der größte: die Assistenz für erwachsene Menschen mit Beeinträchtigung, mit der die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sichergestellt werden soll. Davon getrennt: die Pflege für Menschen mit Beeinträchtigung. Im zweiten Quartal dieses Jahres soll sie aus der Assistenz ausgegliedert werden. "Die Zukunft dieses Bereichs sehen wir wie bei einem ambulanten Pflegedienst", erklärt Bettina Weinberg. Nur wo viele pflegebedürftige Menschen mit Beeinträchtigung leben, sollen auch Pflegekräfte vor Ort sein. Eine spezielle Pflegeeinrichtung soll es jedoch nicht geben. Im Bereich Gesundheit werden die medizinischen und psychologischen Stationen sowie das Autismus-Zentrum zusammengefasst, die in der größten Einrichtung, dem Heilpädagogischen Therapie- und Förderzentrum (HPZ) St. Laurentius, in Warburg angesiedelt sind. Die Vermietung und Verwaltung des Wohnraums wurden im Fachbereich Immobilien angesiedelt, die Verpflegung, Wäsche und Hausreinigung sollen im Bereich mit dem Arbeitstitel "Catering. Care. Clean" zusammengefasst werden. Ein eigener Bereich ist "Seelsorge und Lebensberatung", in dem pastorale Angebote, Online-Beratung und die "Schatzkiste", eine Partnervermittlung für Menschen mit Behinderung, zu finden sind. Von den Gesetzesänderungen nicht betroffen ist der Bereich Kinder und Jugendliche.
Gestalten die Caritas Wohnen gem. GmbH mit Blick auf das Bundesteilhabegesetz komplett um (v. l.): Karl-Heinz Vogt, Bettina Weinberg und Tanja Heitling (Strategische Organisations- und Personalentwicklung)Markus Jonas
Die neue Struktur ermöglicht Karrieren: 70 neue Leitungskräfte wurden gebraucht
Für die Mitarbeiter ist der Organisationsentwicklungsprozess eine "sehr unruhige Zeit", sagt Matthias Schmidt. Denn alle müssen ihren Platz in dem neuen Gefüge finden, orientiert an der eigenen Fachlichkeit. Die 1200 Mitarbeiter konnten ihre Wünsche angeben, in welchem Bereich sie tätig sein wollen, und auch Interesse an einer Führungsposition bekunden. "Diese Wünsche konnten wir zu fast 100 Prozent umsetzen", sagt Bettina Weinberg. "Das Schöne an dem Prozess ist, dass die Mitarbeiter über sich und über ihre Entwicklung nachdenken können. Und sie können bei der Gelegenheit auch benennen, was nicht gut läuft, und mitwirken, dass es besser läuft." So mancher Mitarbeiter aus der zweiten Reihe habe die Gelegenheit genutzt, mehr Verantwortung zu übernehmen. So weise die neue Struktur nun 70 neue Leitungskräfte aus. Dadurch dass der Bezug auf die Einrichtungen in der Struktur aufgegeben wird, wurden aber auch neue, ortsungebundene Arbeitsverträge nötig. "Bis auf 1,5 Prozent der Mitarbeiter haben den alle unterschrieben", sagt Karl-Heinz Vogt. "Das ist ein enormer Vertrauensbeweis." Arbeitsrechtliche Konsequenzen oder Prozesse habe es nicht gegeben, obwohl manche Führungsposition weggefallen sei und dadurch auch Einschnitte bei der Vergütung nötig gewesen seien. "Das ist wirklich beachtlich", sagt Weinberg. Und dennoch: "Es hat geknirscht", gibt Matthias Schmidt zu. "Auf jeden Fall. Das ist nicht reibungslos verlaufen." Als Leiter der weitaus größten Einrichtung mit 450 Bewohnern in Warburg habe er bei einer Mitarbeiterversammlung Befürchtungen wegen der neuen Verträge zerstreuen müssen: "Glauben Sie doch nicht, dass Sie beliebig versetzt werden." Nach den vielen Veränderungsprozessen brauche es nun "Antworten auf Fragen des Alltags", sagt Schmidt. "Bis zum Sommer muss es sich noch zurechtruckeln."
Viele Fragen sind noch offen. So soll der Landesrahmenplan, der das Bundesteilhabegesetz in NRW umsetzt, erst im Mai verabschiedet werden. Dass das Gesetz wie geplant am 1. Januar nächsten Jahres umgesetzt werden kann, bezweifelt Karl-Heinz Vogt zwar. "Wir werden aber bereit sein." Die Caritas Wohnen gem. GmbH will das laufende Jahr auch nutzen, um Leistungsbeschreibungen zu erstellen und mit Preisen zu versehen. Dazu hat das Unternehmen eine Software erworben, die speziell angepasst wird und künftig auch die erstmals durch das Gesetz geforderten Wirkungsnachweise der Teilhabemaßnahmen erfassen kann. Die Dokumentation nehme dank der neuen Software und dank der Tablets in allen Wohnbereichen pro Bewohner nur noch fünf bis zehn Minuten täglich in Anspruch, sagt Vogt. Insgesamt hat die Caritas Wohnen gem. GmbH für die Software und den Organisationsentwicklungsprozess 500000 Euro investiert - ein Betrag, der in Erwartung des Bundesteilhabegesetzes zuvor an Rücklagen gebildet wurde.
Bewohner rausführen aus der erlernten Bedürfnislosigkeit
Für die Menschen mit Behinderung in den Wohneinrichtungen des CWW sollen die Veränderungen "sehr kundenfreundlich" ablaufen, wünscht sich Karl-Heinz Vogt. "Die Bewohner werden sehr behutsam an die neuen Möglichkeiten herangeführt." Und Bettina Weinberg hofft, dass diese die Bewohner "aus ihrer erlernten Bedürfnislosigkeit befreien".
Caritas Wohn- und Werkstätten im Erzbistum Paderborn e. V.
(CWW Paderborn)
Der Verein "Caritas Wohn- und Werkstätten im Erzbistum Paderborn e. V." (CWW Paderborn) mit Sitz in Paderborn bietet in 40 Einrichtungen und Diensten der Alten- und Behindertenhilfe etwa 4000 Menschen Begleitung und Betreuung und beschäftigt mehr als 2400 Mitarbeiter. Betreuungseinrichtungen und Dienste der Behindertenhilfe befinden sich schwerpunktmäßig in den Kreisen Paderborn und Höxter. Die Betreuungseinrichtungen der Altenhilfe erstrecken sich über das gesamte Erzbistum Paderborn. Der Verein gliedert sich in drei gemeinnützige GmbHs (Wohnen, Werkstätten, Altenhilfe).