Unter Ideologieverdacht
Mai 2013
Eine sympathisch auftretende Journalistin, mit diversen Preisen ausgezeichnet, man trifft sie in Talkshows an, und sie liest aus ihrem jüngst erschienenen Buch über kirchliche Arbeitsverhältnisse. Dabei bemüht sie unter anderem den typischen Fall einer katholischen Erzieherin, die ihren Dienst quittieren musste, weil sie nach gescheiterter Ehe eine neue Partnerschaft einging. Eva Müller berichtet jedoch nicht nur hierüber, sondern publizierte einen Rundumschlag gegen die Kirchen, das kirchlich getragene Ersatzschulwesen, die Beschäftigungs- und Vergütungsregelungen der konfessionellen Wohlfahrtsverbände und anderes mehr.
Nach dem ersten Anlesen des Textes steht man vor der Frage, ob eine journalistische Streitschrift, die sich primär dadurch auszeichnet, engagiert und polemisch zu argumentieren, überhaupt einer angemessenen fachlichen Beurteilung zugänglich ist. Das Buch erweckt den Anschein solider Recherche. Jedoch sind die ohne Beleg vorgetragenen wörtlichen oder sinngemäßen Zitate nicht verifizierbar und schaden dem Transparenzanspruch. Auch wenn eine journalistische Arbeit keinem wissenschaftlichen Anspruch genügen muss, ein Beispiel für solide recherchierenden Fachjournalismus ist sie leider auch nicht.
Trotz der geschilderten Schwierigkeiten soll dennoch der Versuch unternommen werden, auf einige der angesprochenen Themen, die die diakonische und caritative Arbeit betreffen, einzugehen.
Die Autorin thematisiert einige Aspekte, die mit der gezielten Ausgründung von Einrichtungen oder Diensten diakonischer Träger zusammenhängen. Ihr Kernargument ist, dass die Mitarbeiter(innen) zu für den Träger kostengünstigeren Bedingungen, also niedrigeren Vergütungen, beschäftigt werden. Das mag in den angesprochenen Fällen so sein, nur wird der Anschein erweckt, als handele es sich um ein grundsätzliches Phänomen. Dies ist faktisch bei den meisten kirchlichen Tarifwerken falsch. Ziemlich gewagt ist die These, dass es den Mitarbeiter(inne)n ökonomisch besser ginge, wenn die Träger den Weg des eigenen kirchlichen Arbeitsrechts verließen und künftig Vergütungen zwischen Tarifpartnern - kirchliche Arbeitgeber auf der einen und Gewerkschaften auf der anderen Seite - ausgehandelt würden. Eva Müller hätte sich in ihrer Publikation gründlicher mit den sozial- und gesellschaftspolitischen Entwicklungen der letzten Jahre befassen müssen, um den Lesern einen Blick auf die eigentlichen Hintergründe mancher Problemlagen des sozialen Dienstleistungssektor zu eröffnen. So werden etwa Pflegeleistungen, berücksichtigt man die Qualität der Ausbildung der Fachkräfte und deren Belastung, gegenüber anderen - etwa handwerklich-technischen Dienstleistungen - deutlich unterbewertet. Angesichts der privatwirtschaftlichen Öffnung des sozialen Dienstleistungssektors suchen die Sozialleistungsträger nach möglichst wirtschaftlichen Lösungen und drücken ihre Kosten letztlich zulasten der Beschäftigten, egal bei welchen Trägern sie angestellt sind. Die Vergütungen im Sozialsektor hängen von den Bedingungen geregelter Märkte ab. Nur unterhalb der von Verhandlungssphären der Sozialversicherungsträger und der öffentlichen Hände geschaffenen Rahmenbedingungen und Vorgaben gibt es einen Anbieterwettbewerb. Wenn wie in den vergangenen Jahren diese Leistungsträger aufgrund des Wettbewerbs Sparpotenziale erkennen und in den Verhandlungen durchsetzen können, dann geraten die Leistungserbringer in die Situation, dass sie auch ihre Personalkosten reduzieren müssen. Die beklagten Ausgründungen sind vor allem Reaktionen auf die sich ergebenden "Kostenscheren" zwischen dem, was man dem Personal zahlen möchte oder aufgrund von Tarifen zahlen muss, und dem, was man refinanziert erhält.
Und es gibt noch ein weiteres Phänomen: Dort, wo bis vor wenigen Jahren ausnahmslos diplomierte Sozialarbeiter oder Sozialpädagogen tätig waren, sind es heute schlechter bezahlte Erzieher und Erzieherinnen. Hinzu kommt die Ersetzung von Dauerarbeitsplätzen durch befristete Projektstellen. Das ist in vielen Sozialbranchen leider unverminderter Trend und nicht den Wohlfahrtsverbänden anzulasten. Notabene haben auch Kommunen in den letzten Jahren Tätigkeitsfelder in eigene Gesellschaften ausgegründet, um aus dem Tarifwerk des öffentlichen Dienstes zu fliehen. Also bitte: Eine Schelte an solchen Vorgängen ausschließlich am Beispiel kirchlicher Träger festzumachen, das provoziert geradezu den Ideologieverdacht gegenüber einer journalistischen Arbeit!
Die Autorin geht in der Gesamtrichtung ihrer Vorwürfe und Argumentationen fehl. Sie klagt die Kirchen mit ihren gemeinnützigen Wohlfahrtsverbänden an, weil sie einen sozialwirtschaftlichen Rechtsraum gestalten, der ihnen seit der Weimarer Verfassung - mit Unterbrechung durch die Zeit des Nationalsozialismus und der DDR - in einem demokratischen Rechtsstaat zugebilligt wird. Dieses Recht kann man ja durchaus unpassend finden, ja sogar demokratisch bekämpfen. Aber diejenigen, die geltendes Recht ausüben und gestalten, darf man nicht deswegen anklagen, dass sie das tun und sich dabei auch noch unter die staatlichen Kriterien der Gemeinnützigkeit stellen. Denn auch die steuerlichen Gemeinnützigkeitsvorschriften haben ihre Haken und stellen die Träger nicht in jeder Beziehung besser. Um dies darzulegen, bedürfte es allerdings eines spartenbezogenen ausführlichen finanzwirtschaftlichen Diskurses.
Wenn wir wieder zu den Arbeitsverhältnissen zurückkehren, so muss auch noch ein anderer Punkt thematisiert werden. Die sozialen Dienstleistungen lassen sich nur vor Ort ausüben und lassen den Trägern kaum einen "Mobilitätsspielraum". Große Industriekonzerne lagern, was die Kirchen sowie Diakonie und Caritas nicht können, ganze Abteilungen unter dem Motto "Shared Services" ins osteuropäische Ausland oder global aus. Die Kostenvorteile liegen dabei nicht bei zwei oder fünf Prozent, sondern im zweistelligen Bereich. Die Gehälter bewegen sich manchmal nicht einmal auf der Höhe eines Viertels der in Deutschland zu zahlenden Vergütungen - und in Deutschland fallen zeitgleich die Jobs weg! Nun kann man das in manchen Fällen noch als "Entwicklungshilfe" verkaufen, wenn denn nicht die Vergütungen der Manager(innen) zeitgleich exorbitant in die Höhe schnellen würden. Hoffentlich passiert uns das in Krankenhäusern nicht auch irgendwann: Wir werden auf eine Operation vorbereitet, zur preiswerten Operation ins Ausland geflogen, zurückgebracht und "nachversorgt".
Private Krankenhäuser bedienen die Aktionäre
Apropos Krankenhäuser. Zu den kirchlichen Krankenhäusern heißt es bei Müller: "Von ihrem Geld gibt die Kirche nichts in das laufende Geschäft" (S.107), und sie lässt sogleich einen Oberkirchenrat sprechen: "Wir wären pleite, wenn wir das ein halbes Jahr so machen würden." Müllers Argumentation läuft darauf hinaus, dass "öffentlich finanzierte" (was heißt das eigentlich?) Einrichtungen nicht den Weg eigenen kirchlichen Arbeitsrechts gehen dürften. Die Verfasserin verschweigt den Sachverhalt, dass seit Jahren mit massiven Marktzuwächsen auch gewinnorientierte und teils börsennotierte Konzerne in gleicher Weise finanziert werden. Eine privatwirtschaftlich geführte Klinikkette ist ebenso "öffentlich finanziert", doch sie bedient zudem noch ihre Aktionäre, und auch dies aus den Erträgen des solidarischen Krankenversicherungssystems! Würde Eva Müller verlangen, dass die Vergütungssysteme sich dort strikt am Tarif des öffentlichen Dienstes ausrichten müssen? Sollten die Aktiengesellschaften erwirtschaftete Gewinne an die Krankenversicherungen abführen? Vom generellen Unterschied zwischen gemeinnützigen und gewinnorientierten Unternehmungen der Sozialwirtschaft erfährt der Leser nichts.
Abschließend sei angesprochen - von Eva Müller kann dies angesichts ihrer ideologischen Positionierung wohl nicht mehr erwartet werden -, dass die kirchliche Wohlfahrtsarbeit sich nicht in der Tätigkeit refinanzierter Sozialunternehmen erschöpft. Die entfaltete organisatorische Logistik ermöglicht auch die Unterstützung von Hilfen und Diensten, die wesentlich von Ehrenamtlichen und Freiwilligen getragen und nicht durch öffentliche Kassen finanziert werden. Sie werden vielfach "huckepack" genommen und auch quersubventioniert. Der Vorteil kirchlicher Wohlfahrtsverbände besteht zudem darin, dass sie sich sehr fundiert in der Sozialpolitik engagieren und damit auch eine Anwaltsfunktion für Menschen wahrnehmen. Dies und die pastorale Arbeit werden aus kirchlichen Mitteln finanziert. Das wird immer schwieriger, weil Menschen wie Eva Müller aus der Kirche ausgetreten sind oder nicht mehr in die Kirchen eintreten.
Eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Kirche bedarf eines deutlich höheren Argumentationsaufwandes. Debatten über unterschiedlich geregelte Arbeitsverhältnisse müssen mit Daten und Fakten hinterlegt werden. Und die Tätigkeit gemeinnützig geführter und nicht allein nach ökonomischen Kriterien arbeitender Sozialunternehmen kann nur in einem größeren gesellschaftspolitischen Zusammenhang angemessen reflektiert werden.
Müllers Publikation vermag aufzuregen oder den Leser in seiner Voreingenommenheit zu bestärken. Sie klärt im eigentlichen Sinne leider nicht auf. Das ist schade, denn wir brauchen eine sachgerechte und engagierte Debatte über die Zukunft sozialer Dienste und der Sozialwirtschaft.