Arbeitgeber Caritas
Caritas in NRW: Die Kirchen und damit auch die Caritas haben nach der Verfassung das Recht, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Warum?
Heinz-Josef Kessmann: Dieses Recht hat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aus der Weimarer Reichsverfassung übernommen. Der Staat respektiert, dass sich Menschen an ihre Kirche, an ihre religiöse Vereinigung in einem besonderen Maße gebunden fühlen und der Staat an dieser Stelle nicht eingreifen und übergriffig werden darf. Den Vätern und Müttern des Grundgesetzes war nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus klar, dass sich unser Staat seine Grundlagen nicht vollständig selber schaffen kann, sondern an Werten und wertorientierten Religionsgemeinschaften ein eigenes Interesse haben muss.
Caritas in NRW: Die Politik wünscht Wertorientierung für die Gesellschaft?
Heinz-Josef Kessmann: Ja, das hört man jedes Jahr neu, wenn man Weihnachtsansprachen oder Neujahrsansprachen hört. Auch die Ministerpräsidentin des Landes NRW hat beide Anlässe sehr deutlich genutzt, um einzufordern, dass unser Staat eine Wertorientierung braucht und dass unser Zusammenleben in der Gefahr ist, Werte zu verdrängen. Wenn solche Reden nicht nur Sonntagsreden sind, muss unsere Gesellschaft wertegebenden Institutionen einen besonderen Rang einräumen.
Für die Freien Träger der Wohlfahrtspflege - und damit auch für die Caritas - heißt das: Es entspricht den Erfahrungen aus dem Nationalsozialismus, dass wir sagen, überall da, wo es um die Pflege, um die Erziehung, um die Heilung, um die Beratung von Menschen geht, wollen wir nicht eine einheitliche staatliche Leistung. Der Staat hat ein Interesse an einem Wertepluralismus, also muss er auch eine Vielfalt der Träger zulassen, immer dort, wo es um den Menschen geht. Unabhängig davon, wie die Finanzierung dieser Träger ist oder ob der eine etwas teurer oder der andere etwas billiger ist.
Wir als Caritas streben nicht nach Gewinnmaximierung, wir streben aber auch nicht nach Marktbeherrschung. Pluralität heißt, verschiedene Träger, sei es die AWO, sei es die evangelische Diakonie, sei es die Caritas, haben ihren Anspruch und ihr Recht, in diesem Feld tätig zu sein. Uns muss die Betätigungsmöglichkeit der AWO genauso viel wert sein wie die Betätigungsmöglichkeit der Caritas. Wenn wir aber für den Staat Aufgaben übernehmen, die er im Sinne der Daseinsfürsorge für seine Bürger zu gewährleisten hat, dann erwarten wir natürlich auch eine entsprechende Finanzierung.
Caritas in NRW: Warum soll nicht der, der bezahlt, auch die Regeln bestimmen?
Heinz-Josef Kessmann: Weil demjenigen, der bezahlt, die Wertorientierung und die Pluralität der Träger lieb und teuer sein müssen. Und weil er weiß, dass er das nicht so gut kann und nicht einen entsprechenden wertorientierten Zugang ermöglichen kann.
Caritas in NRW: Konservative Katholiken fordern den Rückzug der Caritas aus der Welt. Auf der anderen Seite kritisieren etliche Medien und Politiker das katholische Arbeitsrecht in Krankenhäusern, Kindergärten und Altenheimen und fordern die Streichung von staatlichen Zuschüssen. Sollte die Caritas reagieren und Einrichtungen abgeben, z. B. da, wo sie eine besonders starke Stellung hat?
Heinz-Josef Kessmann: Wir würden das manchmal gerne tun, wenn Refinanzierungen unserer Arbeit mit einem Selbstverständnis gestrichen oder gekürzt werden, als wäre es das Einfachste, es morgen, am nächsten Tag, selbst umzusetzen. Es ist nicht so, dass Träger haufenweise bereitstehen, diese dringend notwendigen gesellschaftlichen Aufgaben zu übernehmen. Wer soll es denn dann tun? Ich glaube nicht, dass Kommunen bereit sind, Krankenhäuser von einem katholischen Träger zu übernehmen, weil sich gezeigt hat, dass die Kommunen diese Aufgabe vielfach schlechter wahrnehmen können als die Kirche und die Caritas. In einer kommunalen Trägerschaft bestimmen z. B. politische Einflüsse das Geschehen noch mal in besonderer Weise, und man weiß ja auch, dass Entscheidungsprozesse in Ratssitzungen nicht unbedingt schnell verlaufen. Trotzdem schauen wir als Caritas im katholischen Münsterland sehr wohl, dass wir nicht jede Trägerschaft, die uns angeboten wird, übernehmen. Wenn es in einer Kommune nur katholische Tageseinrichtungen für Kinder gibt, dann übernehmen wir die nächste Tageseinrichtung nicht. Das ist erklärte Linie des Bistums Münster bei der Übernahme von Trägerschaften für Tageseinrichtungen. Das ist manchmal den Pfarrgemeinden sehr schwer zu vermitteln. Aber es muss immer auch andere Träger geben, sonst verlieren wir die Berechtigung, unsere Wertorientierung zu leben.
Caritas in NRW: Streikverbot, keine gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften, nach einer Scheidung nicht wieder heiraten. Gilt das deutsche Arbeitsrecht für kirchliche Arbeitnehmer nicht?
Heinz-Josef Kessmann: Die Kirchen haben das Recht, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln - im Arbeitsrecht haben sie es getan. Die deutschen Bischöfe haben die Grundordnung des kirchlichen Dienstes erlassen, und diese Grundordnung klärt im Prinzip auch das, was das kirchliche Arbeitsrecht ausmacht. Hier gibt es eine besondere Form der Lohnfindung, nämlich in paritätisch besetzten arbeitsrechtlichen Kommissionen. Das ist der sogenannte "Dritte Weg" des Arbeitsrechts. Der zweite Regelungsinhalt umfasst besondere Erfordernisse an Dienstgeber und Dienstnehmer in der katholischen Kirche. Ich sage bewusst an Dienstnehmer und Dienstgeber, weil sehr häufig nur die Loyalitätserfordernisse der Mitarbeiter im Blick der öffentlichen Diskussion sind, die Grundordnung des kirchlichen Dienstes verlangt aber sehr wohl auch von den Dienstgebern bestimmte Erfordernisse.
Caritas in NRW: Loyalitätspflichten von Arbeitnehmern gibt es auch bei großen Industrieunternehmen oder anderen Verbänden. In der katholischen Kirche und bei der Caritas erstrecken sie sich in besonderem Maße auf die persönliche Lebensführung. Wer nach einer Scheidung wieder heiratet, kann nicht länger bei der Caritas arbeiten. Ist das generell so?
Heinz-Josef Kessmann: Man versteht die Grundordnung der kirchlichen Dienste und damit das kirchliche Arbeitsrecht nur dann angemessen, wenn man die Grundidee mitbedenkt: Wir verstehen den Dienst unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Teil des Sendungsauftrags der Kirche. Wir sagen damit von vornherein: Wir betrachten diesen Dienst als etwas Besonderes, wir betrachten unsere Mitarbeiter als etwas Besonderes, weil sie sich dazu bereit erklären, am Sendungsauftrag der Kirche mitzuwirken.
Caritas in NRW: Wie wirkt man am Sendungsauftrag der Kirche mit?
Heinz-Josef Kessmann: Für die Caritas heißt das natürlich, den Menschen ein Beispiel für die liebende Nähe Gottes in der Welt zu geben. Es bedeutet, denjenigen beizustehen, die von Not, Elend, Sorge betroffen sind, sie zu trösten, ihnen zu helfen. In anderen Bereichen des kirchlichen Dienstes gehört zum Sendungsauftrag die Verkündigung des Evangeliums oder auch die Arbeit in den Pfarreien. Das ist Teil dessen, was zum Unverzichtbaren unserer Kirche gehört. Seit der Enzyklika "Deus caritas est" wissen wir, dass die Caritas ein Grundvollzug unserer Kirche ist.
Caritas in NRW: Was heißt Grundvollzug?
Heinz-Josef Kessmann: Grundvollzug bedeutet, unser Dienst ist Teil des unverzichtbaren Auftrags und der Sendung der Kirche in unserer Welt.
Caritas in NRW: Wer ist gemeint, wenn es heißt "die Kirche"?
Heinz-Josef Kessmann: Alle getauften Christen, die Mitglieder unserer Kirche sind, wirken am Sendungsauftrag mit. Das braucht nicht einmal hauptamtlich zu geschehen, auch das ehrenamtliche Engagement, auch der Gottesdienstbesuch sind ein Mitwirken am Sendungsauftrag.
Caritas in NRW: Der hauptamtliche Dienst ist dann aber arbeitsvertraglich geregelt?
Heinz-Josef Kessmann: Dieser Dienst muss ein repräsentatives Beispiel der Sendung der Kirche sein und den Grundüberzeugungen der Kirche entsprechen. Im Prinzip verlangt eigentlich jeder Arbeitgeber in der Bundesrepublik, dass seine Mitarbeiter glaubwürdige Repräsentanten ihrer Firma sind. Kein Mitarbeiter eines normalen Arbeitgebers wird ungestraft gegen diesen in der Öffentlichkeit wettern dürfen und ihn beschimpfen dürfen.
Caritas in NRW: Bei Industrieunternehmen spricht man von "Corporate Identity" und "Corporate Behaviour"?
Heinz-Josef Kessmann: Genau, auch wenn das dort nicht immer schriftlich fixiert sein muss. Die Grundordnung des kirchlichen Dienstes regelt diesen Verhaltenskodex explizit und macht die Einhaltung damit überprüfbar. Die Kirche fordert Loyalität, weil sie glaubwürdige Repräsentanten ihres Sendungsauftrags und damit ein glaubwürdiges Zeugnis ihres Verständnisses vom Menschen will. Dabei entspricht es dem Wesen der Kirche, dass die Grundordnung nicht automatische Sanktionen nach der Relation "wenn - dann" vorsieht, sondern dass es sehr wohl ein gestuftes Verständnis von Loyalitäten gibt. Von einer Putzfrau wird nicht die gleiche Loyalität zum Dienstgeber erwartet wie von einem Diözesan-Caritasdirektor. Das gilt für alle Erwartungen an das private Leben. Bei einem Verstoß gegen diese Loyalitätserfordernisse ist nach der Erklärung der deutschen Bischöfe zum kirchlichen Dienst im Einzelfall gestuft und unter konkreter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände zu entscheiden. Es entspricht nicht dem Prinzip der Grundordnung, dass in jedem Fall und für jede Art von Dienst die Wiederverheiratung nach Scheidung unweigerlich zur fristlosen Kündigung führt. Die Grundordnung macht sehr deutlich, dass z. B. die Auflösung des Arbeitsvertrages tatsächlich die "Ultima Ratio" ist. Es gibt im Vorhinein eine Vielzahl von anderen dem Einzelfall angemessenen Reaktionsformen, mit denen der Dienstgeber auf einen Verstoß gegen die Grundordnung reagieren kann und reagieren muss.
Caritas in NRW: Wiederheiraten nach Scheidung, Zusammenleben vor der Ehe. Viele Menschen haben das Gefühl, das ist ihre Privatsache, und sie verstehen nicht, warum sich die Kirche oder Caritas als Dienstgeber so weit in ihr Privatleben einmischt.
Heinz-Josef Kessmann: Mit der Säkularisierung der Gesellschaft gibt es einen Einschätzungswandel. Stärker als früher wird der Kirche vorgehalten: In diesem Bereich dürft ihr nicht nachfragen, und das dürfte euch nicht interessieren, was wir konkret tun. Die Kirche glaubt dagegen an die Gottgegebenheit und Gottgesegnetheit der Ehe. Wir halten fest daran, dass dieses Bündnis zwischen Mann und Frau auf "bis dass der Tod uns scheidet" Bestand hat. Solch ein Versprechen kann nicht mal eben so zurückgegeben werden. Solange die Kirche davon überzeugt ist, braucht sie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die das auch leben, die diesen Glauben repräsentativ in unserer Gesellschaft weiterhin vertreten. Ein Mitarbeiter der Caritas sollte dieses Verständnis von der Ehe haben und auch für sich verbindlich leben, sonst ist er nicht glaubwürdig. Aufgesetztes Getue ist eigentlich genauso ein Verstoß gegen das, was uns ausmacht.
Allerdings müssen wir uns als Kirche und Caritas tatsächlich klarer werden darüber, dass heute dieses Verständnis von der Unauflösbarkeit der Ehe im alltäglichen Leben unserer Gesellschaft sehr viel schwerer zu leben ist und es von daher empirisch und auch von der Überzeugung der Menschen sehr viel ungewöhnlicher ist. Deswegen müssen wir mit einer solchen Vorschrift sehr gut überlegen, ob sie denn die Menschen noch erreicht. Den Prozess, den die Deutsche Bischofskonferenz eingeleitet hat, verstehe ich auch als ein Zeichen dafür, zu sagen, wir geben nicht die Unauflösbarkeit der Ehe auf, sondern wir akzeptieren, dass in der heutigen Gesellschaft diese sehr viel schwerer zu leben ist als früher.
Caritas in NRW: Kollidiert der Anspruch der Caritas auf Einhaltung von sittlichen Normen und Regeln nicht auch mit dem selbst gewählten Auftrag, barmherzig und menschlich zu sein und sich einzusetzen für Schwache und Benachteiligte?
Heinz-Josef Kessmann: Die Frage zielt auf unseren Umgang mit unseren Mitarbeitern. Wenn wir Dienstgeber - und das lasse ich jetzt auch mal gegen mich persönlich gelten - nicht in jedem Einzelfall sehr genau prüfen würden, was wir tun, dann würden wir uns der Unbarmherzigkeit schuldig machen. Das würde nicht unserer inneren Überzeugung und unserem Bild vom Menschen entsprechen. Die kirchliche Grundordnung - und das steht wörtlich im Begleit-schreiben der Bischöfe - fordert die Beurteilung des Einzelfalls auch mit dem Blick der Barmherzigkeit.
Caritas in NRW: Bei den in den Medien dargestellten Fällen, wo Mitarbeiter der Kirche und der Caritas aus dem Dienst entlassen wurden, sollte in jedem Fall eine Einzelfallprüfung stattgefunden haben?
Heinz-Josef Kessmann: Auf jeden Fall. Ich gehe davon aus, dass sie stattgefunden hat. Mir steht das nicht zu, irgendeinen Einzelfall aus der Ferne zu bewerten. Aber in all diesen Einzelfällen musste eine Bewertung stattfinden, und da muss man eben den leitenden Arzt einer Klinik anders bewerten als eine Kindergartenleiterin und diese wiederum anders bewerten als eine Putzfrau. Das persönliche Verhalten der entsprechenden Person, ihre Motive müssen vom Dienstgeber angemessen berücksichtigt werden.
Caritas in NRW: Wer sich entscheidet, in den kirchlichen Dienst zu gehen, bei der Caritas zu arbeiten, der weiß vorher, wozu er sich entscheidet?
Heinz-Josef Kessmann: Ich gehe davon aus. Hier im Diözesan-Caritasverband Münster wird darauf sehr genau geachtet, und wir beraten auch unsere Mitglieder sehr intensiv dazu. Die Grundordnung des kirchlichen Dienstes muss Gegenstand des Bewerbungsgespräches sein.
Caritas in NRW: Wer den Arbeitsvertrag unterschreibt, weiß, was er da unterschreibt und welche Folgen sein Verhalten haben kann?
Heinz-Josef Kessmann: Er weiß, was er von seinem Dienstgeber erwarten kann und was der Dienstgeber von ihm erwartet. Zum gestuften System der Loyalität muss es in der Regel mündliche Erläuterungen geben. Menschen, die im Erziehungsdienst tätig sind und damit auch sehr viel direkter persönliches Beispiel ablegen, sind eben anders zu bewerten als jemand, der vielleicht in der Verwaltung tätig ist.
Caritas in NRW: Das Streikrecht für Arbeitnehmer gilt als Menschenrecht. Warum verweigern die Kirchen dies ihren Mitarbeitern?
Heinz-Josef Kessmann: Die katholische Kirche ist nicht gewerkschaftsfeindlich, und auch die katholische Kirche spricht sich nicht gegen das Recht der Menschen aus, sich in Gewerkschaften zu engagieren, sonst hätten wir die katholische Soziallehre auch nicht richtig verstanden. Aber der Dienst in der Kirche und in der Caritas ist Teil des Sendungsauftrags der Kirche. Diesen Dienst kann man nicht bestreiken, man kann nicht nachlassen in der Umsetzung des Auftrags der Kirche, man kann nicht nachlassen in dem Dienst am Nächsten. Trotzdem muss es Regelungen geben, auch auf dem "Dritten Weg", der die Rechte der Mitarbeitenden, die Rechte der Dienstnehmer, stärkt. Dazu haben wir paritätisch besetzte Kommissionen, und wir haben bei Beschlüssen sehr hohe Quoren, die sicherstellen, dass die Dienstnehmer überwiegend ebenfalls eine gefundene Lösung mittragen. Darüber hinaus gibt es eine abschließende Schiedsstellenvereinbarung, die eine Blockade einer Seite verhindert. Das hat das Bundesarbeitsgericht letztens in seinem Urteil (vom 20.11.2012, die Red.) sehr klar gebilligt. Wenn es aber solche Regelungen gibt, die nicht von vornherein die Rechte der Dienstnehmer einschränken, und wenn dieser "Dritte Weg" wirklich originalgetreu gelebt wird, dann ist es rechtens, den Streik nicht zuzulassen. So hat das Gericht geurteilt.
Als jemand, der in diesem Arbeitsrecht eine besondere Funktion hat (= als unparteiischer Vorsitzender der Arbeitsrechtlichen Kommission auf Bundesebene, die Red.), habe ich in der Bundeskommission der Caritas deutlich gemacht: Wenn der kirchliche Dienstgeber von sich aus ohne Beteiligung der Dienstnehmerseite zwischen zwei Tariflösungen wählen will, dann entspricht das nicht dem "Dritten Weg". Dann sind die Rechte der Mitarbeitenden eingeschränkt, und sie haben das Recht zu streiken. Aus dem Gerichtsurteil zum Streikrecht müssen wir für uns die Konsequenzen ziehen, dass wir sehr stringent und klar in der Umsetzung des "Dritten Weges" sind. Ich halte die im Augenblick kirchenintern laufende Entscheidung, welcher Träger sich zur kirchlichen Grundordnung bekennt und welcher Träger nicht dazugehört, für einen guten Prozess, um die Anwendung kirchlichen Arbeitsrechtes zu klären.
Worüber wir alle noch nachdenken werden, ist das, was das Gericht zur Beteiligung der Gewerkschaften am "Dritten Weg" gesagt hat. Da warten wir auf die schriftliche Urteilsbegründung. Momentan ist auch nicht erkennbar, was sich die Gewerkschaften vorstellen und was die Dienstnehmer in der Caritas wünschen und ob beides übereinander passt.
Caritas in NRW: Wie ist es mit den wesentlichen Dingen, die in den paritätisch besetzten arbeitsrechtlichen Kommissionen ausgehandelt werden? Sind die Mitarbeiter bei der Caritas schlechter bezahlt als in anderen Verbänden, wo sie streiken können?
Heinz-Josef Kessmann: Innerhalb der Freien Wohlfahrtspflege bewegen sich die Tarife alle ungefähr in einem Korridor. Dabei repräsentiert die Caritas auf jeden Fall nicht den untersten Wert dieses Korridors, sondern ist an vielen Stellen tatsächlich der bestbezahlende Arbeitgeber. Wir haben in den unteren Lohngruppen, verglichen mit anderen Anbietern, eine hohe Vergütung. Anderswo liegt die Caritas im Durchschnitt. Wir haben zudem eine relativ hohe Tarifbindung innerhalb der Caritas. 85 bis 90 Prozent der uns angeschlossenen Träger zahlen nach Tarif, das ist bei einer sehr dezentralisierten Struktur der Träger innerhalb der Caritas sehr gut. Darauf sollten wir stolz sein, und es ist mein wesentliches Ziel als Vorsitzender der Arbeitsrechtlichen Kommission, dass das so bleibt. Wir wissen, dass die anderen Verbände der Freien Wohlfahrtspflege diesen Grad der Tarifbindung nicht erreichen.
Caritas in NRW: Wie sieht es dort aus?
Heinz-Josef Kessmann: Da weichen Träger mittels Einzelverhandlungen oder durch Nutzung anderer Tarifwerke von denen ab, die der Spitzenverband ausgehandelt hat, um besser am Markt bestehen zu können. Ich unterstelle keinem Böswilligkeit, sondern in Regel geht es darum, den Marktbedingungen entgegenzukommen. In der Caritas halten wir es nach wie vor so, dass die Lohnhöhe erst einmal demjenigen, der bei uns arbeitet, einen vernünftigen Gegenwert für seine Leistung bieten muss, erst danach müssen wir schauen, dass unter den gegebenen Marktbedingungen ein Dienst weiterbestehen kann. Als Spitzenverband setzen wir uns dafür ein, dass von den Kostenträgern entsprechende Entgelte refinanziert werden, die eine Tarifbindung ermöglichen.
Caritas in NRW: Gewerkschaften beklagen einen Trend zum Lohndumping durch Leiharbeit. Gibt es diesen Trend zu Ausgliederungen in der Caritas?
Heinz-Josef Kessmann: Wir beobachten in der gesamten Sozialbranche immer wieder Versuche, niedrige Abschlüsse zu verhandeln, daran sind die Gewerkschaften mit Haustarifverträgen durchaus selbst beteiligt. Ein nach wie vor flächendeckender Tarif mit Bandbreiten, wie ihn die Caritas hat, sichert daher vor einer Vielzahl von Einzellösungen. Wir haben über die sogenannten Elfer-Anträge (= Öffnungsklauseln nach §11 der Ordnung der Arbeitsrechtlichen Kommission der Caritas, die Red.) für wirtschaftlich extrem schwierige Situationen von Trägern eine Lösung, die aber etwas anderes darstellt als einen Haustarif. Die Frage der Ausgründung muss uns als Caritas beschäftigen, weil natürlich viele Träger immer wieder versuchen, der Tarifbindung zu entkommen, indem sie Teile ihrer Einrichtungen in andere Träger ausgliedern, für die dann nicht die Tarifbindung gelten soll. Dem wird durch die Überprüfung nach § 2 der Grundordnung ein Riegel vorgeschoben. Jetzt wird genau geklärt, welcher Betrieb teil am kirchlichen Arbeitsrecht hat und welcher Betrieb nicht.
Im Bistum Münster, wo ich einen Überblick habe, konnten wir im Kernbereich caritativer Tätigkeiten Ausgründungen verhindern. Zwar gibt es in bestimmten Bereichen, so in katholischen Krankenhäusern, Ausgründungen für ausgelagerte Tätigkeiten. Doch ist im Einzelfall immer wieder im Vorfeld diskutiert und bewertet worden, ob eine Ausgründung zur Umgehung der Tarifbindung geschieht. Das kann natürlich nicht in unserem Sinne sein. Leiharbeit sehe ich in Einzelfällen, aber das sind wirklich sehr wenige Einzelfälle. Es gibt Leiharbeit, um Belastungsspitzen oder Krankheitsprobleme auszugleichen. Systematische Leiharbeit, also Anstellung aller Mitarbeiter bei einer anderen Firma unter anderen tariflichen Bedingungen und Rückleihen in die Firma hinein, sehe ich nicht.
Caritas in NRW: Was tut der Spitzenverband, damit diese Einzelfälle nicht anwachsen?
Heinz-Josef Kessmann: Ganz einfach: Jede Ausgründung, die im Satzungszweck oder im Gesellschaftsvertrag als Zweck der Gesellschaft Leiharbeit beinhaltet, wird vom Diözesan-Caritasverband dem Bistum nicht zur Genehmigung vorgeschlagen. Man kann ja am Gesellschaftsvertrag sehen, ob ein Unternehmen Leiharbeit betreiben will. Bei den Ausgliederungen muss man in jedem Einzelfall genau die Rahmenbedingungen prüfen.
Caritas in NRW: Vielen Dank für das Gespräch.
"Die Caritas zahlt vergleichsweise gut", heißt ein Artikel in der Zeitschrift neue Caritas (2/2013, S. 14). Darin wird ein Tarifvergleich erläutert, der in einer Anhörung des Deutschen Bundestages vorgetragen wurde. Veröffentlicht als Ausschussdrucksache 17(11)826 des Deutschen Bundestages - und in Gänze lesenswert!