Die Frühförderung ist bereits gut aufgestellt
Wenn Eltern mit der Tatsache konfrontiert werden, dass ihr Kind gesundheitlich beeinträchtigt ist, beginnt für sie eine schwere Zeit: Ist es meine Schuld? Habe ich während der Schwangerschaft etwas falsch gemacht? Das sind erfahrungsgemäß die ersten Fragen, die sich aufgewühlte Mütter stellen. Für sie ist das energische "Nein!", das Maria Andrino dieser Befürchtung entgegenstellt, eine große Erleichterung. Die promovierte Kinderärztin und Genetikerin in der Interdisziplinären Frühförderstelle (IFF) im Franz Sales Haus in Essen kennt die Nöte der Familien, die sich mit komplexen Diagnosen auseinandersetzen müssen. Mehr noch: damit leben müssen! Und vor allem: diese managen müssen. Wobei es ihr wichtig ist, die verschiedenen Beeinträchtigungen - von Entwicklungsverzögerungen bis hin zu Behinderungen - zu differenzieren und zu erklären. "Sie selbst tragen eine Brille", sagt sie zu mir, "somit sind Sie ohne Brille daran gehindert, klar zu sehen. BE-HINDERUNG bedeutet, daran gehindert zu sein, etwas Bestimmtes zu tun. Durch Assistenz, Hilfsmittel etc. gilt es diese Teilhabe zu ermöglichen."
Am Beispiel der geistigen Behinderung stellt Andrino dar, dass es keine Erkrankung, sondern eine andere Denk- und Betrachtungsweise ist: "Menschen mit geistiger Behinderung haben uns ach so kopfgesteuerten Menschen viel voraus. Hier können wir viel lernen und den Perspektivwechsel einüben." Einmal eingenommen, ist dieser Perspektivwechsel wohltuend für betroffene Familien, für die nach der Diagnose eine große Odyssee im Labyrinth der Hilfsangebote und ihrer jeweiligen komplizierten Verwaltungsauflagen beginnt.
"Früher war es so, dass das Gesundheitssystem kastenförmig aufgebaut war. Die Eltern mussten von A nach B rennen, um sich Hilfe von unterschiedlichen Disziplinen zu holen. Der große Nachteil: Die jeweiligen Einrichtungen waren nicht miteinander verknüpft - dabei kommt es gerade hier auf funktionierende Netzwerke an", erklärt Andrino.
Denn eigentlich sind Hilfe- und Unterstützungsmöglichkeiten erfreulich vielfältig und können hervorragend aufeinander abgestimmt werden, wenn die verschiedenen Experten miteinander kommunizieren. Den Themen Kommunikation und Kooperation widmet sich die vielseitig ausgebildete Fachfrau mit ganzem Herzen, sie sieht in der Interdisziplinären Frühförderung (IFF) vor allem eine Riesenchance.
Auf dem Weg zu Andrinos Büro war ich am Warteraum vorbeigegangen und hatte viele Mütter mit kleinen Kindern gesehen. Es herrschte eine gelöste Atmosphäre, in der Kinder im Alter von wenigen Monaten bis zum Schuleintritt friedlich spielen, Mütter sich entspannt unterhalten und so ganz nebenbei ihr persönliches Hilfsnetzwerk erweitern. Erst im Rückblick fällt mir auf, dass ich hier kein einziges Kind mit einer Beeinträchtigung wahrgenommen habe. "So soll es sein", lächelt Maria Andrino. Für sie ist das Netzwerken ein ganz zentrales Thema, das sie konsequent und deutschlandweit betreibt.
In beiden Interdisziplinären Frühförderstellen SchIFF 1 und 2 werden insgesamt rund 300 Familien betreut, die bis zu dreimal in der Woche Angebote wahrnehmen können - in Einzelmaßnahmen oder Gruppentherapien, wobei Heilpädagogik, Physiotherapie, Logotherapie, Ergotherapie, Reittherapie bei der gemeinsamen Stundengestaltung ineinandergreifen. Darüber hinaus erhalten die Familien weitere Unterstützung, zum Beispiel bei der gemeinsamen Zielsetzung mit Kindergärten oder anderen beteiligten Institutionen.
Und eine Botschaft liegt der Fachfrau am Herzen: "Nicht der beeinträchtigte Mensch hat Barrieren, sondern die Gesellschaft, die zum Beispiel statt Treppen einfach nur Rampen einplanen muss. Um genau diesen Perspektivwechsel geht es!"
Claudia Weiss
Franz Sales Haus
Interdisziplinäre Frühförderstelle
Steeler Straße 261
45138 Essen
Bundesteilhabegesetz
Änderungen in der Frühförderung und ihre Auswirkungen
"Die Kosten der Komplexleistung Frühförderung teilen sich bis dato das Sozialamt einer Stadt und die jeweilige Krankenkasse des Kindes. Nun wechselt der Kostenträger von der Stadt zum Land: Für das Franz Sales Haus bedeutet das, dass nun anstelle des Sozialamtes der Stadt Essen der Landschaftsverband Rheinland (LVR) zuständig ist. Diesen Wechsel schätze ich als unkompliziert ein, solange der LVR seine Rolle als Kostenträger in der gleichen Schnelligkeit und kooperativen Dynamik wie das Sozialamt erfüllt. Die jeweilige Krankenkasse bleibt als zweiter Kostenträger erhalten.
Eine weitere Änderung beinhaltet, dass zukünftig neben den Interdisziplinären Frühförderstellen auch andere Einrichtungen zugelassen werden sollen. Hierbei geht es um nach Landesrecht zugelassene Einrichtungen mit einem vergleichbaren interdisziplinären Förder-, Behandlungs- und Beratungsspektrum: Das sehe ich kritisch!
Hier bleibt abzuwarten, inwiefern hier die gleichen Qualitätsstandards erfüllt werden.
Mein Fazit: Die Änderungen in der Komplexleistung Frühförderung im Kontext des BTHG (§ 46 SGB IX RefE) sehe ich positiv, solange die beteiligten Akteure das Gesetz
zugunsten der betroffenen Kinder und ihrer Familien lesen: Es geht um ihre Förderrechte und die daraus resultierenden individuellen Teilhaberechte in der Gesellschaft - und da, wo ein Kind sein ihm zustehendes Recht nicht erhält, gilt es sich einzumischen!"