Gehen der Caritas die Mitarbeitenden aus?
Also betreffen vier der fünf größten Mangelberufe Kernarbeitsfelder der Caritas. Der demografische Wandel schlägt hier gleich doppelt zu. Während die zunehmend stärkeren Jahrgänge der Babyboomer (1955 bis 1965 geboren) aus dem Berufsleben ausscheiden, wachsen wesentlich weniger Berufsanfänger nach: Grob gesprochen wird aktuell jeder ausscheidende Jahrgang nur zu ca. 70 Prozent durch junge Menschen, die in den Arbeitsmarkt eintreten, ersetzt. Und gleichzeitig steigt der Bedarf insbesondere in der Frühpädagogik und in der Altenhilfe massiv an (der Höhepunkt dort wird übrigens erst 2040 bis 2050 erreicht!). Und auch in der Kinder- und Jugendhilfe wächst der Personalbedarf quantitativ und qualitativ. Die Quote der außerfamiliär betreuten Kinder ab einem Jahr wächst politisch gewollt ständig, und die Aufgaben in der Jugendhilfe nehmen kontinuierlich zu, weil das Leben für Kinder und Jugendliche immer komplizierter wird.
Betrachtet man diese Ausgangslage, wird deutlich, dass groß angelegte Werbe- und Imagekampagnen für die Berufe oder die Arbeitgeber der Caritas das Problem nicht lösen können. Der "Teich" der Arbeitskräfte in unserem Land ist leer gefischt, und da hilft es auch nicht, die Netze immer weiter zu verfeinern. Solche Kampagnen führen lediglich dazu, dass den Mitbewerbern im Feld die Fachkräfte ausgespannt werden, was aber nur ungesunde bis absurde Konkurrenzkämpfen zwischen Trägern oder sogar Arbeitsfeldern nach sich zieht - etwa zwischen Tageseinrichtungen und Jugendhilfe-Einrichtungen oder zwischen Diensten der Altenhilfe und Krankenhäusern. Denn gegen das Märchen vom schlechten Image (und der schlechten Bezahlung) der pädagogischen und sozialen Berufe spricht, dass es in allen relevanten Berufsfeldern der Caritas in den vergangenen Jahren sogar zur teils deutlichen Steigerung der Berufsanfangenden gekommen ist.
Was ist dann zu tun? Die eine oder zwei Top-Lösungen (etwa die Anwerbung von Fachkräften aus Drittländern im großen Stil) gibt es nicht. Zwei große Bündel von vielfältigen Maßnahmen sind näher anzuschauen: ein deutlich breiterer Ansatz zur Personalgewinnung und eine lebensphasenorientierte Gestaltung der Arbeitsverhältnisse mit besonderem Blick auf die älteren Mitarbeitenden.
Etwa sechs bis sieben Prozent der jungen Menschen eines Geburtsjahrgangs verlassen aktuell die Schule ohne Abschluss bzw. finden keinen Einstieg in ein (qualifiziertes) Berufsleben. Es wird in den nächsten Jahren massiver Anstrengungen bedürfen, diese jungen Leute mit Konzepten für eine zweite oder dritte Chance mit schulischen und sozialen Coachings auch für die sozialen und pflegerischen Berufe zu gewinnen. Dazu bedarf es neben dem Aufbau entsprechender Unterstützungsstrukturen auch des weiteren Ausbaus gestufter Zugänge in die Berufe, die bei einfachen Begleit- und Assistenztätigkeiten beginnen und Schritt für Schritt mit praxisintegrierten Curricula auch an qualifizierte Abschlüsse heranführen. Umgekehrt schließt knapp ein Drittel der großen Zahl an Bachelor-Studierenden in unserem Land das Studium nicht ab - auch in der gezielten Ansprache dieser jungen Menschen liegt ein Potenzial für die Caritas-Berufe. Und dann gibt es noch Berufe, in denen in den kommenden Jahren massiv Arbeitsplätze verloren gehen: Etwa Bank- und Versicherungskaufleute werden zunehmend durch digitale und automatisierte Prozesse verdrängt. Passende Angebote zum Umstieg in einen Sozialberuf werden manche unter ihnen zu einer beruflichen Neuorientierung gewinnen.
Die größte Herausforderung in den nächsten Jahren liegt aber darin, die Beschäftigten in der Einrichtung oder beim Träger zu halten. Auch wenn sich oft kolportierte Horror-Zahlen über das massenhafte frühe Ausscheiden von Pflegekräften oder Erzieherinnen und Erziehern schon bald nach der Ausbildung beim genauen Hinsehen als Fake News erweisen, so entwickelt sich die Personalbindung doch zu einer großen Herausforderung. Auf den Punkt gebracht, heißt das, dass der Dienstgeber sich dauerhaft bei jeder einzelnen Mitarbeiterin und jedem einzelnen Mitarbeiter um die Passung zwischen Arbeitsplatz und Lebenssituation bemühen muss. Dabei geht es nicht nur um die mittlerweile viel kolportierte Work-Life-Balance - beim genaueren Hinsehen ist für viele Mitarbeitende vor allem die Work-Care-Balance die viel größere Herausforderung, weil sich die Kinderbetreuungslage für junge Mitarbeitende als wesentlich labiler erweist als propagiert. Ältere Mitarbeitende wiederum sehen sich, weil gleichzeitig der Anteil an hochalten Menschen wächst und die Zahl der mitverantwortlichen Geschwister abnimmt, mit einer wachsenden Sorge für die alten Eltern konfrontiert. Attraktive Angebote zur Organisation der Kinderbetreuung, Unterstützung in der Sorge für die alten Eltern: Hier liegen große Chancen, die Arbeitgeber-Attraktivität zu erhöhen, insbesondere wenn Caritas-Träger entweder die Potenziale in der Kooperation ihrer verschiedenen Dienste und Einrichtungen miteinander verknüpfen oder über Unternehmensgrenzen hinweg kooperieren.
Doch nicht nur die Sorgearbeit gilt es zu beachten - ebenso stellt sich in allen Lebensphasen die Frage, ob die aktuelle Berufsrolle noch mit den subjektiven Voraussetzungen der Mitarbeitenden (Interessen, Belastungserleben, Kompetenzen, psychophysischer Status) zusammenpasst und wie im Falle einer schlechten Bilanz Alternativen zu innerer oder äußerer Kündigung oder dauerhafter Erkrankung aussehen können. "Arbeitnehmer kommen wegen der Attraktivität des Jobs und gehen wegen der Inkompetenz der Führungskräfte" - dieser Spruch ist grob. Er macht aber deutlich, dass in Zeiten massiven Arbeitskräftemangels eine Führung, die die Verfassung der Mitarbeitenden gut im Blick hat und sich proaktiv um notwendige Veränderungen in der Aufgabe am Arbeitsplatz bis hin zur Vermittlung in andere Tätigkeiten beim gleichen Träger oder in der Caritas-Familie sorgt, einen wesentlichen Faktor in der Verhinderung des Verlustes von Arbeitskräften darstellt.
Eine weitere wichtige Stellschraube findet sich schließlich in der Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Die jüngsten Reformen im Rentenrecht lassen wesentlich vielfältigere und attraktive Möglichkeiten des Arbeitens über die Altersgrenze hinaus zu. Natürlich setzt das erstens ein gutes Betriebsklima, in dem die Mitarbeitenden weiter arbeiten möchten, und eine bleibende (oder neu justierte) Passung zwischen den Anforderungen des Arbeitsplatzes und den Ressourcen der Mitarbeitenden voraus. Aber sowohl das Verbleiben auf dem bisherigen Arbeitsplatz (vielleicht zuzüglich zur Rente mit reduziertem Beschäftigungsumfang) oder sogar der Wechsel in den "Traumberuf" Pädagogik, Alltagsbetreuung, Pflege oder Beratung nach Ausscheiden aus der bisherigen Tätigkeit eröffnet sich als neue Möglichkeit. Grundsätzlich schützt Alter vor Lust und Fähigkeit zur Beschäftigung nicht - das ist die gute Seite des demografischen Wandels.
Neben den zahlreichen Krisenfaktoren gibt es also auch Chancen, Mitarbeitende zu halten oder neu zu gewinnen. Sie erfordern Investitionen - materiell, aber vor allem hinsichtlich neuer Ideen und Einstellungen. "Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann" - dieses Joseph Beuys zugesprochene Zitat macht deutlich, worum es geht, damit wir auch morgen genügend Engagierte bei der Caritas haben.