Schöne Worte sind zu wenig
Mai 2013
Vor Jahren, als die Krankenkassen sich dem freien Markt öffneten, hatte ich "schlechte Risiken" als Unwort des Jahres vorgeschlagen. Damals gierten die Kassen nach jungen, gesunden und damit kostengünstigen Mitgliedern. Alte Menschen waren da weniger gefragt. Heute erlebe ich, dass aufgrund des Kostendrucks auch in der ambulanten Krankenpflege eine Selektion vorgenommen wird.
Multimorbide, alleinstehende oder demente Patienten laufen Gefahr, auf der Strecke zu bleiben. Bei einer 160 kg schweren Patientin ist das Anziehen von Stützstrümpfen nicht nur zeitintensiv, sondern körperlich anstrengend. Hinzu kommt, dass trotz zusätzlich erbrachter Leistungen wie Wundversorgung oder Medikamentengabe nur eine Behandlungspflege abgerechnet werden darf.
So mancher Geschäftsführer wird sich fragen, ob er für 9,20 Euro bei einem 40-minütigen Einsatz die Bandscheiben seiner Krankenschwestern ruiniert. Ein anderer Patient ist bettlägerig und einsam. Im Winter bekam er Besuch von Trunkenbolden, die seine Wohnung als Wärmestube für Trinkgelage missbrauchten. Mehrfach wurden unsere Schwestern angepöbelt und angefasst. Wer will es verantworten, in solch einem Haushalt das wertvolle Personal für 9,20 Euro zu verheizen?
Eine Patientin im Krankenhaus wünschte sich, zum Sterben nach Hause entlassen zu werden. Der Tod war nur noch eine Frage von Tagen oder gar Stunden. Für das Anlegen einer neuen Patientenakte werden bis zu 40 Formulare ausgefüllt. Die Patientin starb gleich beim allerersten Einsatz in den Armen unserer Palliativschwester. Egal, ob ein einziger oder eintausend Einsätze, die 40 Formulare müssen dennoch ausgefüllt werden. Rein wirtschaftlich denkende Geschäftsführer werden bei einer so prognostizierten Lebenserwartung die Versorgung ablehnen.
Politiker ducken sich gerne weg, weil Vergütungsverhandlungen die Sache der beiden Partner Krankenkasse und Pflegedienst sind. Partnerschaftliches Verhalten erleben wir schon lange nicht mehr. Die Kassen diktieren, die Pflegedienste schlucken. Wenn die Politik möchte, dass die drei oben genannten Patienten auch weiterhin versorgt werden, reichen ständige Lippenbekenntnisse "ambulant vor stationär" nicht aus. Dann gilt das alte Caritas-Motto: "Schöne Worte sind zu wenig." Wir brauchen tatkräftige Politiker, die sich zeigen und nicht verstecken.
Hartmut Claes
Caritas-Geschäftsführer in Witten (Ruhr). 60 Mitarbeiter mit 22 Dienstfahrzeugen versorgen dort in der ambulanten Pflege rund 250 Patienten.