Streng getaktet
Caritas in NRW - Mai 2013
Das Einsatzgebiet der 44-jährigen Mitarbeiterin des Pflegedienstes der Caritas ist der Stadtteil Heven. Ein durchmischter Stadtteil mit schönen, kleinen Einfamilienhäusern, Genossenschafts-häusern, Hochhäusern.
"Natürlich gibt es immer ein nettes Wort für meine Patienten", erzählt sie auf dem Weg zum ersten Einsatz. Es schneit. Nur wenige Autos sind auf den Hevener Straßen unterwegs. "Für manche Patienten bin ich der einzige Besuch am Tag. Aber der Medizinische Dienst gibt die Zeit vor, die ich für meine Tätigkeit aufbringen darf. Jede Minute mehr wird beanstandet. Und Zeit für nette Worte ist nicht vorgesehen." Ebenso wenig andere Freundlichkeiten. "Ich hatte eine bettlägerige Patientin", erinnert sie sich, "die bekam eine neue Matratze und kam mit der nicht zurecht. Ich habe ihr dann von daheim eine Decke als Unterlage mitgebracht. Danach ging es ihr besser. Bis der Medizinische Dienst kam, die Decke beanstandete und mir einen Riesenärger machte." Warum, das kann die Altenpflegerin nicht erklären: "In den Vorgaben stand eben, die Patientin müsse auf einer Matratze liegen." Weiter kommentiert Katrin Piorunek den Vorfall nicht.
Der erste Weg führt die Altenpflegerin in die Wohnung einer in die Jahre gekommenen Lebensgemeinschaft. Die Frau ist 77. "Warum ich hier liege? Och, mir war heute einfach danach." Ihren Humor hat sie nicht verloren, dann aber erzählt sie von ihrem Schlaganfall vor sieben Jahren. Katrin kennt sie länger. Sie hat bereits ihre Mutter über Jahre hinweg gepflegt. Kaum war diese verstorben, wurde die Tochter zum Pflegefall. Ihr Lebensgefährte kann ihr nicht helfen. Katrin Piorunek wäscht das Gesicht, wechselt die Windel, lässt Urin ablaufen, wechselt ihr das Nachthemd. Und dokumentiert ihre Arbeit. Ordnung muss sein. Sie wird im Laufe des Tages noch 13 weitere Mal ihre Arbeit dokumentieren. Es geht wieder raus in den Schnee, ins Auto. Wenige Minuten später das nächste Haus. Der Mann, ein Pensionär im fortgeschrittenen Alter, braucht Hilfe bei der Dosierung seiner Tabletten. Drei Minuten dauert es, seine Medikation zusammenzustellen. "Bis morgen", sagt Katrin, und schon geht es weiter. In den Schnee, ins Auto, raus aus dem Auto, ins nächste Haus.
Die alte Dame hat sich die Schulter gebrochen, leidet an Diabetes, braucht eine Spritze. "Gebrochen habe ich mir den Knochen auf dem Weg zum Arzt", klagt sie. Sie ist schwer auf den Beinen. Aber eine Pflegestufe hat sie nicht. Manchmal bräuchte sie schon mehr Hilfe, jede Stufe stellt für sie inzwischen ein Hindernis dar. Doch sie ist noch mobil. Sie mag Katrin, sie ist ihr einziger Besuch heute. Aber schon ist Katrin Piorunek auf dem Weg zur nächsten Patientin. Um 6.46 Uhr betritt sie die Wohnung einer 79-jährigen Witwe. "Ich bin froh, dass ich Katrin habe, ohne sie wäre ich arm dran", erzählt sie, und dann sprudelt es aus ihr raus: Der Sohn starb vor vier Jahren plötzlich und unerwartet, ihr Mann vor drei, die Enkeltochter zieht nun zum Studium nach Münster. Sie selbst hatte einen Hinterwandinfarkt. Es tut gut, einfach reden zu können. Katrin zieht ihr Stützstrümpfe über, nach sechs Minuten ist sie schon wieder unterwegs.
Wilhelm Kogelheide, ihr nächster Patient, war Stahlformer, Obermeister. "Die Arbeit hat meine Knochen kaputt gemacht", erzählt er. Und nun, mit fast 83, hat er Probleme. Eine Lungenembolie hätte ihn fast umgebracht, "die Pumpe schlägt nicht richtig", sagt er, eine Prostata-OP hat er hinter sich, und er ist Diabetiker. Auf die Frage nach seiner Pflegestufe lacht er. "Pflegestufe? So etwas habe ich nicht."
Zeitüberschreitung penibel dokumentieren
Wanda Ziehlke hat Pflegestufe 1. 95 ist sie, leidet an Parkinson, ist geistig aber topfit. Katrin hilft ihr auf die Toilette. "Es ist die Zeit, die fehlt", erzählt sie. Manchmal braucht sie für die Morgentoilette mehr Zeit, als der Medizinische Dienst festschreibt: "Aber was soll ich denn machen?", fragt die charmante Dame, die viele Jahre in England gearbeitet hat, nachdenklich.
7.39 Uhr. Nur ein paar Häuser weiter lebt ein Ehepaar in den Achtzigern. Ein unvorhergesehener Fall: Eigentlich steht Stomaversorgung auf dem Plan. Die Frau aber hat Probleme mit ihrem künstlichen Darmausgang. Doch will nicht darüber sprechen, um niemandem zur Last zu fallen. Ihr Mann ist blind. Katrin versorgt ihn mit Augentropfen, dann greift sie zum Telefon, klärt die Angelegenheit mit dem Arzt, leitet weitere Schritte ein - und muss auf den Punkt dokumentieren, warum sie das vorgegebene Zeitpensum um fast eine Viertelstunde überschritten hat.
Und auch bei Kazim Deniz kommt es zu einem Problem. Der 59-jährige Hevener hatte einen Schlaganfall. "Eigentlich geht es mir gut", sagt er bescheiden. Nur er ist Diabetiker und kann sich seine Insulinspritze nicht selbst verabreichen. Die rechte Hand ist taub. Doch beim Test stellt sich heraus - er ist vollkommen unterzuckert. "Würde ich ihm jetzt eine Spritze geben, würde sein Kreislauf versagen", erläutert Katrin Piorunek.
8.22 Uhr: Ihre nächste Patientin ist vergleichsweise jung, 47. Asthma, Sarkoidose, eine Lungenembolie, Rheuma sind nur einige ihrer Leiden. Sie verbringt viel Zeit im Bett. Katrin hilft ihr, Stützstrümpfe anzuziehen. "Die Anstrengung würde mich auf Stunden aus dem Verkehr ziehen", erklärt sie. An der Tür steht ein koffergroßes Sauerstoffgerät. "Ich hatte ein kleines, tolles Gerät, mit dem ich nach langer Zeit wieder Spaziergänge machen konnte", berichtet die Patientin. "Aber das wurde mir nicht weiter bewilligt, weil es zu teuer war." Spaziergänge seien ihr Freizeitvergnügen, hieß es weiter - und somit nicht von der Solidargemeinschft zu finanzieren. So spielt sich ihr Leben vorwiegend in ihrem Schlafzimmer ab.
Und weiter geht es: Zwei Patienten in einem Haus. Einmal muss Katrin einem Mann Medikamente verabreichen und Blutdruck messen (drei Minuten), dann muss sie eine Witwe duschen, ihre Medikamente einstellen. Sie kann schlecht laufen, leidet an Epilepsie sowie diversen "Kleinigkeiten" und ist 100 Prozent schwerbeschädigt. "Aber ich habe nur Pflegestufe 1", sagt die 70-Jährige, die nach einem Treppensturz und einem Krankenhausaufenthalt zeitweise in einer betreuten WG lebte. Die aber musste sie wieder verlassen, doch ohne Katrin Piorunek kann sie sich nicht einmal allein waschen.
Es geht zur ersten Patientin zurück, die noch einmal gewendet werden muss (drei Minuten), bevor die letzte Etappe auf dem Plan steht: Klara Lübben ist 62 und lebt mit ihrer schwerstbehinderten 29-jährigen Tochter in einem Genossenschaftshaus. "Einmal die Woche schaut Katrin mit ihrem professionellen Blick nach dem Rechten", erzählt sie. Ihre Tochter muss künstlich ernährt werden. Stündlich. Windeln müssen gewechselt werden, Medikamente verabreicht werden. Klara Lübben macht all dies allein. "Ich bin gesund, und ich trage die Verantwortung für meine Tochter", sagt die Witwe und fügt bescheiden hinzu: "Es gibt Menschen, die dringender eine helfende Hand brauchen als ich."
An sich ist Katrin Piorunek nun fertig mit ihrer Morgenschicht. Doch auf dem Weg in die Stadt macht sie noch einmal bei Kazim Deniz halt, prüft noch einmal seinen Zuckerspiegel und lächelt. "Alles wieder in Ordnung", sagt sie und trägt dies auch in die Dokumentation ein. Bezahlt wird diese Kontrolle dem Pflegedienst nicht. Vorgesehen ist ein Besuch bei dem Patienten, das Prüfresultat spielt dabei keine Rolle.
Christian Lukas
Freier Journalist in Witten (Ruhr)