"Billig will ich"
Und wie wird der Bedarf der zu Pflegenden in Zukunft gedeckt werden? Ohne gute ambulante Pflege geht es nicht - nicht heute und nicht in der Zukunft. Pflegebedürftige Menschen möchten in der eigenen Häuslichkeit bleiben. In den überwiegenden Fällen ist das eigene Zuhause auch die beste Umgebung - wenn die Versorgung und Pflege gesichert sind. Diese leisten bis heute immer noch überwiegend die Angehörigen. Aber das wird nicht so bleiben: Während die Zahl der Pflegebedürftigen insgesamt in den vergangenen zehn Jahren (2001 bis 2011) um 23 Prozent stieg, wuchs die Gruppe der ausschließlich durch Angehörige gepflegten Frauen und Männer nur um 18 Prozent. Entsprechend erhöhte sich die Zahl derer, die ambulante Pflege in Anspruch nahmen, im gleichen Zeitraum um ein Drittel.
Die enorme Zunahme der Ein- und Zweipersonenhaushalte legt nahe, dass Angehörige, wenn es sie überhaupt noch gibt, künftig viel weniger pflegen werden, weil sie nicht in der Nähe leben und aufgrund ihrer Berufstätigkeit keine Freiräume mehr haben. Die Zahl der Pflegebedürftigen aber wird deutlich zunehmen (bis 2020 voraussichtlich erneut um 20 Prozent auf dann ca. 3 Mio.) und damit der Bedarf an professioneller häuslicher Pflege. Folglich wird auch der Anteil der Pflegekosten am Sozialprodukt massiv zunehmen - es sei denn, man versucht, Pflege zu industrialisieren.
Pflege lässt sich aber nicht rationalisieren, denn es geht um mehr als die Verrichtung von Handgriffen zur Sicherung von Körperhygiene, medizinische Verrichtungen und Ernährung. Zumindest wenn das Leben unseren Vorstellungen von Humanität und Würde entsprechen soll. Pflege ist Begegnung und Kommunikation. Pflegebedürftige Menschen im hohen Alter sind darauf angewiesen, dass die Pflegenden sich in ihr Erleben einfühlen und darauf angemessen antworten können. Dass sie ihnen mit der täglichen selbstverständlichen Unterstützung Wertschätzung vermitteln. Wer alte Menschen angemessen pflegen will, muss in seinem Tun vermitteln können, dass er diese nicht als ständige Belastung, als Last betrachtet. Vielmehr bringt der Pflegende die Kompetenz und die Möglichkeit mit, sich dem Bedürftigen als Nächstem zuzuwenden, seine Nöte zu erkennen und ihm zu geben, was er braucht - nicht mehr, aber auch nicht weniger. In der Begegnung mit hochaltrigen, besonders mit dementen Menschen sind Eile und Hektik Gift. Pflege braucht einen langen Atem, keine Kurzatmigkeit.
Die (ambulante) Pflege benötigt also Menschen, die etwas wollen und etwas können - und etwas kosten. Pflege vor Ort braucht Mitarbeiter(innen), die Respekt vor den pflegebedürftigen alten Menschen, ihrer Lage und ihrer Lebensleistung aufbringen können. Daneben müssen sie Angehörige, soweit noch vorhanden, entlasten und anleiten. Nicht ohne Grund stimmen die Fachleute angesichts dieser Ansprüche weitgehend darin überein, dass ein erheblicher Anteil der Pflege künftig von Menschen mit Hochschulabschluss zu leisten ist. Pflege-Anbieter konkurrieren also um junge Frauen und Männer mit Allgemein- und Herzensbildung, mit Beobachtungsgabe und feinmotorischem Geschick, mit Organisations- und Kommunikationstalent, mit Belastbarkeit und der Fähigkeit, ihre Belastungen nicht an den Pflegebedürftigen auszulassen. Um solche Fachkräfte zu gewinnen und zu binden, bedarf es eines angemessenen Gehaltes und guter Arbeitsbedingungen. Dazu gehören ausreichend Zeit, sich um den Leib und die Seele der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen zu kümmern, und Unterstützung für die Pflegenden mit Fortbildung und Supervision. Gesellschaftliche Anerkennung gehört ebenfalls dazu, öffentliche Aufmerksamkeit nicht nur dann, wenn etwas schiefgeht. Pflege ist eine qualifizierte Dienstleistung, die ihren Preis hat.
Wer in diesen Tagen für die Freie Wohlfahrtspflege mit den Kranken- und Pflegekassen verhandelt, gewinnt den Eindruck, er bewege sich in einer anderen Realität als die Kostenträger. Die zuletzt angebotenen Stundenvergütungen für die neuen zeitbezogenen Pflegeleistungen reichen kaum aus, den Mitarbeiter(inne)n ein Taschengeld zu zahlen. Weisen die Träger der Pflegedienste auf die tariflich vereinbarten Vergütungen hin, erhalten sie den Hinweis, sie sollten ihre Erlössituation durch weitere Rationalisierungen, d.h. durch quantitative Erhöhung der Pflegeleistungen pro Zeiteinheit, optimieren. Wer erwartet, dass sich Kostenträger als Sachwalter der Interessen der Versicherten und Steuerzahler gemeinsam mit den Anbietern um faire Bedingungen zur guten Realisierung der gesetzlich zugesicherten Pflegeleistungen bemühen, wird enttäuscht. Der Preis - bzw. seine Deckelung oder gar Reduzierung- scheint das einzig gültige Kriterium.
Es ist kaum vorstellbar, dass die Kostenträger böswillig eine derart preisfixierte Verhandlungsstrategie verfolgen. Sie handeln im Einklang mit einer gesellschaftlichen Grundstimmung, die den Niedrigpreis zum obersten Gebot erklärt. Zugleich geben sich die Versicherten - und das sind wir alle - ebenso wie die politisch Verantwortlichen überrascht, wenn die Qualität nicht mehr stimmen kann und die Pflegenden mit ihrer Kraft am Ende sind. Der Bedarf an guter Pflege wird unabdingbar steigen. Gute Pflege bedarf guter Qualifikation, ausreichend Zeit und Pflege der Pflegenden. Das wird den gesamtgesellschaftlichen Aufwand deutlich erhöhen. Jeder Bürger wird seinen Beitrag dazu leisten müssen, unabhängig von der Art des Finanzierungssystems. Es ist Zeit, dies den Menschen deutlich zu sagen und politisch für die entsprechenden Einnahmen zu sorgen. Es ist notwendig, dass die Versicherten ihren Versicherungen klarmachen, dass sie Qualität der Pflege wünschen und dafür zu zahlen bereit sind. Jetzt ist gerade noch Zeit, in der ambulanten Pflege umzusteuern - hin zu mehr Zeit für eine Pflege von Mensch zu Mensch.