Nicht akzeptabel
1. These: Die Vergütungen in der häuslichen Krankenpflege sind nicht mehr akzeptabel. Die angemessene Honorierung der Pflegekräfte wird zunehmend unmöglich, weil die Refinanzierung durch die Kassen nicht reicht. Tariflohnsteigerungen (AVR-Caritas) und höhere Betriebskosten ("teures Benzin") werden von den Kassen nicht anerkannt.
In den letzten Jahren ist die Schere zwischen der Lohnentwicklung und den Preisen, die mit den Krankenkassen verhandelt werden können, immer weiter auseinandergegangen. Während Lohn- und Sachkosten in den letzten 15 Jahren in unseren Diensten um über 27 Prozent gestiegen sind, konnten für die häusliche Krankenpflege gerade einmal knapp sieben Prozent an Preissteigerungen verhandelt werden. Die Folge ist eine immer stärkere Arbeitsverdichtung, die sich in immer engeren Pflegezeiten niederschlägt. Tarifbindungen interessieren dabei überhaupt nicht. Die Krankenkassen verweisen darauf, dass private Anbieter, die aber oftmals nicht tarifgebunden sind, zu den gleichen Preisen arbeiten.
Demnach müsse man auch der Caritas nicht mehr zahlen. Das ist kurzsichtig und umso fragwürdiger, als gerade die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Caritas mit ihren Lohnsteigerungen über Jahre hinweg zu höheren Krankenkasseneinnahmen beigetragen haben. Die Kassen profitieren von einer angemessenen Lohnentwicklung im Bereich der Pflege. Jeder Prozentpunkt Lohnerhöhung führt zu steigenden Krankenkasseneinnahmen. Wenn es aber darum geht, dass die Leistungen der Pflegekräfte angemessen bezahlt werden, interessiert dieser Zusammenhang nicht mehr. Man kann nicht einerseits für eine angemessene Entlohnung von Pflegekräften eintreten, die eine anspruchsvolle und wichtige Arbeit leisten, und andererseits ihre Leistungen nicht honorieren.
2. These: Die Pflegekräfte sind zu einer Pflege im Minutentakt gezwungen, um die Wirtschaftlichkeit des Pflegedienstes nicht zu gefährden. Die Patienten brauchen jedoch mehr menschliche Zuwendung, die Zeit kostet, aber nicht honoriert wird.
Wenn die Vergütung in der Pflege nicht mit der Lohnentwicklung Schritt hält, hat ein Pflegedienst nur eine Möglichkeit: Er muss in der gleichen Zeit mehr Leistungen erbringen. Über die letzten Jahre hinweg mussten die Caritas-Sozialstationen und andere tarifgebundene Pflegedienste so mit immer engeren Zeitvorgaben arbeiten, um die Wirtschaftlichkeit ihrer Dienste zu sichern. Das ist weder im Sinne der Caritas noch der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pflege.
Das ist vor allem nicht im Sinne der Patientinnen und Patienten. Denn es bleibt in der Tat immer seltener Zeit, sich außerhalb der Pflege auch einmal wenige Minuten dem Patienten zuzuwenden, ein paar Worte zu wechseln. Der zeitliche Rahmen, um miteinander zu reden, bleibt so in der Regel auf den reinen Pflegeeinsatz beschränkt. Viele ältere Menschen wünschen sich hier mehr Zeit für sich und beklagen die "Pflege im Minutentakt". Das sind alles Auswirkungen der Entwicklungen der letzten Jahre, die die Dienste zu immer schnellerem Arbeiten zwingen.
3. These: Die Anforderungen an eine gute Pflege werden zunehmend höher, Dokumentations- und Nachweispflichten nehmen zu. Diese Arbeit muss - wenn sie vorgeschrieben ist - auch bezahlt werden.
Durch die viele Zeit, die mittlerweile für Bürokratie aufgewendet werden muss, verknappt sich die Zeit in der Pflege zusätzlich. Das reicht von der Dokumentation der Pflegeleistungen vor Ort, Telefonaten mit Ärzten bis zu immer häufiger auftretenden Anforderungen von Unterlagen durch die Krankenkassen. Viele Pflegedienste beklagen, dass Krankenkassen beispielsweise bei bestimmten Verordnungen von Krankenpflege fast regelmäßig Unterlagen aus der Pflegedokumentation anfordern. Die Krankenkassen machen die Genehmigung der Verordnung von der Übersendung dieser Unterlagen abhängig. Erfolgt sie nicht, wird die ärztliche Verordnung nicht genehmigt, und der Dienst kann die Leistungen nicht abrechnen.
Für die Übersendung dieser Unterlagen zahlt die Krankenkasse aber keinen Cent. Seit Jahren fordern die Pflegedienste, dass diese zusätzlichen Leistungen bezahlt werden. Wahrscheinlich würden auch weniger Unterlagen eingefordert werden, wenn diese Arbeit nicht einseitig unentgeltlich vom Pflegedienst zu leisten wäre. Aber von Seiten der Krankenkassen besteht hierzu keinerlei Bereitschaft. Das Problem ohnehin schon knapper Zeitreserven wird durch überbordende bürokratische Anforderungen noch weiter verschärft.
4. These: Eine Grundversorgung mit ambulanten Pflegedienstleistungen muss auch für Menschen mit hohem Pflegeaufwand oder Pflegebedürftige in entlegenen ländlichen Gebieten gewährleistet sein. Die derzeitige Vergütungsstruktur lässt das nicht mehr zu.
Der Preis für eine Leistung in der häuslichen Krankenpflege ist unabhängig davon, ob ein Patient mit hohem oder geringem Zeitaufwand gepflegt werden muss. Auch der Wohnort des Patienten und damit die Entfernung zum Pflegedienst spielen keine Rolle. Grundsätzlich wäre dagegen nichts einzuwenden, wenn die Vergütungen für die Pflegedienste insgesamt auskömmlich wären. Wenn aber knapp kalkuliert werden muss, kann das zum Problem werden. Caritasdienste berichten, dass gerade Patienten mit hohem Zeitaufwand bei der Pflege oder einer weiten Anfahrtsstrecke zunehmend keine Pflegedienste mehr finden. Oft heißt es dann, dass der entsprechende Pflegedienst keine Kapazitäten mehr freihabe.
Auch wenn man privaten Pflegediensten keineswegs pauschal unterstellen kann, dass sie diese Patienten grundsätzlich ablehnen, fällt doch auf, dass die Versorgung in entlegenen Gemeinden und Bauernschaften häufig ausschließlich durch Dienste der Caritas oder anderer Wohlfahrtsverbände erfolgt. Hier wächst auf Dauer die Gefahr, dass ganze Räume von einer funktionierenden pflegerischen Versorgung abgeschnitten werden, schlicht, weil sich ihre Versorgung nicht rechnet. Das darf nicht passieren. In Einzelfällen reagieren Kassen bereits mit Einzelabsprachen, um eine Versorgung sicherzustellen. In einem funktionierenden System, das die Arbeit der Pflegenden und die Nöte der Patienten wertschätzt, dürften solche Fälle jedoch gar nicht erst aufkommen.
5. These: Wirtschaftlicher Druck ist kurzsichtig, wenn schon mittelfristig Fachkräftemangel droht.
In der Tat wird hier kurzsichtig agiert. Der Pflegeberuf ist ein wertvoller Beruf. Menschen ergreifen ihn, weil sie einen Sinn in ihrer Tätigkeit finden und weil sie in ihrer Arbeit erfahren, dass sie anderen Menschen helfen können. Diese qualifizierte Arbeit muss auch angemessen entlohnt werden. Schlimm wäre es, wenn Pflegekräfte ihrem Beruf den Rücken kehrten, weil sie sich nicht mehr mit ihrer Tätigkeit identifizieren können, weil zunehmende Arbeitsverdichtung und mangelnde Anerkennung den Beruf unattraktiv machen. Wir werden in den nächsten Jahren einen deutlichen Zuwachs an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Pflege benötigen, um dem steigenden Pflegebedarf einer alternden Gesellschaft zu begegnen. Diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen sicher sein, dass die Gesellschaft ihre Leistungen wertschätzt und anerkennt.
Alles, was den Pflegeberuf attraktiv macht, nutzt der Gesellschaft, alles, was ihn unattraktiv macht, schadet ihr. Eine alternde Gesellschaft erfordert mehr Pflege, und mehr Pflege erfordert auch mehr Geld. Hierüber muss sich die Gesellschaft klar werden, und hierzu muss sie "Ja" sagen. Das sind wir sowohl den zu pflegenden Menschen als auch den Pflegekräften schuldig. Wenn die Krankenkassen kurzfristig Geld sparen, indem sie den wirtschaftlichen Druck auf die Pflegedienste immer weiter erhöhen, müssen sie sich klar darüber sein, dass sie damit bereits mittelfristig ihren eigenen Versicherten schaden. Denn diese sind darauf angewiesen, dass auch in fünf oder zehn Jahren Menschen mit Überzeugung und Freude den Pflegeberuf ergreifen.
Hinweis: Gern hätten wir die Sichtweise der Krankenkassen zur Situation in der ambulanten Pflege in diesen Beitrag aufgenommen. Schließlich sitzen die Kassen als Kostenträger bei den sogenannten Pflegesatzverhandlungen den Wohlfahrtsverbänden als Leistungserbringern gegenüber. Wir hatten daher den Verhandlungsführer der AOK Nordwest eingeladen, Stellung zu nehmen zu diesen Thesen, auf die von Caritas-Seite Eric Lanzrath antwortet. Doch leider haben wir eine Absage erhalten. Begründung: Während laufender Verhandlungen äußere man sich nicht öffentlich.