Die Weichen richtig stellen!
Kernstück und zugleich völliges Neuland im BTHG ist die gesetzlich gewollte Trennung der existenzsichernden Leistungen von den Fachleistungen der Eingliederungshilfe. Auf Dauer soll dies dazu führen, dass Menschen mit Behinderung unabhängig von ihrer Wohnform bedarfsdeckende Fachleistungen erhalten. Als Caritas haben wir das BTHG begrüßt, weil es die Rechtsstellung des Menschen mit Behinderung grundsätzlich stärkt.
Mitte 2018 beschloss der NRW-Landtag das Ausführungsgesetz zum BTHG. Kostenträger und Verbände der Leistungserbringer verhandeln seitdem unter Beteiligung der Vertreter der Behindertenselbsthilfe einen Landesrahmenvertrag. Es zeichnet sich ab, dass die Trennung der Leistungen zum 1. Januar 2020 umgesetzt werden wird. Es wird aber noch einige Jahre dauern, bis das gesamte Behindertenrecht umgestellt werden kann.
Auch die Finanzierung der Leistungen in Werkstätten wird wie bisher weitergeführt werden, wobei Landschaftsverbände und Freie Wohlfahrtspflege anstreben, ein personenorientierteres System zu entwickeln. Gleiches gilt für die heilpädagogischen Kindertageseinrichtungen. Daran zeigt sich, dass ein Gesetz trotz guten Willens der beteiligten Akteure allein nicht in der Lage ist, bestehende Praxis kurzfristig zu verändern.
Manche Menschen mit Behinderung und manche Träger in und außerhalb der Caritas fragen daher: Lohnt sich der Riesenaufwand? Brauchen wir nicht für die Umsetzung mehr Zeit? Kriegen wir die mit der Umstellung verbundenen wirtschaftlichen Risiken und die Risiken für die betroffenen Menschen in den Griff?
Ich meine: Ja, der Aufwand lohnt sich, denn:
- Der neue Landesrahmenvertrag kann mittelfristig dazu beitragen, dass die Leistungsträger, insbesondere die Landschaftsverbände, die Verantwortung für bedarfsdeckende Leistungen nach BTHG-Vorgabe übernehmen (müssen). Bisher fühlten sich die Einrichtungen und Dienste in der Pflicht, fehlende Ressourcen zu kompensieren.
- Zukünftig werden Menschen mit Behinderung ihre Wohnform freier als bisher aussuchen können.
- Behinderte oder von Behinderung bedrohte Kinder werden qualitativ bessere Leistungen im Rahmen von Frühförderung erhalten, sowohl in interdisziplinären Frühförderstellen als auch in Kindertageseinrichtungen.
- Es wird nach und nach möglich sein, alternative Angebote zu Werkstätten zu schaffen für Menschen, die dort nicht beschäftigt werden möchten.
Diese Umstellungsprozesse benötigen Zeit. Diese Zeit sollten wir uns nehmen und sie gleichzeitig nutzen, um Dienstleistungs- und Finanzierungsprozesse anzupassen. Und wir müssen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter qualifizieren und damit der Gefahr vorbeugen, dass Dienstleistungen technokratisch erbracht werden anstatt auf der Beziehungsebene. Wir brauchen Zeit, um die Strukturen so anzupassen, dass Menschen mit Behinderung wirklich selbstbestimmt entscheiden können. Hierzu zählt auch, dass wir Maßnahmen ergreifen, um Menschen mit Behinderung zu befähigen, ihre Ansprüche durchzusetzen.
Die Caritas wird daher weiterhin Vertretungsstrukturen von Menschen mit Behinderung sowie deren Angehörige in den Einrichtungen und Diensten unterstützen. Wir werden Beratungsangebote wie z. B. Peerberatung entwickeln, die die Eigenständigkeit der Menschen mit Behinderung stärken. Wir werden Menschen mit Behinderung anbieten, sie durch qualifizierte Fachkräfte beim Gesamt- und Teilhabeplanverfahren zu unterstützen. Und wir werden Rahmenbedingungen schaffen, damit Menschen mit Behinderung ihre bedarfsdeckende Leistung auch juristisch durchsetzen können.
Zum 1. Januar 2020 wird die Leistungserbringung für Menschen mit Behinderung nicht auf den Kopf gestellt werden. Wäre dies notwendig, hätten wir in den vergangenen Jahrzehnten etwas grundlegend falsch gemacht. Es bietet sich aber die Chance, jetzt im Rahmen der landesrahmenvertraglichen Regelungen die Weichen für mehr Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe richtig zu stellen. Nutzen wir diese Chancen!